physiopraxis 2013; 11(11/12): 22-23
DOI: 10.1055/s-0033-1363429
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Lücken entdecken

Qualitative Versorgungsforschung
Eva Trompetter

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
29 November 2013 (online)

 

Beim Stichwort „Evidenz“ denken die meisten an klinische Studien. Doch es ist nicht damit getan, zu untersuchen, ob eine Therapie wirkt. Man muss auch prüfen, inwieweit die Therapie letztendlich bei den Patienten ankommt. Diese Aufgabe übernehmen Versorgungsforscher.


#

Wenn Physiotherapeuten in Deutschland von „Wissenschaft“ und „Evidenz“ sprechen, meinen sie damit meist klinische Studien. Diese vergleichen beispielsweise den Effekt verschiedener Behandlungsmethoden miteinander. Nach Meinung vieler Therapeuten sind klinische Studien wichtig dafür, die Finanzierung von Physiotherapie langfristig zu sichern. Die Relevanz anderer Forschungsinhalte, etwa der Patientensicht, wird häufig unterschätzt. Ein Beispiel: Physiotherapie ist bei Harninkontinenz erwiesenermaßen wirksam. Doch es gibt, wie man weiß, viele betroffene Frauen, bei denen mehrere Jahre vergehen, bis sie eine spezialisierte Versorgung, etwa in einem Beckenbodenzentrum, erhalten [1, 2]. Nur weil eine Therapieform wissenschaftlich untermauert ist, wird sie also nicht automatisch von den Patienten in Anspruch genommen. Und nur weil eine Therapie evidenzbasiert ist, entspricht sie nicht automatisch den Bedürfnissen der Patienten.

Um derartige Lücken zu schließen, ist die Erfassung der Patientensicht unabdingbar – beispielsweise im Rahmen von Versorgungsforschung. So gibt es Studien zum Thema Harninkontinenz, die zeigen, dass Frauen Harninkontinenz oft als „normales“ Phänomen bewerten mit wenig Aussicht auf Heilung [3]. Offenbar gibt es also Informationsdefizite über präventive und therapeutische Behandlungsmöglichkeiten von Harninkontinenz – in der Bevölkerung, aber auch bei einigen Akteuren im Gesundheitswesen [2].

Die Versorgungssituation beurteilen

Versorgungsforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin, die unter anderem untersucht, welche Versorgungsleistungen (zum Beispiel Physiotherapie) von wem und wie oft in Anspruch genommen werden. Zudem evaluiert sie, wie diejenigen, die eine Leistung beanspruchen, diese beurteilen. Das Besondere an Versorgungsforschung – und das, was sie so anspruchsvoll macht – ist, dass sie ihre Erkenntnisse nicht „im Labor“ gewinnt, sondern unter Alltagsbedingungen [4].

Beim Thema Harninkontinenz könnten zum Beispiel Wissenschaftler bei Beratungsgesprächen zwischen Physiotherapeut und Patientin anwesend sein und diese danach analysieren.

Versorgungsforschung berücksichtigt das gesamte Versorgungssystem mit all seinen Akteuren. Sie nimmt ihre Aufgaben auf fünf Ebenen wahr – von der Beschreibung der Versorgung bis hin zur Evaluation der Wirksamkeit von Therapiemaßnahmen unter Alltagsbedingungen (Abb.) [5]. So möchte sie die wissenschaftliche Grundlage dafür schaffen, dass sich die Gesundheitsversorgung kontinuierlich verbessern kann, und mitwirken, dass das Leitbild einer „lernenden“ Gesundheitsversorgung verwirklicht wird [5].

Eine funktionierende Versorgungsforschung erfordert, dass alle Akteure im Gesundheitssystem kontinuierlich zusammenarbeiten – in der Wissenschaft und in der Praxis.


#

Die Vorstellungen der Patienten analysieren

Versorgungsforschung nutzt verschiedene Forschungsmethoden: quantitative, etwa die Analyse von Krankenkassendaten, oder qualitative wie Interviews mit Akteuren im Gesundheitswesen. Für die Erfassung der Patientenperspektive eignen sich qualitative Studien besonders gut. Denn diese orientieren sich sehr stark am Subjekt, also dem Patienten, und ermöglichen es, dessen Vorstellungen und Handlungen optimal zu analysieren und zu deuten. Die Datenerhebung erfolgt beispielsweise mittels Interviews, Gruppendiskussionen oder teilnehmenden Beobachtungen.

Obwohl niemand mehr anzweifelt, wie relevant qualitative Forschungsmethoden in der Versorgungsforschung sind, werden sie bislang immer noch vernachlässigt. Ein möglicher Grund dafür: Sie sind zeitaufwendig und personalintensiv. So werden etwa die erhobenen Daten idealerweise nicht nur von einem Forscher ausgewertet und diskutiert, sondern von mehreren gemeinsam [6].

Die fünf Ebenen der Versorgungsforschung nach Pfaff & Schrappe

Aufgaben der Versorgungsforschung

Fragestellung

Beschreibung

Wie ist die Versorgung gestaltet?

Erklärung

Welche Ursachen sind für Erfolge oder Probleme der Versorgung verantwortlich?

Gestaltung

Welche Interventionen lassen sich aufgrund versorgungswissenschaftlicher Ergebnisse entwickeln (Konzeptentwicklung)?

Evaluative Begleitung

Welche Implementations- und Umsetzungsprobleme treten auf?

Evaluation der Wirksamkeit

Wie wirksam ist die Intervention unter Alltagsbedingungen?

physioscience 2013; 9: 15–22


#

Versorgungslücken aufdecken

Ein eindrucksvolles Beispiel, welch wichtige Erkenntnisse man aus qualitativer Versorgungsforschung erhalten kann, stammt aus der Pflegewissenschaft: Eine Studie befasste sich mit der Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen in der letzten Lebensphase. Dazu interviewten die Forscher einige Wochen nach dem Tod der Patienten deren nahe Angehörige zum Krankheits- und Versorgungsverlauf von der Diagnosestellung bis zum Tod.

Die Ergebnisse: Chronisch Kranke erleben das deutsche Versorgungssystem als intransparent und unübersichtlich, zu wenig patientenorientiert und vorwiegend auf akute Erkrankungen sowie somatische Probleme hin ausgerichtet. Beispielsweise gibt es noch immer erhebliche Kommunikations- und Informationsdefizite in der Versorgung. Schwerwiegende Diagnosen werden wenig einfühlsam mitgeteilt und das medizinische Fachpersonal ist für den darauf folgenden Schockzustand nur wenig sensibel. Zudem gibt es Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsprobleme – zwischen einzelnen Akteuren, aber auch ganzen Sektoren. Für die Patienten und ihre Angehörigen sind diese sehr belastend und führen zu unnötigen Behandlungsverzögerungen. Es fehlt eine auf den Gesamtverlauf der Erkrankung hin ausgerichtete individuelle Planung und Steuerung der Versorgung. Zudem benötigen die Betroffenen Unterstützung, etwa durch einen Case-Manager, um sich im Gesundheitssystem zu orientieren. Dazu gilt es bei chronisch Kranken immer auch die Situation der Angehörigen und des sozialen Netzes zu beleuchten. Sie müssen dabei unterstützt werden, tragfähige Bewältigungsstrategien zu entwickeln und ihre Hilfepotenziale zu sichern und zu stärken [2].

Ihre Ergebnisse rekonstruierten die Wissenschaftler in Form von Fallporträts. Es entstand eine beschreibende Darstellung der Verläufe, die zunächst einzeln, im Anschluss dann fallübergreifend diskutiert wurden.


#

Den Kinderschuhen entwachsen

Obwohl diese Studie bedeutsame Erkenntnisse hervorbringt – etwa das Beratungsbedürfnis und den Bedarf an besserer interdisziplinärer Zusammenarbeit –, steckt die Versorgungsforschung in Deutschland im internationalen Vergleich noch in den Kinderschuhen. Neben einer nur schwach ausgeprägten Forschungsinfrastruktur (bislang gibt es nur wenige Fördermittel und Lehrstühle an Hochschulen) fehlt es an Grundlagenforschung, in der spezifische Erklärungsmodelle und Forschungsmethoden entwickelt werden [8]. In der bereits etablierten Versorgungsforschung kommen die Gesundheitsberufe kaum vor. Bisher wurde weder genauer analysiert, welchen Beitrag zur Gesundheitsversorgung sie leisten, noch, welche Rolle sie in zukünftigen Konzepten und Programmen spielen könnten [9, 10]. Im Hinblick auf die fortschreitende Akademisierung in den Gesundheitsberufen wäre es deshalb wünschenswert, wenn sich Studierende für diese Art der Forschung und ihre Methoden begeisterten.

In physiopraxis 1/2014 erklärt Eva Trompetter, wie wichtig die quantitative Versorgungsforschung ist.


#
#