Rofo 2014; 186(4): 329-333
DOI: 10.1055/s-0034-1368931
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Radiologie in der NS-Zeit – Teil 4 – Tuberkulosebekämpfung zwischen „Volksröntgenkataster“ und SS-Röntgensturmbann

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Publikationsdatum:
01. April 2014 (online)

 

„Von Seiten der Reichsärzteführung ist in Zusammenarbeit mit der Deutschen Röntgengesellschaft seit etwa 2 Jahren an dem Plan einer intensiveren Nutzbarmachung des Röntgens im Dienste der Volksgesundheit gearbeitet worden“[1], berichtete 1938 der stellvertretende Reichsgesundheitsführer Dr. Kurt Blome. Ausdrücklich sprach Blome seinen Dank aus an den Vorstand der „Deutschen Röntgengesellschaft“ für die „bisherige Mitarbeit an den großen Fragen“[2], die auf dem Gebiet der Tuberkulosebekämpfung offenbar gut funktioniert hatte. Die gemeinsam entwickelte Strategie der umfassend angelegten Röntgenreihenuntersuchung soll bereits in der kurzen Frist von 2 Jahren erfolgreich zur Aufdeckung bisher unbekannter Infektionen geführt haben – ein Verdienst, den Blome ganz wesentlich dem technologischen Fortschritt zugute hielt. Die gemeinsame Arbeit von Röntgenologen wie Prof. Dr. Robert Janker[3] und der geräteherstellenden Industrie habe zu Entwicklung und Produktion einer „ausgezeichneten Kleinapparatur“ zur Durchführung der Röntgenreihenuntersuchung geführt ([Abb. 1]). Unzufrieden zeigte Blome sich lediglich mit der Preisgestaltung für diese Geräte, äußerte aber die Zuversicht, „daß die Grenze des Möglichen noch erreicht werden wird“.[4]

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Abb. 1 Röntgenuntersuchung von HJ-Angehörigen (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-J08974. Foto: Hoffmann, Januar 1944)

Röntgenreihenuntersuchung und „Volksröntgenkataster“

Mitte der 1930er Jahre stand die Tuberkulose der Atmungsorgane zahlenmäßig an der Spitze der übertragbaren Erkrankungen[5], und auch im Hinblick auf die Schwere der Erkrankung belegte die Tuberkulose nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen Platz 2 in der Todesursachenstatistik, lag damit noch vor der Krebserkrankung. Zwar war in den ersten 3 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland wie in den meisten Industriestaaten auch ein Rückgang der Sterblichkeit an „Lungenschwindsucht“ zu verzeichnen gewesen, aber die Gesamtzahl von Infizierten, der ‚schleichende’ Erkrankungsprozess und die hohen Kosten, die eine oft jahrelange Heilstättenbehandlung und die lange Arbeitsunfähigkeit nach sich zogen, sorgten dafür, dass die Tuberkulose bei Ärzten und Gesundheitspolitikern gefürchtet war. Aus diesen Gründen wurde auch das Infektions- und Krankheitsgeschehen von staatlichen und kommunalen Medizinalbehörden regelmäßig beobachtet. Bereits Mitte der 1920er Jahre hatte mit Franz Redeker ein in der Tuberkulosebekämpfung sehr engagierter Fachmann die Einführung eines „Volksröntgenkatasters“ gefordert.[6] Zentral und längerfristig sollten die tuberkulosebezogenen Daten erfasst und wissenschaftlich ausgewertet werden, um eine verbesserte Wirkung der präventiven Maßnahmen zu erreichen.

Die nationalsozialistische Gesetzgebung im Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes hatte, wie im vorigen Beitrag bereits angesprochen, die Stellung des Einzelnen in der NS-Gesellschaft grundlegend gewandelt und den sogenannten „Gemeinnutz“ übergeordnet. Während in den Jahren der Weimarer Republik die öffentliche Abwehr von Gesundheitsgefahren unter möglichster Respektierung des Individuums und seiner staatsbürgerlichen Rechte erfolgen sollte, galt im NS-Staat das Interesse primär dem Krankheitsgeschehens am „Volkskörper“. Diesen beschädigte die Tuberkulose in doppelter Hinsicht: Sie minderte die Leistungs- und Reproduktionsfähigkeit der gegenwärtig lebenden Bevölkerung, und sie beeinträchtigte als vermeintliches „Keimgift“ die Qualität des Erbgutes, sodass das Volk der Zukunft eine genetisch schlechtere Ausstattung erben würde.

Der Beitrag „Die Tuberkulose als Volkskrankheit“ des Düsseldorfer Hygienikers Friedrich Erhard Haag von 1935 zeigt die geänderte Prioritätensetzung in der Ursachenbekämpfung exemplarisch: „Kampf gegen soziale Ungunst“ – in der Weimarer Republik das wichtigste Leitmotiv der Tuberkulosefürsorge, die auf Verbesserung der Arbeits-, Wohnungs- und Ernährungsbedingungen zielte – , belegte nur den 3. und letzten Platz. Es folgte der „Kampf gegen den Erreger“, unter dem der Autor „schwerste Bestrafung leichtsinniger Bazillenstreuer (Entzug der Unterstützung, Zwangsisolierung)“ verstand, aber auch die „Sorge, daß jeder Offentuberkulöse ein eigenes Bett und ein eigenes Schlafzimmer hat“. Der „Kampf gegen die minderwertige Erbanlage“ stand ganz oben im Maßnahmenkatalog der Tuberkuloseverhütung des Autors: „Unfruchtbarmachung aller Kranken mit fortschreitender und fortgeschrittener Tuberkulose. Als Maßstab kann die beschränkte oder fehlende Arbeitsfähigkeit und die Notwendigkeit öffentlicher Hilfe dienen“.[7] Eine noch schärfere Ausgrenzung erfuhren wenige Jahre später sog. „Asoziale Tuberkulöse“[8], die sich trotz Infektiosität den Therapieversuchen verweigerten. Als „Psychopathen“ wurden sie in speziellen Tuberkuloseabteilungen, die Heil- und Pflegeanstalten für „Geisteskranke“ angegliedert waren, zwangsasyliert und teilten in den Krankenmord-Aktionen während des Zweiten Weltkrieges das Schicksal dieser Insassen.[9]

Mit dem „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934 wurde die Tuberkulose als meldepflichtige Erkrankung festgeschrieben. Nicht nur für die NS-Erbgesundheitspolitik war mit diesem Gesetz das Gesundheitsamt als die zentrale Meldestelle festgelegt worden, sondern dies galt für sämtliche Interventionsbereiche des öffentlichen Gesundheitswesens einschließlich der Tuberkulosebekämpfung. Auch wenn kurz darauf 80% der Gesundheitsämter über ein Röntgengerät zur Durchleuchtung von Krankheitsverdächtigen verfügten, begrenzten die aufzuwendende Zeit für das einzelne Röntgenbild, aber auch die geringe Zahl von röntgenologisch qualifizierten Ärzten im Gesundheitsamt die Maximalzahl möglicher Röntgenuntersuchungen. Die serienmäßige Herstellung und der Einsatz der neu entwickelten Röntgenschirmbildfotografiegeräte dagegen ermöglichten die organisatorische Rationalisierung der Früherkennung von Tuberkuloseerkrankungen. Im Verein mit dem Zugriff auf die Personalressource der vielen ehrenamtlich tätigen, straff organisierten Mitglieder der diversen NSDAP-Formationen erschien dem Berliner Gesundheitsdezernent Franz Redeker sogar die „Röntgengesamterfassung“ der deutschen Bevölkerung nun als realisierbare Aufgabe[10].

Nach dem 1. Großdeutschen Röntgentag in München 1938 hatte Kurt Blome in seiner Funktion als Beauftragter des Reichsärzteführers für das ärztliche Fortbildungswesen „zu einer Besichtigung des neuen Verfahrens der Schirmbildphotografie im Institut von Professor Janker in Bonn“ eingeladen (Abb. 2).[11] Wissenschaftler und Vertreter der Röntgen- und Photochemischen Industrie verständigten sich und in der Folge wurden „von fast allen deutschen Röntgenfirmen in intensivster Arbeit hochwertige Röntgenschirmbildgeräte konstruiert“[12]. Im Gegensatz zu den archivierbaren Filmaufnahmen der herkömmlichen Röntgengeräte und der einmaligen optischen Wahrnehmung bei der Röntgendurchleuchtung zeichnete sich die Neuentwicklung dadurch aus, dass es sich um ein preisgünstigeres, rasch durchführbares Röntgenaufnahmeverfahren handelte, das auf der qualitativ deutlich verbesserten fotografischen Aufnahme des Leuchtschirmbildes basierte.

Abb. 2 Kurt Blome, stellvertretender Reichsgesundheitsführer, im Gespräch mit dem Röntgenologen Dr. Robert Janker (rechts) vor einer grafischen Darstellung zu dem von Janker fortwickelten Röntgen-Schirmbild-Verfahren, links Dr. Kittler. (Quelle: ullstein bild, Bild Nr. 00258865, 28.08.1938)


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Der SS-Röntgensturmbann

Der „transportable Röntgenreihenbildner nach Abreu-Holfelder“[13] entstand nach der Rückkehr des Frankfurter Strahlenmediziners Prof. Dr. Hans Holfelder aus Argentinien im Herbst 1937. Holfelder und Prof. Dr. Manuel de Abreu waren beide seit längerem an der Röntgenreihenuntersuchung interessiert und hatten gemeinsam an der technischen Weiterentwicklung von Siemens-Geräten gearbeitet. Zum Einsatz kam dieses neue Gerät erstmals auf dem Reichsparteitag der NSDAP 1938 in Nürnberg, wo innerhalb von 6 Tagen Aufnahmen des Brustraumes von rund 10 500 SS-Männern gemacht werden konnten. Rund 1% dieser aktiven SS-Männer, die bereits ärztliche Tauglichkeitsprüfungen absolviert hatten, erklärten Holfelder und Mitarbeiter als der aktiven Tuberkulose verdächtig.

SS-Standartenführer Prof. Dr. Hans Holfelder war durch den erfolgreich absolvierten ersten Einsatz der neuen Technik der Röntgenreihenuntersuchung motiviert. Ein erweiterter Mitarbeiterkreis und die neue räumliche Mobilität der Röntgeneinrichtung vergrößerten nun die Einsatzbereiche: „Es wurden im Winter 1938/39 einige weitere Versuchsgeräte gebaut, von denen ein Teil dem Verfasser zur Verfügung gestellt wurde, und es wurde aus ausgesuchten SS-Sanitätsmännern ein motorisierter Röntgenzug gebildet, der im Herbst 1938 für Rekrutenuntersuchungen bei Wehrmacht, SS und Arbeitsdienst und danach für größere Reihenuntersuchungen von Gefolgschaften größerer und kleinerer Betriebe im Gau Hessen-Nassau, im Gau Düsseldorf, im Gau Köln-Aachen und im Gau Kurhessen zum Einsatz kam“.[14]

Da das Massenscreening im Unterschied zu der individuell veranlassten Röntgendiagnostik darauf abzielte, möglichst große Gruppen von Menschen, idealerweise die gesamte Bevölkerung, auf die noch unentdeckte Tuberkuloseinfektion hin durchzumustern, musste zur Auswertung des nun in sehr großen Mengen anfallenden Bildmaterials ebenfalls ein neuer Weg gefunden werden. Die Kleinbildaufnahmen des SS-Röntgensturmbanns sichtete im Frankfurter Universitätsröntgeninstitut ein geschultes Team von Ärzten unter dem Leiter der Auswertungsabteilung Dr. Friedrich Berner[15]. Im Falle eines auffälligen Erstbefundes wurde der identifizierte Teilnehmer der Röntgenreihenuntersuchung zur Abklärung der Diagnostik und der eventuellen Einleitung einer Therapie an andere Instanzen vermittelt. Dies konnte der Krankenkassenarzt / Hausarzt in Konsultation mit einem röntgenologischen Facharzt sein, aber da es sich um ein gruppenorientiertes Verfahren handelte, wird der auffällige Erstbefund häufiger an den Arzt der entsprechenden Institution weiter geleitet worden sein: den Betriebsarzt bei sog. „Gefolgschaftsuntersuchungen“, den HJ-Arzt bei Untersuchungen von Einheiten der Hitlerjugend, den Stabsarzt der entsprechenden militärischen Einheit oder auch den Lagerarzt in den Zwangsarbeiter-, Kriegsgefangenen- oder Konzentrationslagern, wenn dort die Röntgenreihenuntersuchung stattgefunden hatte.[16]

Der im Herbst 1938 von Holfelder gegründete „motorisierte Röntgenzug“ mit SS-Sanitätspersonal absolvierte im Sommer 1939 einen mehrwöchigen Großeinsatz bei der Durchleuchtung der gesamten Bevölkerung des Landes Mecklenburg[17]. Bereits in diesem Jahr war die mobile Röntgeneinheit unter der Bezeichnung „Röntgensturmbann SS-Hauptamt“ unterwegs ([Abb. 3]), um „das Röntgenschirmbildverfahren zur Erstellung von Röntgenreihenaufnahmen in den Großkampf gegen die Tuberkulose einzusetzen“[18], so Holfelders Formulierung. Die Röntgenwagen fuhren jedoch nicht nur durch die deutschen Gaue, sondern sie folgten auch der deutschen Wehrmacht auf ihrem Eroberungsfeldzug in den Osten. Dabei ermöglichte die Ausstattung des Röntgenzugs nicht nur die Durchführung der Tuberkulosediagnostik im Röntgenreihenverfahren, sondern das Personal konnte mit der Einrichtung zugleich als Feldröntgentruppe eingesetzt werden.

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Abb. 3: Ein Röntgenzug mit drei Röntgenwagen des Röntgensturmbannes-SS-Hauptamt (Quelle: Der Deutsche Militärarzt 4 (1939), Abb. 1, S. 493, Springer-Verlag).]

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges blieb jedoch das Aufspüren Tuberkuloseverdächtiger der hauptsächliche Einsatzzweck der Einheit, der „seine Anweisungen für diese Aufgaben durch den Reichsgesundheitsführer“ erhalten sollte.[19] Das SS-Führungshauptamt erhöhte 1941 sogar die Höchststärke des nunmehrigen „Röntgen-Sturmbann(s) beim SS-Führungshauptamt“ auf 40 Führer im Sanitätsdienst, 36 Technische und Verwaltungsführer, 108 Unterführer und 663 Männer. Der bestehende Röntgen-Sturmbann in einer Stärke von 4 Führern und 250 Männern sollte in die neue Formation integriert werden, die auch weiterhin von SS-Standartenführer der Allgemeinen SS Prof. Dr. Holfelder / Frankfurt a.M. ([Abb. 4]) geführt wurde. Zugleich wurde die Aufgabe der mobilen Tuberkulosebekämpfung über die Reichsgrenzen hinaus erweitert: „Aufgabe des Röntgensturmbannes beim SS-Führungshauptamt ist, das Deutsche [sic] Volk und andere Völker durch Röntgen-Reihenuntersuchungen nach dem System Prof. Dr. Holfelder – Frankfurt a.M. zu erfassen“[20].

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Abb. 4 Prof. Dr. med. Hans Holfelder (Quelle: Deutsches Röntgenmuseum)
Geb. 22.04.1891 in Noeschenrode, Krs. Grafschaft Wernigerode, Vater war Sanitätsrat
März 1910 Abitur am Gymnasium Wernigerode
Ab Sommersemester 1910 Studium der Medizin an den Universitäten Tübingen, München, Giessen und Marburg
1916 Staatsexamen und Approbation in Marburg
1917 Doktorexamen „summa cum laude“ in Halle
Besondere Forschungsgebiete: Medizinische Strahlenforschung, Röntgendiagnostik und Strahlentherapie
Mai 1923 in Frankfurt/Main habilitiert für Chirurgie und Röntgenologie
01.10.1926 Direktor des neu aufzubauenden strahlentherapeutischen Instituts (Röntgeninstituts der Chirurgischen Universitätsklinik Frankfurt/Main)
26.08.1927 Ernennung zum n.b. a.o. Professor,
16.02.1929 Ernennung o.ö. Professor
1931 Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft
1931 Präsidialmitglied des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung (RAeK)
22.06.1933 Mitglied des Preussischen Landesgesundheitsrates
14.07.1933 Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses des RAeK
Ab Wintersemester 1943/44 Reichsuniversität Posen (Röntgenologie)
1931 Goldene Mackenzie Davidson Medaille der Royal Society of Medicine, London, 1938 Albers-Schönberg-Medaille der Deutschen Röntgengesellschaft.
Ehrenmitgliedschaften: 28.10.1932 Vereinigung deutscher Röntgenologen und Radiologen-C.S.R., 01.07.1933 Nordische Vereinigung Medizischer Radiologen, 1936 Radiologische Gesellschaft in Buenos Aires/Argentinien, 1936 American College of Radiology, Rumänische Gesellschaft für Röntgenologie und Elektromedizin, Korrespondierendes Mitglied der Wiener Gesellschaft für Röntgenkunde und der Italienischen Gesellschaft für medizinische Röntgenologie.
Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg (04.08.1914-06.01.1919), E.K.I und E.K.II, Verwundetenabzeichen in schwarz, Ehrenkreuz der Frontkämpfer, Spange zum E.K.I
März-Dezember 1919 Freikorps Halle, Mitglied des Reichshammerbundes (Nr. 3378), Mitglied des Verbandes gegen die Überhebung des Judentums (Nr. 963), vorübergehend Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei. Seit 1933 Angehöriger der SS (Nr. 101658), Mitglied der NSDAP (Nr. 1592030)
Quellen: Personalakte Prof. Dr. Hans Holfelder, Reichsuniversität Posen (Archiwum Universytet A. Miekiewicza, Poznan/PL, Sygn. 78/354). Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2003, S. 267, und Weiske, Katja: Hans Holfelder - Radiologe in Frankfurt, Nationalsozialist, Gründer des SS-Röntgensturmbanns, in: Benzenhöfer (Hg.) 2010, S. 43-60.

Diese Formulierung deckte auch das Massenscreening der polnischen Bevölkerung auf Tuberkulose im deutsch besetzten Westteil Polens ab, das 1942 stattfand. Der sog. „Warthegau“ diente nicht nur als Durchmarschgebiet der deutschen Wehrmacht auf dem Weg in die Sowjetunion, sondern als früher deutsches Gebiet sollte er bevorzugt erneut von Deutschen besiedelt werden, aber die Tuberkulosesituation wurde als höchst bedrohlich eingeschätzt. An eine Therapie der Tuberkuloseerkrankten nach ihrer Identifizierung „nach dem Verfahren des Professor Dr. Hohlfelder [sic], der mit seinem Röntgensturmbann in diesen Wochen hier im Gau eingesetzt wird“, war nicht gedacht, wie aus einem Schriftwechsel der politisch Verantwortlichen auf Reichs- und Gau-Ebene sehr klar hervorgeht.[21] Unter rund 230000 tuberkulosekranken polnischen Menschen wurden ca. 35000 Offentuberkulöse vermutet, über deren Schicksal Reichsstatthalter Arthur Greiser, Heinrich Himmler und Kurt Blome in seiner Funktion als stellvertretender Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP 1942 verhandelten.

Greiser hatte lange vorgeplant, u. a. im Frühjahr 1942 beim Reichsführer SS nachgefragt, ob dieser Einwände gegen die „Sonderhandlung“ (meint: die Ermordung – G.M.) der schwer tuberkulosekranken Menschen habe, die gerade bei dem jüdischen Bevölkerungsteil durchgeführt werde. Im Herbst 1942 war die Sachlage geklärt: Die Zustimmung Himmlers lag vor, das Einsatzkommando Lange stand bereit, aber nun äußerte Kurt Blome Zweifel, ob der Zeitpunkt – so kurz nach der offiziell verfügten Einstellung der „Euthanasie“-Aktion – klug gewählt sei. Das Ausland, so Blome, beobachte NS-Deutschland scharf und ließe sich keine Gelegenheit zu ‚Gräuelpropaganda’ entgehen. Er plädierte zwar nicht grundsätzlich gegen die Tötung der ‚fremdvölkischen’ polnischen Kranken, fand aber die „Radikallösung“ der Erschiessung aus politisch-taktischen Gründen nicht angemessen. Statt dessen schlug Blome die „Errichtung eines Reservats, so wie man dieses ja auch von den Lepra-Kranken her kennt“, vor[22], wo die ganze Familie des oder der Erkrankten interniert werden solle; die Familienangehörigen könnten dann ihre Kranken bis zum Tode versorgen.

Inwieweit dieser Vorschlag realisiert wurde oder ob die Bekämpfung der Tuberkulose durch eine andere Form der Ermordung der tuberkulosekranken Polen erfolgte, ist noch nicht abschließend untersucht. Gesichert ist jedoch die Tätigkeit des SS-Röntgensturmbanns in einigen der deutsch besetzten Länder Osteuropas. Der wissenschaftlich anerkannte und vielfach ausgezeichnete Prof. Dr. Hans Holfelder starb als SS-Oberführer und Kommandeur des SS-Röntgensturmbanns am 15.12.1944 bei Budapest / Ungarn den Kriegstod. Am 3. Januar 1945 wurde SS-Hauptsturmführer Dr. Weißwange, der frühere Oberarzt Holfelders aus der Frankfurter Universitätsklinik, zu Holfelders Nachfolger als Kommandeur des SS-Röntgensturmbanns ernannt.[23]

Dr. Gabriele Moser
Universität Heidelberg
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Im Neuenheimer Feld 327
69 120 Heidelberg
E-Mail: gabriele.moser@umtal.de

Dieser Beitrag wird in der Zeitschrift Strahlentherapie und Onkologie in englischer Sprache veröffentlicht.

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(Quelle: bpk, Abraham Pisarek)

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1 Blome, Kurt: Die Aufgaben der Röntgenologie im Rahmen der Gesamtarbeit an der Volksgesundheit, in: DAeBl 68 (1938), Nr. 28, S. 491–495, S. 492.


2 Ebd., S. 495.


3 Robert Janker (12. 3. 1894-22. 10. 1964), Röntgenologe. Seit 1928 in Bonn, habilitierte sich 1930, 1933 Lehrauftrag für Röntgen- und Strahlenheilkunde, 1937 eigenes Röntgeninstitut in Bonn, vgl. Zoske, Horst: Janker, Robert, in: Neue Deutsche Biografie 10 (1974), S. 336. Seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP, des NS-Dozentenbundes, der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), vgl. Forsbach, Ralf: Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006, S. 250, Fn. 1027.


4 Blome 1938 (wie Anm. 1), S. 492.


5 Pohlen, Kurt: Die örtliche Gliederung der häufigeren anzeigepflichtigen Krankheiten im Deutschen Reich in den Jahren 1931 bis 1934, in: Reichsgesundheitsblatt 1936, Nr. 15, S. 305–315, S. 312. Die Zahl der Meldung von Tuberkuloseerkrankungen war im Durchschnitt zehnfach so hoch wie die anderer meldepflichtiger Erkrankungen, vgl. Unterleibstyphus oder Ruhr mit je ca. 2 bis 3 von 10. 000 Bewohnern (ebd., S. 311 u. S. 312).


6 Redeker, Franz: Zentrale Lenkung der Röntgen-Reihenuntersuchungen, in: Gesundheitsführung 1939, H. 3, S. 90–98. Mit „Röntgenkataster“ bezeichnet Redeker eine allgemeine Röntgenkartei für die „gesundheitliche Gesamtfürsorge am geschlossenen Volkskörper des ganzen Bezirkes“ (ebd., S. 91).


7 Haag, Friedrich Erhard: Die Tuberkulose als Volkskrankheit, in: MMW 1935, Nr. 35, S. 1389–1391, S. 1392 (Hervorhebung im Original).


8 Ickert, Franz: Asoziale Tuberkulöse, in: Pommersche Wohlfahrtsblätter 15 (1939), Nr. 1, S. 4–7, und Kihn, Berthold: Zur Frage der Unterbringung asozialer Kranker, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst, Ausgabe B 3 (1937/38), S. 415–420.


9 Wolters, Christine: Der Umgang mit therapieverweigernden Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus, in: Gesundheitswesen 70 (2008), S. 55, sowie ausführlich Dies.: Tuberkulose und Menschenversuche im Nationalsozialismus. Das Netzwerk hinter den Tbc-Experimenten im Konzentrationslager Sachsenhausen, Stuttgart 2011.


10 Redeker, Franz: Zentrale Lenkung der Röntgen-Reihenuntersuchungen, in: Gesundheitsführung 1939, H. 3, S. 90–98 , S. 92.


11 Knothe, Werner: Die Röntgenschirmbildphotografie, in: DAeBl. 68 (1938), Nr. 36, S. 593–595, S. 593 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Janker, Robert: Röntgenologie und Volksgesundheit. Die Leuchtschirmphotografie (= Kriegsvorträge der Rhein. Friedr.-Wilh. Univ. Bonn a.Rh. Vortragsreihe: Wissenschaft im Kampf für Deutschland, H. 27), Bonn 1941 (mit zahlreichen Abbildungen).


12 Redeker, Franz: Zentrale Lenkung der Röntgen-Reihenuntersuchungen, in: Gesundheitsführung 1939, H. 3, S. 90–98, S. 93.


13 Holfelder, Hans: Der Volksröntgenkataster in Mecklenburg und seine Bedeutung für die planmäßige Tuberkulosebekämpfung, in: DAeBl 69 (1939), S. 733–736, S. 734.


14 Ebd. Vgl. auch Köhler, Sven: Einsatz und Leistungen der Röntgendiagnostik in Wehrmacht und SS unter besonderer Berücksichtigung des von Prof. Holfelder geleiteten Röntgensturmbannes (Diss. med.), Leipzig 1999.


15 Aus noch ungeklärten Gründen unterbrach SS-Hauptsturmführer Friedrich Berner seine universitäre Karriere als habilitierter Radiologe und übernahm 1941 die ärztliche Leitung der Tötungsanstalt Hadamar. 1943 folgte er Holfelder und seinem SS-Röntgensturmbann zunächst in das besetzte Polen, um dort die Tuberkulosefahndung unter der einheimischen Bevölkerung fortzusetzen. Vgl. jetzt Benzenhöfer, Udo: Friedrich Berner – Radiologe in Frankfurt, leitender Arzt des NS-„Euthanasie“-Zentrums in Hadamar, in: Benzenhöfer, Udo (Hg.), Mengele, Hirt, Holfelder, Berner, von Verschuer, Kranz: Frankfurter Universitätsmediziner der NS-Zeit, Münster 2010, S. 61–78, zu Hadamar vgl. Engler, Melanie: Endstation Hadamar. Die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in der Landesheilanstalt Hadamar (1941–1945), in: Nurinst 6 (2012), S. 93-108.


16 Vgl. Ekhart, W.: Tuberkuloseabwehr bei fremdvölkischen Arbeitern, in: Risak, Erwin (Hg.), Aus dem Aufgabenkreis des Lagerbetriebsarztes (...)(= Schriftenreihe für Arbeits- und Leistungsmedizin, H. 10/12), Stuttgart 1944, S. 73–80; der SS-Röntgensturmbann wird explizit angesprochen (S. 77). Ulrich Herbert berichtet von Röntgenreihenuntersuchungen im KZ Buchenwald im Mai 1944 an 28 402 Häftlingen und dem KZ Dora im Juni 1944 an 11 102 Häftlingen (Herbert, Ulrich (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 183).


17 Als kleines Land eignete sich Mecklenburg offenbar besonders gut für statistische Studien, vgl. auch Blome, Kurt/Carl Hermann Lasch: Krebskrankenstatistik in Mecklenburg. (Referat auf der Tagung der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Krebsbekämpfung“, Karlsruhe, 10. Dezember 1937), in: DAeBl 1938, Nr. 6, S. 95-98.


18 Holfelder, Hans: Der Einsatz des Röntgensturmbann-SS-Hauptamt zur Erstellung eines Volksröntgenkatasters und die Einsatzmöglichkeit der gleichen Truppe als Feldröntgentruppe, in: Der Deutsche Militärarzt 4 (1939), H. 11, 493–495, Hervorhebung im Original.


19 Schreiben des SS-Führungshauptamtes vom 7. 1. 1941. Betr.: Aufstellung eines Röntgen-Sturmbannes (Bundesarchiv, Bestand Reichsführer SS, NS 19/4073, Bl. 54). Bei dem Reichsgesundheitsführer handelte es sich um SS-Obergruppenführer Dr. Leonardo Conti.


20 Ebd.


21 Der Schriftwechsel um die Tötung der eventuell tuberkuloseinfizierten polnischen Staatsangehörigen ist verschiedentlich Gegenstand historischer Forschung gewesen, vgl. besonders Dressen, Willi/Volker Riess: Ausbeutung und Vernichtung. Gesundheitspolitik im Generalgouvernement, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 157–171, sowie Aly, Götz: Tuberkulose und „Euthanasie“, in: Peiffer, Jürgen (Hg.), Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich, Tübingen 1992, S. 131–146. Die Schreiben selbst sind u. a. veröffentlicht in Dörner, Klaus u. a. (Hg.): Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47, München 2000, Mikrofiche 137, Bl. 1206-1220.


22 Dörner u. a. (Hg.), s. Fn. 19, Bl. 1220.


23 Befehl des Reichsführers-SS, betreffend den SS-Röntgensturmbann (Bundesarchiv, Bestand Reichsführer SS, NS 19/170, Bl. 34).




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Abb. 1 Röntgenuntersuchung von HJ-Angehörigen (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-J08974. Foto: Hoffmann, Januar 1944)
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Abb. 3: Ein Röntgenzug mit drei Röntgenwagen des Röntgensturmbannes-SS-Hauptamt (Quelle: Der Deutsche Militärarzt 4 (1939), Abb. 1, S. 493, Springer-Verlag).]
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Abb. 4 Prof. Dr. med. Hans Holfelder (Quelle: Deutsches Röntgenmuseum)
Geb. 22.04.1891 in Noeschenrode, Krs. Grafschaft Wernigerode, Vater war Sanitätsrat
März 1910 Abitur am Gymnasium Wernigerode
Ab Sommersemester 1910 Studium der Medizin an den Universitäten Tübingen, München, Giessen und Marburg
1916 Staatsexamen und Approbation in Marburg
1917 Doktorexamen „summa cum laude“ in Halle
Besondere Forschungsgebiete: Medizinische Strahlenforschung, Röntgendiagnostik und Strahlentherapie
Mai 1923 in Frankfurt/Main habilitiert für Chirurgie und Röntgenologie
01.10.1926 Direktor des neu aufzubauenden strahlentherapeutischen Instituts (Röntgeninstituts der Chirurgischen Universitätsklinik Frankfurt/Main)
26.08.1927 Ernennung zum n.b. a.o. Professor,
16.02.1929 Ernennung o.ö. Professor
1931 Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft
1931 Präsidialmitglied des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung (RAeK)
22.06.1933 Mitglied des Preussischen Landesgesundheitsrates
14.07.1933 Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses des RAeK
Ab Wintersemester 1943/44 Reichsuniversität Posen (Röntgenologie)
1931 Goldene Mackenzie Davidson Medaille der Royal Society of Medicine, London, 1938 Albers-Schönberg-Medaille der Deutschen Röntgengesellschaft.
Ehrenmitgliedschaften: 28.10.1932 Vereinigung deutscher Röntgenologen und Radiologen-C.S.R., 01.07.1933 Nordische Vereinigung Medizischer Radiologen, 1936 Radiologische Gesellschaft in Buenos Aires/Argentinien, 1936 American College of Radiology, Rumänische Gesellschaft für Röntgenologie und Elektromedizin, Korrespondierendes Mitglied der Wiener Gesellschaft für Röntgenkunde und der Italienischen Gesellschaft für medizinische Röntgenologie.
Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg (04.08.1914-06.01.1919), E.K.I und E.K.II, Verwundetenabzeichen in schwarz, Ehrenkreuz der Frontkämpfer, Spange zum E.K.I
März-Dezember 1919 Freikorps Halle, Mitglied des Reichshammerbundes (Nr. 3378), Mitglied des Verbandes gegen die Überhebung des Judentums (Nr. 963), vorübergehend Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei. Seit 1933 Angehöriger der SS (Nr. 101658), Mitglied der NSDAP (Nr. 1592030)
Quellen: Personalakte Prof. Dr. Hans Holfelder, Reichsuniversität Posen (Archiwum Universytet A. Miekiewicza, Poznan/PL, Sygn. 78/354). Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2003, S. 267, und Weiske, Katja: Hans Holfelder - Radiologe in Frankfurt, Nationalsozialist, Gründer des SS-Röntgensturmbanns, in: Benzenhöfer (Hg.) 2010, S. 43-60.
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(Quelle: bpk, Abraham Pisarek)