Das gesamte Gebiss der Lagomorpha besteht aus permanent nachwachsenden Zähnen und
schärft sich
selbst. Physiologischerweise besteht zwischen Abrieb und Nachwachstum ein feines Gleichgewicht,
das durch falsche Fütterung und selektives Fressen bei zu reichhaltigem Nahrungsangebot
kippt.
Neben der primären, angeborenen Malokklusion bei brachyzephalen extremen Zwergen führt
vor allem die sekundäre, erworbene Malokklusion zu behandlungsbedürftigen
Zahnfehlstellungen. Dabei kommt es durch eine zu hohe Bisslage im Backenzahngebiss
sekundär zu
einer Veränderung im Schneidezahngebiss: Die Elongation der Molaren führt zu einem
übermäßigen
Längenwachstum der Inzisivi. Die elongierten Inzisivi I1 im Oberkiefer entwickeln
eine größere Krümmung und dabei entstehen häufig auch die pathognomonischen Querriefen.
Im
Unterkiefer entwickeln die Inzisivi eine geringere Krümmung und wachsen zunehmend
vor die
Antagonisten im Oberkiefer, wobei schließlich der physiologische Kontaktpunkt auf
der
Hinterseite des I1 und damit die Funktion vollständig verloren gehen (▶ Abb.
[
1
]). Diese Veränderungen werden heute als Stadien
einer chronisch-progressiv verlaufenden Dentalerkrankung betrachtet [[7]].
Abb. 1
Totaler Kontaktverlust der Inzisivi und deutliche Elongation der Backenzähne mit
retrograden Wurzelveränderungen. Divergierende Konturen von Gaumen und
Unterkieferdiastema. Die Inzisivi sind völlig funktionslos und behindern nur die
Nahrungsaufnahme.
(© S. Gabriel)
Indikationsstellung
Funktionslos gewordene Inzisivi lassen sich wegen der eingetretenen morphologischen
Veränderungen
und häufig zusätzlicher parodontaler Schädigung (Rotation und/oder Lockerung in den
knöchernen
Alveolen, ▶ Abb.
[
2
]) nicht mehr durch
Einschleifen ad integrum restituieren und stellen letztlich nur noch ein Hindernis
bei der
Nahrungsaufnahme dar. Meist werden diese fälschlich als „Elefantenzähne“ bezeichnet
und
regelmäßig gekürzt. Keinesfalls darf diese Kürzung mit Zangen oder Clippern durchgeführt
werden,
weil die Inzisivi zu Längssplitterungen neigen und das Abkneifen hoch schmerzhaft
ist. Auch
regelmäßiges Absägen mit der Diamattrennscheibe ist keine gute Option, weil die Pulpa
überlanger Zähne ebenfalls bis weit über das Gingivaniveau elongieren kann. So besteht
beim
Kürzen dieser Zähne ein hohes Risiko, die Zahnpulpa zu eröffnen und iatrogen eine
Pulpitis zu
verursachen. ▶ Abb.
[
3
] zeigt ein Paar solcher
regelmäßig abgesägten Inzisivi mit chronischer offener (iatrogener!) Pulpitis.
Abb. 2
Malokklusion der Inzisivi 3. Grades mit parodontaler Lockerung der Unterkieferinzisivi,
Rotation und Intrusion in den großen Unterkieferabszess.
(© M. Lampe)
Abb. 3
Extrahierte elongierte Unterkieferinzisivi. Der Haustierarzt hatte die vermeintlichen
„Elefantenzähne“ im Abstand von 6 Wochen mit der Trennscheibe gekappt und unbemerkt
eine offene Pulpitis unterhalten.
(© S. Gabriel)
Die einzig sinnvolle Therapie für funktionslose Inzisivi ist die Beseitigung dieser
Kauhindernisse durch Extraktion.
Dadurch kann die Lebensqualität des Patienten weitgehend normalisiert werden [[1], [7], [8]]. Voraussetzung für die Extraktion der Inzisivi ist jedoch ein normaler oder
prognostisch günstiger Befund der Backenzähne.
Vereiterte oder im Kiefer gelockerte Inzisivi stellen eine absolute Indikation zur
Extraktion dar.
Entfernt man diese schmerzhaften Zähne nicht, kommt es zu Frakturen, Ausbrechen oder
einer
Intrusion in den Kieferknochen (▶ Abb.
[
4
]).
Abb. 4
Rotation der Inzisivi im Kiefer. Beginnende Perforation der Compacta des Gaumens und
Wurzelverlagerung des Unterkieferinzisivus.
(© S. Gabriel)
Röntgendiagnostik
Zur Beurteilung der Länge und Form der zu extrahierenden Inzisivi muss vor dem Eingriff
mindestens
eine laterale Schädelaufnahme angefertigt werden [[5]].
Diese Aufnahme dient zur:
Abb. 5
Auswahl des passenden Luxationsinstruments am Röntgenbild und Abmessung der
erforderlichen Arbeitstiefe.
(© S. Gabriel)
Anhand von Referenzlinien [[2], [3]]
lässt sich die Bisslage der Backenzähne kontrollieren. Eine postoperative
Röntgenkontrolle dokumentiert die vollständige Entfernung der Zahnhartsubstanzen und die
Integrität der Kieferknochen [[1], [4], [8]].
Narkose und Analgesie
Eine ausreichend tiefe Allgemeinnarkose zur entspannten Lagerung kann durch eine
Isofluran-Inhalationsnarkose oder eine Injektionsnarkose erfolgen.
Beispiele möglicher Injektionsnarkosen sind:
-
die total antagonisierbare Triple-Narkose: Medetomidin 0,2 mg/kg + Midazolam 1,0 mg/kg
+ Fentanyl 0,025 mg/kg i.m. [[10]]
-
ihre Modifikation ohne Fentanyl: Medetomidin 0,1–0,25 mg/kg + Midazolam 0,5–1,0mg/kg
+
Butorphanol 0,4–0,6 mg/kg i.m.
Dabei ist zu beachten, dass Isofluran allein nicht analgetisch wirkt und nach Antagonisierung
des
Opiatanteils der Triple-Narkose auch die Analgesie endet [[9]].
Eine sorgfältige perioperative Analgesie z. B. mit präemptiver Gabe von Butorphanol und
postoperativer Fortsetzung mit Metamizol (20–50 mg/kg/4 h) und einem der beiden NSAIDS
hat sich
bewährt [[6]]:
Die lokale Betäubung als Leitungs- oder Infiltrationsanästhesie bietet sich zusätzlich an.
Vorzugsweise sollte sie mit einer speziellen intraligamentalen Injektionsspritze appliziert
werden. Diese zahnärztliche Repetierspritze setzt bei jeder Betätigung ein definiertes
Volumen
von z. B. 0,1 ml Lokalanästhetikum unter Druck ins Gewebe ab, ohne dass irrtümlich
eine größere
Menge intravasal abfließen kann. Mit der zugehörigen extrem dünnen Zahnarztkanüle
kann man die
Kiefernerven (Unterkiefer: N. mentalis, Oberkiefer: N. infraorbitalis) durch ein periostnahes
Depot blocken. Auch eine intraligamentale Lokalinjektion in die Parodontalspalten
der Inzisivi
ist mit einer langen Zahnarztkanüle möglich (▶Video
[1]
[2]
[3] ).
Eine intraoperative Verabreichung von Sauerstoff wird bei Kaninchennarkosen stets empfohlen.
Da ein Trachealtubus bei der Zahnextraktion hinderlich ist, kann eine nasopharyngeale
Intubation
mit einer dünnen Ernährungssonde erfolgen (▶ s. Kasten
[]).
Über diese Sonde kann leicht Sauerstoff, aber auch zur Narkosevertiefung zusätzlich
Isofluran
insuffliert werden.
Nasopharyngeale Intubation
Eine passende Ernährungssonde (Außendurchmesser 1–3 mm) wird zunächst für den Patienten
abgemessen. Dazu misst man die Distanz vom Nasenloch bis zum temporalen Augenwinkel
ab und
markiert diese auf der Sonde mit einem Filzstift. Unter Verwendung von etwas Gleitgel
oder
Lidocain-Gel schiebt man nun die Sonde beim anästhesierten Patienten durch den ventralen
Nasengang bis zur Markierung in den Nasopharyx vor. Durch vorsichtiges Einpustenwerden
Gel
und Schleimreste von der Sondenspitze beseitigt. Die richtige Lage der Sonde wird
entweder
mithilfe eines Kapnometers (falls vorhanden) oder durch Beobachtung des Beschlagens
durch
die Atemluft im Tubus überprüft. Wenn man eine röntgenfähige Sonde verwendet, lässt
sich
im Zweifelsfall der korrekte Sitz am einfachsten mit einer Röntgenaufnahme kontrollieren.
Mit einem Klebestreifen wird die Sonde an der Nase fixiert und vor Verrutschen bei
den
Umlagerungen gesichert. Mit einem Adapter kann nun sowohl Sauerstoff (kontinuierlich)
als
auch Isofluran (nach Bedarf) in geringem Fluss insuffliert werden.
Cave: eine irrtümliche ösophageale Fehlintubation muss sicher verhindert werden!!!
Instrumentarium
Während in der Literatur [[1], [4]]
meist noch auf selbstgefertigte Luxationswerkzeuge oder umgearbeitete Zahnarztspatel
zurückgegriffen wird, stehen heutzutage spezielle Nagerzahnluxatoren diverser Hersteller
zur Verfügung (Bezug z. B. über Albrecht, Henry Schein, WDT/IM3). Im Unterschied zu
den
konventionellen Hebeln (Elevatoren) für die Zahnextraktion bei Hund und Katze handelt
es sich
hierbei um kleine sichelförmige Messer (Periotome), die nicht zum Hebeln, sondern
zum Schneiden
(Luxieren) in der Alveole konzipiert sind. Daher sollten die stumpf gelieferten Luxatoren
vor
jedem Gebrauch an ihrer Spitze angeschliffen werden. Ein Satz dieser Nagerzahnluxatoren
besteht
aus 2–3 doppelendigen Instrumenten mit verschiedenen Krümmungen (▶ Abb.
[
6
]).
Abb. 6
Verschiedene Luxatoren. Von unten: nach Crossley, nach Remeeus, nach Fahrenkrug
(teilweise modifiziert), Eigenbau nach Gabriel.
(© S. Gabriel)
Da die parodontalen Fasern den Zahn nicht fest mit der knöchernen Alveole verbinden,
ist das Ziel
der Luxation, unter Aufweitung des Parodontalspalts bis zum Wurzelbereich herunter
zu dringen
und dort mit der scharfen Spitze des Instruments den Zahn loszuschneiden. Er lässt
sich dann
einfach aus seiner Wurzelscheide herausziehen [[7], [8]].
OP-Vorgehensweise
Der anästhesierte Kaninchenpatient wird in Seitenlage auf einer körperwarmen Unterlage
vorbereitet und alle Instrumente werden bereitgelegt. Optimal liegt das seitliche
Röntgenbild
zur Kontrolle der Arbeitstiefe in der Nähe auf einem Bildbetrachter bereit.
Eine nasopharyngeale Sonde, über die Sauerstoff und bei Bedarf auch Isofluran zur temporären
Narkosevertiefung gegeben werden kann, wird vorsichtig eingeschoben und mit Klebestreifen
am
Kopf fixiert (▶ s. Kasten
[]). Hierdurch werden auch die
Atemwege bei eventuell auftretenden Blutungen freigehalten, denn Kaninchen sind obligate
Nasenatmer.
Für die Inzisiviextraktion bevorzugt der Autor die Rückenlagerung. Allerdings sollte bei
anästhesierten Kaninchen eine längere Rückenlage vermieden werden, denn die Atmung
könnte durch
das Darmkonvolut behindert sein. Der Kopf des Patienten wird vom Rechtshänder mit
der linken
Hand fixiert und leicht gestreckt. Vor der Extraktion der Inzisivi sollten alle notwendigen
Korrekturen an den Backenzähnen, z. B. das Einschleifen der Bisslage, erledigt werden.
Zur sicheren Arbeit gehört ein sorgfältiges Abstützen mit Händen und Unterarmen auf
dem Tisch,
gute Beleuchtung und bei Bedarf eine Lupenbrille.
Extraktion der Unterkieferinzisivi
Es hat sich bewährt, mit den Unterkieferinzisivi zu beginnen. Überlange Schneidezähne
werden
mit einer Diamanttrennscheibe auf etwa 1 cm supragingivale Länge gekürzt. Nach
vorsichtiger Reinigung und lokaler Desinfektion (z. B. mit 0,1 % Chlorhexidinlösung)
werden die Lippen beiseite geschoben und mit einem feinen spitzen Skalpell wird die
Gingiva allseitig um jeden Zahn gelöst. Die Stichinzisionen werden vorsichtig nach
und
nach entlang der Zahnkronen bis in die knöcherne Alveole vertieft. Die geringgradigen
Blutungen können mit Tupfern gestillt werden. Nun werden die passenden Luxatoren
vorsichtig allseitig abwechselnd eng am Zahn entlang in den Parodontalspalt eingeführt
und
sukzessiv bis in die Tiefe der Alveole vorgeschoben. Dabei ist die Biegung jedes Zahnes
genau mit dem Instrument nachzuvollziehen. Zweckmäßigerweise beginnt man mit dem
sichelförmigen langen Luxator an der lateralen Fläche eines Inzisivus, wodurch ein
kleiner Spalt für die folgende Lateralbewegung geschaffen wird (▶ Abb.
[
7
]). Danach geht man zwischen den beiden Inzisivi mit
dem gleichen Luxator ein. Man muss eng mesial entlang der interdentalen Zahnfläche
leicht
nach lateral gerichtet immer am Zahn entlang in die Tiefe gehen. Keinesfalls darf
hier
durch einen falschen Eindringwinkel die Alveole verpasst werden, was eine Verletzung
der
Unterkiefersymphyse zur Folge hätte. Auch darf keinesfalls zwischen den beiden Inzisivi
gehebelt werden, was ebenfalls die Symphyse sprengen könnte (▶ Abb.
[
8
]).
Abb. 7
Schematischer Querschnitt durch den Unterkiefer mit der Symphyse in der Mitte.
Der Luxator wird lateral in den Parodontalspalt eingeführt und luxiert den
Inzisivus nach mesial, wobei die parodontalen Fasern reißen. Als Nächstes
erfolgt die Gegenbewegung nach lateral durch die mesiale Einführung des
Luxators.
(© S. Gabriel)
Abb. 8
Der Luxator wird interdental eingeführt und folgt streng der mesialen Zahnflanke
(blauer Pfeil). Keinesfalls darf an dieser Stelle der Alveolarspalt verfehlt
werden, weil sonst die Symphyse (hellblau) verletzt oder gesprengt werden
kann.
(© S. Gabriel)
Eine Kontrolle der Eindringtiefe erfolgt durch Vergleich mit dem Röntgenbild; idealerweise
wird zwischendurch eine Kontrollaufnahme angefertigt (▶ Abb.
[
9
]). Auf der labialen und lingualen Zahnfläche wird
entsprechend mit dem schaufelförmigen Luxator gelöst. Dabei muss sehr vorsichtig
und ohne Kraft vorgegangen werden, um die Alveole nicht zu sprengen oder subkutan
bzw.
subperiostal abzukommen.
Abb. 9
Kontrollröntgenbild: Der flache schaufelförmige Luxator nach Fahrenkrug ist an
der lingualen Zahnfläche bis auf die maximale Arbeitstiefe vorgeschoben worden
und hat den Inzisivus etwas nach ventral gelockert.
(© S. Gabriel)
Die Alveolarspalten werden auf diese Weise allseitig durch die passenden Luxatoren
aufgeweitet und die parodontalen Fasern zerrissen. Dabei ist es wichtig, die Instrumente
keinesfalls zu drehen, was ein Sprengen des Alveolarknochens oder Brechen des Zahnes
zur
Folge hätte. Vielmehr wird man sich durch wiegende Kippbewegungen vorsichtig schneidend
in
die Tiefe vorarbeiten. Die dabei ausgelösten feinen intra-alveolären Blutungen tragen
zum
Lösen der Fasern bei. Deshalb belässt man die Instrumente jeweils einige Sekunden
im
Alveolarspalt stecken (Tipp: laut bis zehn zählen!), um sie dann wieder auf der
gegenüberliegenden Seite einzuführen. Keinesfalls darf man dabei Kraft anwenden, denn
der
Kiefer kann gesprengt werden. Zwischen den beiden Inzisivi muss sorgfältig ohne Hebeln
der
leicht divergierende Zahnverlauf nachgearbeitet werden, sodass es nicht zur Sprengung
der
Unterkiefersymphyse kommt.
Sind die Inzisivi ausreichend tiefgelockert, lassen sie sich durch Vor- und Zurückschieben
weiter mobilisieren und dann mit einfachen Fingerkräften aus der Alveole herausziehen.
Keinesfalls sollten die Inzisivi mit einer Zange gefasst werden, da die dabei
freigesetzten Kräfte zur Splitterung und Fraktur des Zahnes führen. Falls nötig, z.
B. bei
einem sehr kurzen Zahn, kann man mit einer feinen Pinzette oder einer parallel fassenden
Arterienklemme den Griff verbessern.
Praxistipp
Die luxierten Inzisivi werden ausschließlich mit den Fingern gefasst, um das
Frakturrisiko zu senken. Der Kiefer wird von Rechtshändern mit der linken Hand
umgefasst und der zu ziehende Zahn wird zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten
Hand im Pinzettengriff gefasst. Mit einer Drehbewegung wird der Zahn herausgezogen;
dabei wird der Daumen der rechten Hand als „Umlenkrolle“ benutzt (▶Video
[]).
Extraktion der Oberkieferinzisivi
Nach der Extraktion der unteren Schneidezähne erfolgt die Extraktion der oberen Inzisivi.
Hierbei ist zu beachten, dass deren Radius wesentlich kleiner ist und ein entsprechendes
Werkzeug in engem Bogen mit der Zahnkrümmung geführt werden muss. Das Risiko, durch
divergierende Schnittführung (via falsa, ▶ Abb.
[
10
]) die Nasenhöhle zu verletzen, ist besonders groß.
Abb. 10
Der Luxator wurde im falschen Radius vorgeschoben und hat den Parodontalspalt
verfehlt (via falsa).
(© S. Gabriel)
Die Oberkieferinzisivi werden bei der Extraktion herausgedreht und nicht gezogen.
Der
Zug darf dabei nur axial im Bogen erfolgen, so wie man einen Krummsäbel aus der
Scheide zieht.
Das geht besonders leicht bei guter Abstützung am Schädel, indem man den Zahn zwischen
Daumen
und Zeigefinger fasst und über den Daumen als Umlenkrolle dreht (▶Video
[]).
Die kleinen geraden Stiftzähne werden tief mit dem Skalpell losgeschnitten und gerade
herausgezogen. Das geschieht zweckmäßigerweise vor der Extraktion der großen Inzisivi.
Blutungen lassen sich durch Kompression stillen, die großen Inzisivi werden zur
Blutstillung wieder für eine kurze Zeit in ihre Alveole gesteckt, sodass sich ein
natürlicher Thrombus bilden kann.
Fehlerquellen und Komplikationen
Fehlerquellen und Komplikationen
Die häufigsten Fehlerquellen sind Ungeduld und zu großer Kraftaufwand. Man muss sich
einfach die nötige Zeit für die vollständige Luxation von allen Seiten nehmen. Besonders
bei den
stärker gekrümmten Oberkieferinzisivi ist es beim Herausziehen wichtig, genau im Verlauf
der
Zahnkrümmung und mit stetigem, aber nicht zu großem Kraftaufwand zu ziehen, um den
Zahn nicht zu
frakturieren.
Nach der Extraktion müssen alle Zähne an der Wurzel kontrolliert werden, ob die Pulpa
(das
sogenannte „Zahnsäckchen“) mit extrahiert wurde (▶ Abb.
[
11
]). Falls der Zahn leer ist, ist die Pulpa in der Alveole verblieben, was ein
Nachwachsen von Zahnsubstanz ermöglicht. In diesem Fall muss die Pulpa mit einer
umgebogenen Kanüle kürettiert und herausgezogen werden. Gelingt das nicht, muss versucht
werden,
verbliebene Reste des germinativen Gewebes mechanisch (Curettage der Alveole oder
wiederholtes
Einstoßen des Zahnes) oder chemisch (Lotagen, Jod) zu zerstören. Eine Röntgenkontrollaufnahme
liefert den Nachweis, dass alle Zahnhartsubstanzen entfernt werden konnten.
Abb. 11
Der untere extrahierte Inzisivus enthält seine Pulpa („Zahnsäckchen“). Der obere
Inzisivus ist leer: Das bedeutet, dass die Pulpa in der Alveole verblieben ist.
(© S. Gabriel)
Auch bei vollständiger Extraktion gibt es ein gewisses Risiko, dass in der Tiefe der
Alveole
germinatives Gewebe verblieben ist, das wieder Zahnhartsubstanz produzieren kann.
Auch eine negative Röntgenkontrolle nach der Extraktion ist keine Garantie dafür,
dass keine
Zahnsubstanz nachwachsen kann. Das passiert aber nur sehr selten. Man sollte den Tierhalter
stets darauf hinweisen und zu einer Röntgenkontrolle nach einigen Wochen raten.
Wenn beim Extraktionsversuch ein Inzisivus abbricht, sollte man das Nachwachsen abwarten und
dann eine erneute Extraktion durchführen. Bei schon luxierter Zahnwurzel kann man
die Extraktion
des Fragments mit einer Endo-Feile versuchen oder durch Trepanation eine offene Extraktion
durchführen. In der Alveole steckengebliebene Wurzelfragmente nekrotisieren oft und
werden durch
ihre Fremdkörperwirkung und/oder eine bakterielle Infektion zur Ursache von Osteomyelitis.
Liegt bereits ein Zahnwurzelabszess vor (▶ Abb.
[
2
]), muss die vereiterte Alveole nach der Zahnextraktion als Drainage der
Abszesshöhle offen bleiben. Im Unterkiefer liegt häufig eine gemeinsame Abszedierung
der
benachbarten Wurzeln des Inzisivus und des 1. Backenzahns vor. Dieser sollte dann
ebenfalls
extrahiert und die Abszesshöhle vorzugsweise nach unten eröffnet und großzügig kürettiert
werden. Über die Alveole des extrahierten Inzisivus lässt sich dann bis zum Ausgranulieren
leicht mehrmals täglich eine antiseptische Spüllösung (z. B. PVP-Jod 2 %) einbringen.
Post-OP und Langzeitüberwachung
Post-OP und Langzeitüberwachung
Postoperativ sollte an eine gute Analgesie für einige Tage gedacht werden.
Die Alveolen der extrahierten Inzisivi bleiben offen oder können zur Verhinderung
von
Futtereinspießung mit resorbierbarem Nahtmaterial (2-0 bis 5-0) adaptiert werden.
Eine saubere
(nichtinfizierte) Alveole sollte nicht gespült oder mit Einlagen versorgt werden,
um die
natürliche Granulation aus dem Thrombus nicht zu stören.
Die infizierten Alveolen abszedierter Zähne sollten nach der Extraktion sorgfältig
kürettiert,
gespült und zur Drainage offen belassen werden. Eine perioperative Antibiose mit einem
knochengängigen Antibiotikum zum Schutz vor septischer oder lokaler Keimausbreitung
wird
parenteral für einige Tage empfohlen. Von antibiotischen Einlagen ist dringend abzuraten,
da sie
den Abfluss verstopfen, Biotope für Anaerobier schaffen und oral aufgenommen werden
können.
Nach Abschluss der OP ist eine seitliche Röntgenaufnahme zur Kontrolle dringend
anzuraten.
Operierte Patienten müssen so bald wie möglich wieder ans Fressen gebracht werden. Dazu
können sie mit Breifutter und weichen Blattstückchen angefüttert werden. Die Tiere
können nach
der Entfernung der störenden funktionslosen Inzisivi meist spontan besser fressen.
Jedoch müssen
manche Patienten erst lernen, das Futter mit den Lippen aufzunehmen und mit den Backenzähnen
zu
zerteilen. Dazu eignen sich besonders Löwenzahnblätter, Möhrengrün oder mit dem Sparschäler
hergestellte Möhrenstreifen.
Sobald der Patient selbständig Futter aufnimmt, kann er mit einer entsprechenden Einweisung
der
Tierbesitzer nach Hause gegeben werden. Das Tier sollte täglich gewogen und engmaschig
tierärztlich kontrolliert werden. Manche Kaninchen haben ohne Inzisivi Probleme mit
der
Fellpflege und sollten vermehrt gebürstet werden.
Da das Überwachstum der Inzisivi in der Regel durch eine Malokklusion im Backenzahngebiss
verursacht wurde, ist das Problem durch die Extraktion der Inzisivi allein noch nicht
gelöst.
Der Besitzer muss darauf hingewiesen werden, dass regelmäßige tierärztliche Kontrollen
(und
ggf. Korrekturen) der Backenzähne notwendig sind, auch wenn der Patient zufriedenstellend
frisst.
Bei einer routinemäßigen Kontrolluntersuchung nach 4–6 Wochen sollte man eine seitliche
Röntgenaufnahme anfertigen, um die leeren Alveolen auf Nachwachstum und die Backenzähne
auf
physiologische Abnutzung oder neuerliche Elongation zu kontrollieren. Auch klinisch
unauffällige
Patienten sollten langfristig mindestens 3–4 Mal jährlich tierärztlich kontrolliert
werden.
Extraktion der Inzisivi
-
Allgemeinnarkose und Analgesie
-
Schädelröntgen latero-lateral
-
Kürzen und Einschleifen der Backenzähne
-
Reinigung und Desinfektion des OP-Gebiets
-
Auswahl der passenden Luxatoren anhand der Röntgenaufnahme
-
Vorgeschlagene Reihenfolge: Unterkieferinzisivi, Stiftzähnchen,
Oberkieferinzisivi
-
Inzision der Gingiva mit spitzem Skalpell allseitig bis in die Alveole
-
Erweiterung der Inzision mit passendem Luxator allseitig bis in die knöcherne
Alveole
-
Abwechselndes Vorschieben des Luxators allseitig bis zum Wurzelbereich (jeweils
10 Sekunden stecken lassen, nicht hebeln oder rotieren)
-
GEDULD!
-
Fassen des gelockerten Zahns mit den Fingern, vorsichtige Extraktion im Bogen
-
Kontrolle an der Zahnwurzel, ob die Pulpa komplett entfernt wurde
-
Zurückstecken des extrahierten großen Inzisivus zur Blutstillung
-
Wenn die Pulpa nicht mit gezogen wurde: Kürettage, Spülung, Verödung
-
Wundnaht: Adaptation der Gingiva mit einem 2-0 bis 5-0 resorbierbaren Faden (bei
vereiterter Alveole offen lassen)
-
Postoperative Röntgenkontrolle der Alveolen (Schädelröntgen latero-lateral)
-
Antibiose nur bei infizierter Alveole oder Abszessgeschehen
-
Postoperative Analgesie für 3–6 Tage
-
Baldiges Anfüttern nach Narkoseende und ggf. Handfütterung bis zur selbständigen
Nahrungsaufnahme
-
Kontrolluntersuchung nach 1 Tag, 6 Tagen, 6 Wochen oder bei Komplikationen
-
Röntgenkontrolle nach 4–6 Wochen
-
Lebenslange regelmäßige Kontrolle der Backenzähne
Tab. 1
Mögliche Komplikationen bei der Extraktion der Inzisivi bei Kaninchen.
|
Mögliche Komplikationen
|
Ursachen
|
Lösungen
|
|
Sprengung der Alveole
|
|
-
Röntgenkontrolle
-
Analgesie
|
|
Nachwachstum von Zahnsubstanz
|
|
-
Röntgenkontrolle
-
Nachwachsen abwarten
-
Erneute Extraktion
|
|
Fraktur des Inzisivus
|
-
Falsche Kraftanwendung
-
Schmelzbildungsstörung
|
-
Nachwachsen abwarten
-
Erneute Extraktion
|
|
Vereiterung der Alveole/Zahnwurzel
|
|
|
Abb. 12
Dieser Inzisivus hat durch periapikale Entzündungen phasenweise Wachstumsstörungen
erlitten. Auf dieser rauen Schmelzoberfläche lässt sich der Luxator ausgesprochen
schwer vorschieben. Beim Ausziehen frakturieren diese Zähne sehr leicht, wenn sie
nicht zuvor allseitig perfekt gelöst wurden.
(© S. Gabriel)