Aktuelle Urol 2013; 44(03): 177-178
DOI: 10.1055/s-0033-1348109
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neurogene Detrusorhyperaktivität – Botulinumtoxin-A-Injektionen verbessern die Lebensqualität

Rezensent(en):
Frank Lichert

J Urol 2012;
187: 2131-2139
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. Mai 2013 (online)

 
 

Neurologische Erkrankungen wie Rückenmarksverletzungen und Multiple Sklerose (MS) sind häufig die Ursache für eine neurogene Detrusorhyperaktivität. Diese kann zu einem erhöhten Speicherdruck in der Blase sowie zu Harninkontinenz führen und die Lebensqualität der Patienten stark beeinträchtigen. Eine aktuelle internationale Studie hat nun belegt, dass die Behandlung mit Onabotulinumtoxin-A bei Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität wirksam und sicher ist.
J Urol 2012; 187: 2131–2139

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In der aktuellen Studie verbesserte eine Onabotulinumtoxin-Injektion in den Musculus detrusor vesicae sowohl die maximale Blasenkapazität als auch den maximalen Detrusordruck bei Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität. (Zeichnung: Voll M, aus Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. Lernatlas der Anatomie. Innere Organe. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme: 2012)

Die randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Phase-III-Studie fand zwischen September 2006 und Mai 2010 an 85 internationalen Studienzentren statt. David Ginsberg, University of Southern California / USA, und Kollegen schlossen 416 Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität und Harninkontinenz (≥ 14 Episoden pro Woche) in die Studie ein. Die Studiendauer betrug 52 Wochen. Die Patienten behandelten sie entweder mit 200 oder 300 U Onabotulinumtoxin-A oder Placebo. Der primäre Endpunkt war die Änderung der durchschnittlichen Zahl der Harninkontinenz-Episoden pro Woche zwischen Baseline und Woche 6. Als sekundäre Endpunkte definierten die Autoren die maximale Blasenkapazität sowie den maximalen Detrusordruck während der 1. unfreiwilligen Detrusorkontraktion und die Lebensqualität ("Incontinence Quality of Life Total Score"). Zudem erfassten sie auftretende unerwünschte Ereignisse.

Ursache für Detrusorüberaktivität: MS oder Rückenmarksverletzung

Bei 227 Patienten war die Ursache für die neurogene Detrusorhyperaktivität eine MS-Erkrankung, bei 189 Patienten lag eine Rückenmarksverletzung zugrunde.

Von den 416 randomisierten Patienten vollendeten 79 % (n = 329) die 52-wöchige Studie. Eine Onabotulinumtoxin-A-Dosis von 200 U bzw. 300 U führte bei jeweils 135 und 132 Patienten in Woche 6 zu einer durchschnittlichen Verringerung der Harninkontinenz um jeweils 21 und 23 Episoden pro Woche. Innerhalb der Placebo-Gruppe waren es bei 149 Patienten 9 Episoden pro Woche (p < 0,001 für jede Dosierung).


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Maximale Blasenkapazität und maximaler Detrusordruck erhöht

Im Vergleich zu Placebo verbesserte Onabotulinumtoxin-A signifikant die maximale Blasenkapazität, den maximalen Detrusordruck während der 1. unfreiwilligen Detrusorkontraktion sowie die Lebensqualität (p < 0,001 für jede Dosierung). Die mediane Zeitspanne bis zu einer erneuten Behandlung der Patienten war im Fall der 200-U- und 300-U-Onabotulinumtoxin-A-Dosierungen länger als unter Placebo (jeweils 256 und 254 Tage vs. 92 Tage).

Die Studie brachen 21 % der Patienten (n = 87) vorzeitig ab, darunter 3 % (n = 13) aufgrund von unerwünschten Ereignissen. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren Harnwegsinfektionen sowie eine Harnretention. Innerhalb der Gruppe von Patienten, bei denen zu Studienbeginn kein intermittierender Katheterismus durchgeführt wurde, erfolgte ein Katheterismus aufgrund einer Harnretention bei

  • 10 % der Placebo-Patienten,

  • 35 % der 200-U- und

  • 42 % der 300-U- Onabotulinumtoxin-A-Patienten.

Fazit

Der Einsatz von Onabotulinumtoxin-A senkte bei Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität im Vergleich zu Placebo die wöchentlichen Harninkontinenz-Episoden sowie den maximalen Detrusordruck und erhöhte die maximale Blasenkapazität. Auch die Lebensqualität der Patienten verbesserte sich. Hinsichtlich der Wirksamkeit sowie der Wirkungsdauer unterschieden sich die beiden Onabotulinumtoxin-A-Dosierungen nicht.

Kommentar

Weniger ist mehr!

Die Behandlung von neurogen bedingten Blasenentleerungsstörungen bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) und Rückenmarksverletzungen sind sehr häufig. So erkranken nach de Séze et al. z. B. fast zwei Drittel der MS-Patienten innerhalb von nur 6 Jahren und im weiteren Verlauf alle Patienten an einer Blasenentleerungsstörung – davon 80 % an einer Überaktivität mit und ohne Detrusorkontraktionen [ 1 ]. Bei einer immer besser werdenden Versorgung dieser Patientengruppen, steigt das Lebensalter und damit auch die Notwendigkeit, die Funktion des gesamten und v. a. des oberen Harntrakts zu schützen. In erster Linie werden hier antimuskarin wirkende orale Substanzen eingesetzt. Allerdings weisen diese u. a. ein nicht ganz unerhebliches Nebenwirkungsspektrum auf (trockene Schleimhäute, cerebrale Einschränkungen etc.). Insofern kommt der lokalen Therapie eine immer größere Bedeutung zu.

Stärken der Arbeit

Die Studie von Ginsberg et al. beschreibt ein sehr sauber definiertes Krankheitsbild (urodynamisch nachgewiesene Detrusorhyperreflexivität) bei klar definierten Patientengruppen. Mit einem randomisiert doppelblinden placebokontrollierten Studiendesign werden die Ansprüche an eine wissenschaftlich hochwertige Arbeit erfüllt. Weiterhin berücksichtigt das Design alle aktuell bekannten Zielparameter. Dass die Anwendung von Onabotulinumtoxin-A signifikant besser ist als Placebo erstaunt nicht. Nicht von ungefähr ist die Zulassung mit der Indikation "idiopathische überaktive Blase" auf Basis der EMBARK-Studie erfolgt [ 2 ].

Bedeutung der Studie für den praktizierenden Arzt

Wenngleich die Ergebnisse der Verumgruppen signifikant besser sind, zeigt sich auch in der vorliegenden Arbeit ein bedeutsamer Placeboeffekt. Der Head-tohead-Vergleich von unterschiedlichen Dosierungen ist hier von Bedeutung. Mehr ist eben nicht immer besser! Während die objektivierbaren Parameter bei 300 U nicht signifikant besser werden, steigt das Risiko von schwerwiegenden Nebenwirkungen an (200 U 13 % vs. 300 U 18 %). Die Ergebnisse sind konsistent mit denen anderer Autoren z. B. Cruz et al. [ 3 ], [ 4 ].

Schwächen der Arbeit

Etwas erstaunt die hohe Anzahl von Studienzentren. Bei 416 Patienten und 85 Zentren werden pro Zentrum in einem Zeitraum von 3 1/2 Jahren knapp 5 Patienten rekrutiert. Des Weiteren berichten die Autoren über die Bestimmung von Antikörpern gegen Onabotulinumtoxin-A, ohne die Ergebnisse darzustellen bzw. mit dem Ergebnis zu korrelieren. Dies wäre insofern von Bedeutung, als dass Schulte-Baukloh et al. über das Auftreten / Vorhandensein von Antikörpern und einem 100 %igen Therapieversagen berichtet hat [ 5 ].

Handlungsempfehlung

Bei der Behandlung von neurologischen Patienten mit überaktiver Blase kommt der Urodynamik eine entscheidende Bedeutung zu. Patienten mit nachgewiesener Detrusorüberaktivität sollten initial mit 200U Onabotulinumtoxin A behandelt werden.

Wo besteht Forschungsbedarf?

Letztendlich sollten noch im Wesentlichen 3 Punkte beantwortet werden. Wie lange und ggf. in welcher Dosierung kann Onabotulinumtoxin A erfolgreich verabreicht werden? In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Antikörperbildung und die damit verknüpften Auswirkungen auf die Therapie zu beobachten. Desweitern muss Onabotulinumtoxin A als Trockensubstanz und auch nach Herstellung einer Injektionslösung gekühlt gelagert werden. Dies kann im täglichen Gebrauch umständlich sein. Es wäre wünschenswert, wenn auch die anderen galenisch anderen Substanzen die Zulassung für urologische Indikationen bekämen.

Fazit

Die intramuskuläre Injektion von Onabotulinumtoxin-A stellt eine gute Behandlungsalternative der neurogen bedingten überaktiven Blase dar. Die Dosierung 200 U weist eine sehr gutes Wirkungs- / Nebenwirkungs-Verhältnis auf.

PD Dr. Moritz Braun, Köln


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PD Dr. Moritz Braun


ist Chefarzt der Klinik für Urologie, Heilig Geist-Krankenhaus, Köln

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In der aktuellen Studie verbesserte eine Onabotulinumtoxin-Injektion in den Musculus detrusor vesicae sowohl die maximale Blasenkapazität als auch den maximalen Detrusordruck bei Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität. (Zeichnung: Voll M, aus Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. Lernatlas der Anatomie. Innere Organe. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme: 2012)