Medizinische Behandlung über lange Distanzen ist seit Jahrzehnten Gegenstand faszinierender
Berichte: aus entlegenen Gebieten Australiens, aus der Raumfahrt, von Schiffen oder
Arktisstationen wurden immer wieder spektakuläre Aktionen berichtet. Es ist inzwischen
möglich, EKGs, hochauflösende radiologische oder histologische Bilder zu übermitteln
und danach Therapieentscheidungen zu treffen. Das spart Ressourcen und macht Kompetenz
weit verfügbar.
Nicht nur Kommunikationsmittel, sondern Therapieinstrument
Nicht nur Kommunikationsmittel, sondern Therapieinstrument
E-Health-Ansätze mit Telefon, SMS, Internet, Apps oder Video-Konferenzen zur Behandlung
psychischer Störungen überbrücken im Vergleich mit somatischen Störungen nicht nur
Entfernungen, sondern ermöglichen ganz neue therapeutische Strategien [1]
[2]. Elemente sind die regelmäßige Erfassung von Zustandsveränderungen, Symptomen und
Hilfebedarfen (Surveillance), angeleitete Selbsthilfe-Interventionen, therapeutische
Dialoge, Selbsthilfe-Foren, Anleitung zu Skills bzw. die Möglichkeit, Notrufe abzusetzen.
E-Health-Programme können vollautomatisch (Raucherbehandlungssystem txt2stop, [3]) oder mit Therapeutenbeteiligung (Expertensystem für Raucherentwöhnung in der Hausarztpraxis
[4]) betrieben werden. Es ist möglich, dass so tausende von Patienten zu bisher nie
gekannt niedrigen Kosten teilnehmen können (weitere Beispiele: SUMMIT-Internetstudie
bei chronischer Depression, MoodGym und Deprexis: Online-Programm gegen Depressionen,
Lebenstagebuch: Schreibtherapie für traumatisierte Kriegsüberlebende des Zweiten Weltkriegs,
ProYouth: Online-Programm bei Essstörungen).
Ein Beispiel für ein einfaches Surveillance-System mit Therapeutenbeteiligung und
unterstützendem Feedback ist CAPS: hier wird regelmäßig automatisiert der Hilfebedarf
von Patienten mit Alkoholabhängigkeit auf ihrem Handy abgefragt. Der Therapeut wird
über E-Mail benachrichtigt, wenn der Patient einen Unterstützungswunsch „simst“, dann
kann telefonisch ein Hilfsangebot durch den Therapeuten erfolgen (http://www.controlled-trials.com/isrctn/pf/78350716).
Therapeutische Beziehungen wirken auch über Entfernungen
Therapeutische Beziehungen wirken auch über Entfernungen
Psychiatrische E-Health-Angebote machen sich darüber hinaus zunutze, dass psychosoziale
Interventionen und Bindungen auch über Distanz wirken [5], und zwar sowohl mit als auch ohne Therapeut. Wie sonst wäre die Attraktivität der
riesigen sozialen Netzwerke zu erklären, allein um Informationsübertragung kann es
sich dabei nicht handeln. Es ist hochwahrscheinlich, dass neben spezifischen Interventionen
unspezifische (aber kunstvolle) Wirkfaktoren nach Wampold wie (a) die Welt verstehen, (b) Veränderung durch soziale Mittel, (c) Verbundenheit, (d) Hoffnung
und Bewältigung [6] auch bei E-Health-Interventionen wirksam sind.
Automatisierte E-Health-Systeme sind ein Motor zur Aufrechterhaltung von Kontakt.
Dabei kann E-Health natürlich kein Ersatz für eine unmittelbare Begegnung sein. Aber
die Einschränkungen der Kontaktqualität haben auch spezifische Vorteile: für Menschen
mit sozialen Ängsten und Vermeidung werden so vielleicht sogar Kontakte leichter hergestellt,
da eine gewisse soziale Distanz erhalten wird. Der niederschwellige Zugang, die zeitliche
und örtliche Flexibilität, das selbstgewählte Tempo und die reduzierte wahrgenommene
Stigmatisierung [7] sind Eigenschaften, die auch die neue S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren
psychischen Erkrankungen [8] als positive Eigenschaften von E-Health hervorhebt. Es gibt gute Gründe anzunehmen,
dass Ungleichheit Ursache von psychischer Krankheit ist [9]. Das drückt sich insbesondere im sog. inverse care law aus [10]
[11], wonach Schwerkranke in der Psychiatrie häufig von den aufwendigen (Psycho-)Therapien
ausgeschlossen sind. Hier könnte E-Health eine Hilfe sein, da auch für Patienten mit
schweren Störungen und für sozial Benachteiligte einfache help-lines über Handy nutzbar
sein könnten.
E-Health ist eine neue Chance für chronische psychische Störungen, gleichermaßen für z. B. Depression, Schizophrenie, Abhängigkeitserkrankungen. Das
in der somatischen Medizin verbreitete Konzept der kontinuierlichen Behandlung ist
auch ein gutes Modell für die Behandlung psychischer Störungen [12]. Ein Langzeitprogramm mit täglichen Kontakten zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit
zeigte sehr gute Ergebnisse [13], es hat aber vermutlich des Aufwands und der Kosten wegen nicht die ihm zukommende
Verbreitung gefunden. Regelmäßige kleine Anstöße zur Veränderung sind mitunter wirksamer
als ein großer Ansatz mit Heilungsanspruch. In der Suchtmedizin zeigt sich, dass selbst
gering anmutende Trinkmengensenkungen zu einem großen Gewinn an Gesundheit führen
[14]. Solche kontinuierlichen supportiven Monitoringkonzepte kann erst E-Health überhaupt
in großer Zahl in die Fläche bringen. Kontinuierliches Monitoring ohne Therapeut markiert
damit den diesseitigen Endpunkt des Therapiespektrums, Tilmann Moser zitiert Leon
Wurmser im Ärzteblatt, wonach bei manchen Patienten erst ab 1450 h Veränderungen sichtbar
werden [15]. E-Health wird nicht die Effekte und die Zuwendung bewirken, die Psychotherapie
bringt, aber es ist wohl ausgeschlossen, dass für alle behandlungsbedürftigen Patienten
jemals genug Therapeuten zur Verfügung stehen.
E-Health kann existierende Strukturen in Versorgung und Forschung ergänzen und bereichern
E-Health kann existierende Strukturen in Versorgung und Forschung ergänzen und bereichern
Die Kombinationsmöglichkeiten sind beliebig: E-Health ist für Suchtberatung ebenso geeignet wie als add-on bei
einer Psychotherapie; für Pharmakotherapie der Schizophrenie, zusammen mit Genotypisierung,
TDM, Frühsymptommonitoring und NW-Management. E-Health kann hier ein psychosoziales
Element individualisierter Medizin werden. E-Health-Monitoring erlaubt stepped-care als Taktgeber und einen gestuften Einsatz von Interventionen je nach Aufwand.
In ländlichen Gebieten wie z. B. Teilen Mecklenburg-Vorpommerns gibt es Regionen,
in denen es nicht möglich ist, innerhalb eines Tages einen Psychotherapeuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und wieder nach Hause zu kommen. Im Rahmen der SHIP-Studie konnte gezeigt werden, dass in diesen Regionen die Mehrheit
der Menschen mit einer schweren psychischen Störung unbehandelt sind. Die Frage nach
einer alternativen Versorgung stellt sich hier unter den gegebenen Rahmenbedingungen
gar nicht, hier könnte E-Health sogar erstrangige Behandlung werden.
Im Straßenverkehr hat v. a. die weite Verbreitung von Technik (Knautschzone, Airbag
und die Entschärfung von Unfallschwerpunkten) die Unfallzahlen drastisch reduziert,
und nicht eine eventuelle Veränderung von Einstellungen oder Verhalten. Auch Telemedizin
ist eine Technik mit dem Potenzial weiter Verbreitung. Sie kann Menschen helfen, denen
eine dauerhafte Veränderung ihres Gesundheitsverhaltens zunächst nur schwer möglich
ist, die aber von kontinuierlicher Unterstützung profitieren. Ein Beispiel wäre ein
Notruf per SMS bei Zunahme psychotischer Symptomatik. Verhaltensänderungen sind auch
hierbei natürlich sekundär möglich. Allerdings bedarf es hierzu Anbieter, die E-Health
weit verbreiten und verfügbar machen würden.
Interaktive telemedizinbasierte Ansätze eröffnen eine neue Chance für direkte und
v. a. lokale Evaluation in der Versorgungsforschung. E-Health-Applikationen produzieren nämlich immer ihren eigenen Datensatz an Real-time-Indikatoren.
Die Güte der in E-Health gewonnenen Indikatoren scheint ausreichend zu sein: so unterschieden
sich E-Health-Daten zur Trinkmenge über SMS [16] nicht wesentlich von katamnestisch gewonnenen Werten. Für viele Therapieentscheidungen
ist eine genauere Information vermutlich gar nicht notwendig.
Der Mensch und sein Datensatz dürfen nicht verwechselt werden
Der Mensch und sein Datensatz dürfen nicht verwechselt werden
Die Aussichten klingen überaus positiv. Aber gibt es auch Risiken und Nebenwirkungen?
Wir möchten sagen: sogar erhebliche. Die Erfassung des Seelischen durch ein IT-System
könnte zur Entpersönlichung führen, die Person könnte hinter einem Verhaltensdatensatz
verschwinden. Die aus dem Datensatz resultierenden Entscheidungen würden sich eher
an den Indikatoren als am individuellen Leiden orientieren. Die Technisierung und
Standardisierung von Therapieprogrammen für Zehntausende leistet der McDonaldisierung der Medizin Vorschub, bei der die Effizienz des Systems anhand interner Organisationskriterien
beurteilt wird und sich nicht mehr am Nutzer orientiert [17]. Auch der Datenschutz ist ein heikles Thema: Zum einen entsteht gerade ein allgemeines
Bewusstsein dafür, dass Daten im Internet in der Regel nicht sicher sind. Und es sind
kaum persönlichere Daten als die zur psychischen Gesundheit und zu entsprechenden
Verhaltensmustern vorstellbar. Aber selbst wenn E-Health-Programme so abgeschottet
werden könnten, dass Daten nicht nach außen dringen, gibt es ein Datenschutzproblem:
Häufig wird E-Health von Anbietern mit inhärenten Interessenkonflikten betrieben,
z. B. von Gesundheitsanbietern und Krankenversicherungen, die sowohl den Therapieerfolg
als auch eine Kostensenkung anstreben. Wer kann verhindern, dass Kostenträger anhand
der Telemedizindaten „hoffnungslose Fälle“ identifizieren, denen dann bestimmte Therapien
nicht mehr angeboten werden? Menschen, die sich in Telemedizinprogrammen nicht verändern,
könnten in eine neue Art von Schwierigkeiten geraten. Müssen Versicherte ihre E-Health-Daten
einer Lebensversicherung offenbaren, genauso wie Vorerkrankungen, und einen Risikozuschlag
in Kauf nehmen, wenn die Daten auf verminderte Veränderungsfähigkeit hinweisen? Wenn
ich den Notruf auslöse, wenn es mir schlecht geht, weist das auf meine Krankheitsschwere
oder meine Therapiemotivation hin? Schon bietet eine Autoversicherung eine App an,
die Fahrverhalten mit Ort und Uhrzeit misst und entsprechend Rabatte verspricht (http://sz.de/1.1618144). Welche Möglichkeiten eröffnen sich da für Versicherungen, die detaillierte Daten
zum individuellen Gesundheitsverhalten haben? Hier werden Themen der individuellen
Freiheit direkt berührt.
Wenn E-Health-Systeme als Dauerprogramme angelegt werden, lassen sie die Patienten
vielleicht nicht mehr los. Auf die institutionelle Chronifizierung könnte die virtuelle
folgen. Die Systeme müssen flexibel sein und es ermöglichen, sie zu verlassen. Hier
wird die Überprüfung des individuellen Verlaufs durch Therapeuten unumgänglich sein.
Beinhaltet E-Health auch offene Diskussionskanäle, müssen Qualität und Seriosität von Informationen transparent gemacht werden [8]. Ältere Patienten sind häufig von Internet und Smartphones ausgeschlossen. Dass
die Marktmacht der Älteren es ermöglicht, adäquate Kommunikationsmittel zu produzieren,
ist erst einmal ein frommer Wunsch.
Beginn einer neuen Ära?
Steht E-Health in der Reihe der bedeutenden Innovationen der Psychiatrie im letzten
Jahrhundert (Psychiatrie-Enquete, Medikamente, Psychotherapie) [18]? Wird sie einer der Treiber des Fortschritts, insbesondere vor dem Hintergrund,
dass die Innovationen der Psychopharmaka derzeit in der Krise sind [19]? Welche neue Varianten (whatsapp, Facebook) kommen mit immer neuen kommunikativen
Möglichkeiten?
Die E-Health ist in der Pionierphase, Lauber [20] wies in dieser Zeitschrift darauf hin, dass innovative Modellversuche immer unter
bestimmten günstigen Bedingungen ausprobiert werden, und zwar mit „neu gebildeten, hoch motivierten und „von der Sache“ überzeugten Teams, bisweilen
mit charismatischen Führungsfiguren an der Spitze“. Der Wirksamkeitsnachweis im Alltag steht aus. Ein erster Schritt zur Akzeptanz in
der Medizin ist durch Aufnahme in die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien getan.
Es wird interessant sein zu sehen, ob bald nicht nur ein Medikament und eine Psychotherapie
empfohlen werden, sondern auch eine help-line, oder ob das Vertrauen in die Wirksamkeit
zu gering sein wird. Die erwähnten Nebenwirkungen werden zunächst möglicherweise subtil
und unmerklich sein, aber mit der steigenden Verbreitung von E-Health an Relevanz
gewinnen. Notwendig ist ein Bewusstsein für die spezifischen Risiken neuer Kommunikationstechniken.
E-Health kann immer nur Mittel sein, und nicht Zweck.