Ein Kreiskrankenhaus, irgendwo in Deutschland, 2.34 Uhr. In einem Dienstzimmer piept
das Telefon und reißt eine junge Internistin aus dem Schlaf. Die Notaufnahme meldet
sich: „Wir haben hier einmal Ausschluss Infarkt, zwei Mal C2[*] und einmal Durchfall seit einer Woche.“ Diese kryptischen Angaben reichen: Die Ärztin
weiß, dass sie weitere Schlafversuche vergessen kann. Ihre Bilanz der letzten acht
Stunden: Sie hat insgesamt vier „Alkoholleichen“ versorgt. Einen Fall musste sie mit
akutem Abdomen in die Chirurgie überweisen. Dazu kamen viele Kleinigkeiten wie Venülen
legen, Schmerzmittel verschreiben und „mal kurz nach einem Patienten sehen“. Den Rest
hat sie verdrängt. Es ist ihre vierte Nachtschicht in Folge. Doch für Müdigkeit bleibt
ihr keine Zeit.
Arbeiten gegen die innere Uhr
Arbeiten gegen die innere Uhr
Schichtdienste sind im Krankenhaus ein notwendiges Übel. Auch in anderen Berufen,
z. B. bei der Feuerwehr, in Pflegeheimen oder bei der Polizei, gehört das „Schichten“
zum Alltag dazu. Welche gesundheitlichen Konsequenzen diese Belastung hat – bei oft
mäßiger finanzieller Honorierung –, wird vom Normalbürger kaum registriert: „Wir Menschen
sind für den Schichtdienst und die Arbeit in der Nacht einfach nicht geschaffen“,
erklärt Jürgen Zulley, Schlafforscher und außerplanmäßiger Professor für Biologische
Psychologie an der Uni Regensburg. „Wir haben uns in unserer Entwicklung an den Tages-
und Nachtrhythmus angepasst. Der Mensch ist daran gewöhnt, tagsüber aktiv zu sein
und nachts dem Körper die verdiente Ruhe zu gönnen. Bei Schichtarbeit muss der Körper
aber gegen diese innere Uhr agieren.“
Für die Taktung des Tag-Nacht-Rhythmus sind Hormone zuständig – besonders das Melatonin.
Verschwindet abends die Sonne hinterm Horizont, antwortet unser Körper, indem er Melatonin
freisetzt, was uns schläfrig macht. Wer Nachtdienst schiebt, arbeitet gegen diesen
Impuls. Austricksen könnte man den Körper, wenn man den Tag künstlich mit sehr hellem
Licht verlängern würde[**]. Dafür ist die übliche Beleuchtung in der Klinik aber einfach nicht hell genug.
Deshalb steigt der Melatoninspiegel auch bei nachtaktiven Klinikärzten. Die Folge
ist ein Chaos im chronobiologischen System, weil die stressbedingte Aktivität mit
dem Schlafimpuls konkurriert.
TIPPS FÜR DEN NACHTDIENST
→ Versuchen Sie während des Nachtdienstes nicht zu schlafen, sondern erledigen Sie
bei hellem Licht möglichst leichte Tätigkeiten!
→ Schlafen Sie zu Hause nach dem Nachtdienst in einem dunklen, kühlen und ruhigen Raum!
→ Erzwingen Sie nach einem aufreibenden Nachtdienst nicht den Schlaf. Versuchen Sie
sich zu entspannen. Der Schlaf kommt dann von ganz allein.
→ Achten Sie auf eine ausgewogene Ernährung und versuchen Sie eine Mahlzeit pro Tag
zusammen mit Ihrem Partner/Ihrer Familie einzunehmen.
→ Mitarbeiter, die keine Probleme haben, Nachtschichten zu leisten oder das sogar gerne
tun, sollten unbedingt häufiger für Dienste eingeplant werden.
Ernährungsplan für den Nachtdienst
→ Abendessen (ca. 1–2 Stunden vor Schichtbeginn): leichte Mahlzeit
→ 1. Nachtmahlzeit (ca. Mitternacht): warme Mahlzeit, leichte Kost, Kaffee ist in Ordnung
→ 2. Nachtmahlzeit (ca. 2–3 Stunden vor Schichtende): Zwischenmahlzeit, leichte Kost (Obst, Gemüse,
Müsli, Joghurt) und keine anregenden Getränke mehr
→ Frühstück (nach der Schicht): wie gewohnt, jedoch ohne Kaffee oder Schwarztee
Linktipps
→ Weitere Tipps zum Thema finden Sie in der Broschüre „Besser leben mit Schichtarbeit“
vom BKK-Bundesverband unter: www.bit.ly/QSqTOi
→ Beunruhigende Fakten zu der Frage, ob Schichtarbeit die Krebsgefahr erhöht, liefert
die Studie „Schichtarbeit und Krebs“. Download unter: www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=78410
→Die Gesetzeslage laut Arbeitszeitgesetz (ArbZG): www.gesetze-im-internet.de/arbzg/index.html
Die Folgen nächtlichen Raubbaus
Die Folgen nächtlichen Raubbaus
Dieser Mismatch bleibt nicht ohne Folgen: Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
liegt bei Schichtarbeitern mit 21% drei Mal so hoch wie bei der Normalbevölkerung.
80% der Schichtarbeiter leiden unter Verdauungsstörungen oder Magengeschwüren. Diese
sind oft die direkte Reaktion auf den Schichtdienst-Stress. Aber auch das unregelmäßige,
gehetzte Essen kann ein Grund sein. Zudem leiden neun von zehn Nachtarbeitern an Schlafstörungen.
Viele sind chronisch müde, nervös und reizbar. Auch Depressionen sind bei den „Schichtlern“
häufiger festzustellen.
Auch abseits der Gesundheitsbelastung führt Schichtarbeit zu Problemen: Nachtdienst
schränkt die Lebensqualität ein. Privatleben und Freizeitgestaltung leiden massiv.
Dienste an Wochenenden und Feiertagen stellen das soziale Umfeld zusätzlich auf die
Probe. Und nicht zuletzt ist das Ganze auch unter Sicherheitsaspekten problematisch:
„Nachts gehen wir in eine Art Standby-Modus“, erläutert Prof. Zulley. „Die Leistungsfähigkeit
geht rapide nach unten.“ Dieses Tief macht sich besonders zwischen 2.00 und 5.00 Uhr
bemerkbar. „Entsprechend treten zwischen drei und vier Uhr statistisch die meisten
Fehler auf“, so Prof. Zulley.
Nickerchen: Besser erst nach Dienstschluss!
Nickerchen: Besser erst nach Dienstschluss!
Ein Patentrezept, wie man trotzdem hundert Prozent Leistung bringen kann, gibt es
nicht. Es hilft aber auf jeden Fall, wenn die Arbeitsräume und Gänge möglichst hell
mit über 2.000 Lux beleuchtet sind. Das senkt nicht nur die Unfallgefahr, sondern
es hält – über den supprimierten Melatoninspiegel – die Mitarbeiter länger wach und
aktiv. Hinsichtlich der Pausen sollte man sich am Aktivitätszyklus des Körpers orientieren.
Dieser dauert nämlich etwa eineinhalb Stunden. Diese Zeit sollte man konzentriert
nutzen und danach zehn Minuten pausieren. Für Ärzte ist es naturgemäß schwierig, diese
Regel zu befolgen. Geplante Arbeitszyklen lassen sich in einem Bereitschaftsdienst
in einer Klinik nur schwer umsetzen. Und auch wenn es längere Zeit ruhig ist, wartet
man unterbewusst doch schon wieder auf den nächsten Patienten. Kommt dieser, müssen
Körper und Gehirn blitzschnell „von Null auf Hundert hochfahren“. Hat man sich gerade
zu einem Nickerchen im Dienstzimmer hingelegt, ist das eine kaum zu erfüllende Herausforderung.
Oft dauert es Minuten, bis der Mediziner dann am Krankenbett wieder voll da ist. Bevor
man sich dem Patienten widmet, sollte man deshalb kurz innehalten und sich erst einmal
sammeln. Dann atmet man tief durch, entspannt sich einige Sekunden und wendet sich
erst dann dem Patienten zu. Das ist effektiver, als im Halbschlaf sofort zu ihm zu
rennen und einen Fehler zu begehen.
Um solche Situationen gar nicht entstehen zu lassen, empfiehlt Prof. Zulley, während
der Nachtschicht einfach überhaupt nicht zu schlafen. „Stattdessen sollten in Entspannungsphasen
weniger anstrengende Tätigkeiten durch- geführt werden.“ Statt sich hinzulegen, können
Entlassbriefe geschrieben oder Journals gelesen werden. Dabei sollte der Raum hell
sein, damit keine Müdigkeit aufkommt.
Abb.: Wer sich trotz potenziell stressigem Nachtdienst im Dienstzimmer schlafen legt, sollte
sich vorsehen: Direkt nach dem Aufstehen ist man dann wie gerädert und besonders anfällig,
falsche Entscheidungen zu treffen. Experten empfehlen deshalb: Am besten gar nicht
erst hinlegen!
Motto: Eulen an die Front!
Motto: Eulen an die Front!
Am effektivsten ist natürlich, das Übel an der Wurzel zu packen. Sprich: Der Arbeitgeber
muss die Jobs so einrichten, dass Dienste zum einen auf ein Minimum beschränkt werden
und zum anderen so organisiert sind, dass die Gesundheit der Mitarbeiter und Patienten
nicht leidet. Diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Wer sich
vor 15 Jahren nachts ein Bein brach und in die Klinik eingeliefert wurde, musste damit
rechnen, dass er von einem Chirurgen versorgt wurde, der in seinem 30-Stunden-Dienst
schon seit 20 Stunden fast durchgehend operiert hatte. Die Vorgabe der EU-Kommission,
die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden zu begrenzen, hat solchen Auswüchsen
ein Ende bereitet. In der EU-Richtlinie wurde zudem festgelegt, dass sowohl aktive
als auch nicht aktive Bereitschaft als Arbeitszeit zu rechnen ist. Damit ist klar,
dass ein die Anwesenheit am Arbeitsort erfordernder Bereitschaftsdienst nicht zur
Ruhezeit zählt, sondern Arbeitszeit ist.
Neben dieser rechtlichen Seite sollte ein Arbeitgeber bei der Dienstplanung auch arbeitsmedizinische
Aspekte beachten. Aus Expertensicht sieht das optimale Schichtmodell so aus: Zuerst
macht man zwei, maximal drei Frühdienste, dann folgen zwei bis drei Spätdienste und
dann zwei bis drei Nachtdienste. Dann folgen drei Tage Pause und das Ganze geht wieder
von vorne los. „Diese schnell und vorwärts rotierenden Schichten entsprechen eher
dem biologischen Rhythmus, und die Zeit der Fehlanpassung wird verkürzt“, erkärt Prof.
Zulley. Deshalb wird dieses Modell vom Organismus gut akzeptiert. Ob es auch familienkompatibel
ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber auch diesbezüglich gibt es Maßnahmen, die
Belastungen reduzieren können: Wenn Frühdienste nicht vor 7 Uhr beginnen und Spätdienste
nicht nach 23 Uhr enden, kann der Schichtende eine relativ normale Tagesstruktur durchhalten.
Weitere Entlastung kann bringen, wenn die Klinik den Mitarbeitern die Dienstplangestaltung
selbst überlässt – im Rahmen klarer Absprachen, versteht sich. Denn es ist ja keineswegs
so, dass Nachtdienste allen Mitarbeitern gleich schwer fallen. „Wer sich freiwillig
zur Nachtarbeit meldet, hat weniger Probleme“, erklärt Prof. Zulley. Deshalb sollten
Ärzte, die gerne in der Nacht arbeiten, im Dienstplan auch öfter dafür eingeplant
werden. Und nicht zuletzt: Arbeitgeber sollten darauf achten, dass Mitarbeiter nicht
länger als fünf oder sechs Jahre für Nachtdienste eingespannt werden. Sonst erhöht
sich massiv das Krankheitsrisiko. Gleiches gilt für Mitarbeiter über fünfzig. Sie
sollten keine Nachtarbeit leisten.
Speisekarte der Nacht
Neben diesen grundsätzlichen Erwägungen gibt es auch einige konkrete Verhaltensregeln,
die einem das „Schichtleben“ erleichtern. Das beginnt mit der Ernährung: Viele Mitarbeiter
im Gesundheitswesen wissen zwar, wie man sich gesund und ausgewogen ernährt, und geben
Patienten gute Tipps. Sie selbst ignorieren diese Empfehlungen aber komplett. Da wird
nachts quasi nichts als Kaffee getrunken. Und zum Frühstück gibt’s die kalte Pizza,
die die letzte Rettungswagenbesatzung übrig gelassen hat. Dabei sollte die Ernährung
eher leicht und bekömmlich sein, weil der Verdauungstrakt ja eigentlich Nachtruhe
hat. „Gegen Kaffee ist prinzipiell nichts einzuwenden“, meint Jürgen Zulley. „Man
sollte sich aber davor hüten, sich damit durch die Nacht zu pushen!“ Ernährungsexperten
empfehlen für die Phase ab drei Uhr eher Mineralwasser, Fruchtsaftschorlen oder Kräutertees.
Energydrinks mit hohem Zucker- und Koffeinanteil halten zwar wach, hindern dafür aber
am Einschlafen am Morgen.
Geht man nach dem Nachtdienst nach Hause, muss man dem Körper das geben, wonach es
ihn schon seit Stunden verlangt: einen ungestörten Tagesschlaf von etwa sechs bis
höchstens acht Stunden. Schlafmittel sollten ebenso wie Alkohol zum Einschlafen gemieden
werden. Zwar lassen sie einen rasch einschlafen, die Schlafqualität ist aber reduziert.
Prof. Zulley empfiehlt dabei, den Schlaf auf zwei Etappen aufzuteilen: zuerst von
8 bis 12 Uhr und dann vor der Schicht von 16 bis 18 Uhr noch mal. Dazwischen sollte
eine aktive Freizeitgestaltung auf dem Plan stehen: Freunde treffen oder Sport treiben.
Und ganz wichtig: Nach der letzten Nacht muss man gucken, dass man wieder in den normalen
Tagesablauf reinkommt. Man lässt die zweite Schlafetappe einfach weg – und geht raus
unter Menschen.
Damit beginnt eine kritische Phase: Während des Nachtdienstes verstimmt und gereizt
zu sein, nehmen viele hin. „Oft wirkt die depressive und angespannte Stimmung aber
auch in die freien Tage“, erläutert Zulley. Das reduziert die Qualität der Erholung,
und das Privatleben leidet. Hier ist hilfreich, sich einen strukturierten Tages- und
Wochenplan zu machen, der einem die Teilhabe am normalen Leben „vorschreibt“ und vermeidet,
dass man sich hängen lässt. Und die wichtigste Voraussetzung für jede Art von Schichtarbeit:
Lebenspartner und Freunde müssen für den Wechseldienst Verständnis aufbringen. Kann
man dieses Einvernehmen nicht herstellen, muss man am Status quo etwas ändern. Wer
möchte schon auf seine Freunde verzichten? Deswegen sollte man im Zweifel einen Jobwechsel
vorziehen, bevor Beziehungen und man selbst am Schichtleben zerbrechen..
Abb.: Ein Kaffee zwischendurch ist im Nachtdienst völlig in Ordnung. Wer sich aber nur
noch mit Koffein vor dem Sekundenschlaf am Krankenbett retten kann, macht etwas grundsätzlich
falsch. Achtung: Verlorener Nachtschlaf muss am folgenden Tag immer 1:1 nachgeholt
werden.