Pro
Mosaikartig fügten sich die Erzählungen des Patienten zu einem Bild von dessen Lebenssituation
zusammen. Die frischgebackene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie wollte
gerade zu einer Verständnisfrage ansetzen, als ein energisches Klopfen die Psychotherapiesitzung
unterbrach. Ins Zimmer trat ein sympathischer junger Assistenzarzt und begrüßte den
Patienten freundlich.
Die Therapeutin schaute überrascht auf die Uhr und besann sich einen Moment. Dann
stellte sie den Kollegen als ihre Ablösung vor und erklärte, dass sie jetzt leider
ihre Kinder von der Krippe abholen müsse. Ihr Kollege sei aber sehr kompetent und
könne die Sitzung problemlos fortführen. Mit diesen Worten verabschiedete sie sich
und verließ den Raum.
Menschen wie unsere Ärztin, aktuell bis 35 Jahre alt und somit auf der Höhe ihrer
körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, werden der sog. Generation Y zugerechnet.
Dieses Schlagwort ist nicht ganz unbekannt, Google findet immerhin 3,5 Millionen Treffer
dazu. In den zahlreichen Artikeln werden dieser Altersgruppe Eigenschaften zugeschrieben
wie: gut ausgebildet, von den neuen Medien geprägt, technikaffin, hohes Selbstbewusstsein,
nicht kritikfähig, pragmatisch, kooperativ, bilden Netzwerke, „Leben beim Arbeiten“,
schätzen akademischer Titel eher gering, entdecken konservative Werte neu, priorisieren
die Familie, wollen für sich optimale Ausbildung durch gute Supervision und optimale
Führung [3].
Kritisch hinterfragen kann man durchaus, ob eine solche Beschreibung wirklich den
Geist einer ganzen Generation auf einen Punkt bringen kann. Aber das ist nicht unser
Thema. Wir wollen stattdessen darüber nachdenken, mit welchen Problemen sich psychiatrische
Kliniken auseinandersetzen müssen, wenn die jüngste Altersgruppe ihrer Mitarbeiter
wie gerade beschrieben denkt und handelt. Diese Überlegungen sollen natürlich nicht
moralisierend als Schuldzuweisung an die jüngere Generation verstanden werden. Ein
Appell sich anders zu verhalten wäre allzu naiv. Schließlich sind die Einstellungen
der Generation Y ja auch ein Produkt unserer gesellschaftlichen Strömungen.
Der Arbeitsmarkt für Ärzte in Deutschland hat sich in den letzten 20 Jahren in sein
Gegenteil verkehrt. Damals waren die Ausbildungsstellen knapp, heute fehlen die Bewerber.
Kaum eine andere Branche konkurriert derzeit so verzweifelt um kompetente Mitarbeiter
wie die Krankenhäuser [1]
[2]. In dieser Situation des drängenden Mangels müssen die Kliniken sich mit den Wünschen
der jungen Generation auseinandersetzen. Da der finanzielle Rahmen eng ist und die
Bewerber zunehmend weiblich sind, werden flexible Arbeitszeiten zur Zauberformel.
Insofern ist die Diskussion um die Generation Y dem Nachwuchsmangel nachgeordnet.
Damit soll den Kliniken nicht generell der Wille abgesprochen werden, den im Gang
befindlichen Kulturwandel mittragen zu wollen. Letztlich ist es nicht unwahrscheinlich,
dass sie aus der Krise verwandelt und gestärkt hervorgehen.
Naturgemäß werden die Vorstellungen der Generation Y früher oder später mit den eng
begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems kollidieren. Optimale Ausbildung durch
gute Supervision, kompetente Führung und kontinuierliches Feedback verbraucht Ressourcen
und ist auf längere Sicht nicht umsonst zu haben. Diese Argumente sind wichtig, gehen
aber ausgetretene Wege und sollen hier nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen wollen
wir ein Problem beleuchten, das weniger beachtet wird als das finanzielle, möglicherweise
aber viel weitreichender ist, nämlich das der inflationär zunehmenden Schnittstellen
in der klinischen Medizin. Die Generation Y mit ihrer Kernforderung nach begrenzten
und flexiblen Arbeitszeiten verschärft dieses Problem erheblich.
Drei Thesen sollen illustrieren, warum diese Zunahme der Schnittstellen besonders
für die Fächer Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (P-Fächer) und deren
Patienten zur Gefahr werden kann.
These 1: Schnittstellen bilden eine enorme, aber weithin unterschätzte Gefahr für
Patienten.
Moderne Gesundheitssysteme beinhalten eine enorme Anzahl unterschiedlichster Schnittstellen.
Durch die Spezialisierung der Tätigkeiten treten sie zunehmend an der Grenze zwischen
verschiedenen Berufsgruppen auf. Für das erfolgreiche Management dieser Art von Schnittstellen
braucht es ein wechselseitiges Verständnis über die grundsätzliche Arbeitsweise der
beteiligten Partner. Daneben gibt es Schnittstellen innerhalb der eigenen Berufsgruppe,
deren Management nicht minder schwierig ist. Sie treten heute mehr denn je zu unregelmäßigen
Zeiten, an ungewöhnlichen Orten und in immer neuem Kontext auf. Schnittstellen beinhalten
ein extremes Gefahrenpotenzial, zumal wenn sie nicht in ein ritualisiertes Ablaufschema
eingebettet sind [4]. Der Satz „Ich kann Ihnen nichts über den Patienten sagen, ich bin heute den ersten
Tag wieder da“ klingt vielen Konsiliarärzten wie ein Morgengruß im Ohr. Aus unserer
klinischen Erfahrung halten wir Schnittstellen in Krankenhäusern für mindestens so
gefährlich wie Medikamentenwechselwirkungen. Ihre Bedeutung wird unterschätzt, weil
es keine guten Werkzeuge gibt, um ihre Gefährlichkeit zu messen und weil es zu wenige
Strategien gibt, um sie zu vermeiden. An dieser Stelle könnten Forschungsanstrengungen
dazu beitragen, Charakteristika von Schnittstellen zu identifizieren und Möglichkeiten
zu entwickeln, ihr Gefahrenpotenzial zu mindern.
These 2: Schnittstellen in der Medizin sind entgegen naiven Vorstellungen nicht allein
mit technischen und finanziellen Mitteln lösbar.
Als Psychiater mutet uns die eingangs beschriebene Szene surreal an, in der Arbeitswelt
eines Anästhesisten ist sie vertraute Realität. Schnittstellen erscheinen durch menschliche
Flexibilität und intelligente Software beherrschbar. Es ist sicher nicht ganz falsch,
dass Schnittstellen durch Technik zu Nahtstellen werden können. Dazu gibt es Einsatzpläne,
gemeinsame Kalender mit automatischer E-Mail- und Erinnerungsfunktion, Vertretungsregelungen,
Dienstanweisungen für Übergaben und qualitätssichernde Maßnahmen. Aber wie viel Bit,
Zeit und Geduld braucht ein Arzt in der Praxis, um die ihm vertraut gewordene Krankheitsgeschichte
eines Menschen in eine sprachlich und logisch fassbare Form zu bringen, zu komprimieren
und einem anderen Behandler sicher zu vermitteln? Technische Hilfsmittel sind wichtig,
können die relevanten Details aber auch verdecken. Diejenigen, die regelmäßig Arztbriefe
korrigieren, wissen um die Fallstricke dieser Informationsvermittlung und haben Respekt
vor ihnen. Durch jede zusätzliche Schnittstelle nehmen die Fehler in aller Regel drastisch
zu.
Ein weiteres, deutlich schwieriger beherrschbares Problem ist in der Arzt-Patient-Beziehung
begründet. Um eine vertrauensvolle Beziehung zu einem Patienten aufzubauen, braucht
es Zeit und Zuwendung, die beide nur in Grenzen komprimierbar sind. Das Produkt dieser
Bemühungen, der Glaube an den Arzt und seine Kraft zu heilen, ist bekanntermaßen therapeutisch
wirksam. Über Schnittstellen hinweg sind solche Phänomene aber nicht oder nur sehr
begrenzt übertragbar. Spätestens an dieser Stelle muss man eingestehen, dass die Schnittstelle
als technisches Problem ein moderner Mythos ist.
These 3: Die P-Fächer werden durch Schnittstellen stärker beeinträchtigt als andere
Fächer.
Manche Fächer werden durch Schnittstellen mehr beeinträchtigt als andere. Bei allen
chronischen Erkrankungen beispielsweise hat die persönliche Beziehung zum Patienten
eine besondere Bedeutung. Bei den P-Fächern beruht aber ein Hauptmechanismus der Therapie
auf Phänomenen wie Übertragung, Gegenübertragung oder schlichtweg Sympathie, die sich
an Schnittstellen auflösen und danach wieder völlig neu bilden müssen. Auch wenn eine
gute Lösung für dieses Problem noch nicht in Sichtweite ist, bleibt Empathie unverändert
ein essenzieller Beziehungsaspekt.