Wo stehen wir eigentlich in der internationalen Katastrophenhilfe? Fehlende Standards
und mangelnde Koordination behindern nach wie vor die Internationale Hilfe nach Katastrophen.
Mehrere neue Initiativen, dies zu ändern, kommen voran – langsam.
„Jeder schreit nach Koordination, nur will sich keiner koordinieren lassen.“ Das Statement
stammt aus einem Interview mit Bernd Domres in der Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie vom April 2010. Domres schilderte seine Eindrücke von der zum Teil chaotisch fehlallokierten
Arbeit der Rettungs- und Ärzteteams, die nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti
im Januar 2010 unterwegs waren. Eine zentrale Forderung des Chirurgen damals: „Jemand
müsste von Anfang an sicherstellen, dass nur Teams tätig werden, die schon lange im
Vorfeld registriert sind.“
Vier Jahre später knirscht es offenkundig immer noch bei Koordination und Qualität
der Hilfe. Am 08.11.2013 zog Taifun Haiyan eine Schneise der Verwüstung durch die
philippinischen Inseln Leyte und Samar. Mindestens 6000 Todesopfer, 1800 Menschen,
die vermisst waren, an die 4 Millionen zerstörte Häuser – so eine vorläufige Bilanz
Ende 2013 [
1
]. Und keine Geringere als Valerie Ann Amos, die Leiterin von OCHA, des Office for
the Coordination of Humanitarian Affairs der Vereinten Nationen, erklärte nach einem
Besuch in der schwer getroffenen Stadt Tacloban Mitte November 2013, dass die Welt
die Opfer „im Stich gelassen“ habe.
Ein strukturelles Problem besteht offenbar fort: Die immer noch schleppende Koordination
der vielen Helfer. Leisten soll das vor allem OCHA. Allerdings hat diese Einrichtung
des UN-Sekretariats kein Mandat, um wirklich dafür zu sorgen, dass sich alle Helfer
über sie registrieren und koordinieren lassen [
2
].
Auch ein zweites Manko, das auf Haiti sichtbar wurde, scheint nicht wirklich beseitigt:
Mangelhafte Qualität der Arbeit - zumindest mancher Helfer. An die 6000 Amputationen
haben Chirurgen nach Schätzungen von OCHA 2010 nach dem Erdbeben in Haiti ausgeführt.
Die Hälfte davon, zitiert ein Paper des Davoser Global Risk Forums den US-Spezialisten
Anthony Redmond, sei unnötig gewesen.
Die Koordination ist schwierig, die Qualität der Arbeit sehr unterschiedlich. (Bild:
Fotolia / Spidi)
Trotz allem sind eine Reihe von Initiativen vorangekommen, die weltweit neue Standards
und schärfere Regeln für die Medizin im Katastrophenfall einziehen wollen. In wie
weit sie sich durchsetzen lassen oder am Ende nur neue Doppelstrukturen schaffen und
neue Tagungsbände füllen, bleibt abzuwarten.
Neue Standards und schärfere Regeln für Mediziner. Können sie dauerhaft mehr Struktur
schaffen? (Bild: Fotolia / crimso)
WHO setzt Standards
So übernimmt seit 2005 neben OCHA auch die WHO eine Schlüsselrolle für die Hilfskoordination
[
3
]. Ein Schwerpunkt der Diskussionen auf WHO-Ebene sind zur Zeit neue Qualitätskriterien
für die so genannten Foreign Medical Teams (FMT) – jene Hilfsteams aus Ärzten, Pflegern,
Assistenten, die nach Katastrophen in betroffene Regionen einreisen. Bereits im Dezember
2010 skizzierte dafür eine Tagung von WHO und Pan American Health Organisation (PAHO)
in Kuba Grundzüge:
Wer fachlich und logistisch kompetent ist, im Notfall FMT in Krisengebiete zu schicken,
soll sich bei einem zentralen Register anmelden.
Eine UN-Organisation à la WHO oder OCHA würde bei Bedarf nur Organisationen aus diesem
Register anfragen, ob sie ihre FMT entsenden.
Eine Zertifizierung qualitativ guter FMT und internationale Standards für deren Arbeit,
sollen dafür sorgen, nur hochwertige Arbeit bei Katastrophen zuzulassen.
Seit 2013 liegt für die Details der neuen Spielregeln ein Erstentwurf vor. Verfasst
von einer fünfköpfigen FMT-Arbeitsgruppe der WHO um den australischen Katastrophenmediziner
Ian Norton. Das Papier sieht eine Einteilung von FMT in 3 Gruppen mit steigenden Anforderungen
von 1 nach 3. So sollen Typ 1 Teams eine erste Versorgung von Frakturen und Verletzungen
sichern, müssen aber zum Beispiel keine allgemeine Anästhesie und komplexe Chirurgie
anbieten. Ein FMT vom Typ 3 muss in der Lage sein, komplexe Operationen zu leisten
und komplette Lazarettstrukturen für eine Intensivversorgung vorrätig halten [
4
].
Allerdings, an Guidelines für die medizinische Versorgung im Katastrophenfall war
bislang schon kein Mangel. Das FMTKonzept ist vielleicht das umfassendste, aber nicht
das erste seiner Art.
Schon 2003 entwickelten PAHO und WHO Mindestanforderungen an so genannte Foreign Field
Hospitals, die seither aber nach Einschätzung der FMT-Arbeitsgruppe der WHO weitgehend
ignoriert werden [
5
].
Auch WADEM, die World Association for Disaster and Emergency Medicine, arbeitet an
evidenzbasierten Empfehlungen und Standards für die Katastrophenmedizin. Und schon
länger haben manche großen Hilfsorganisationen Kriterien an die Qualität ihrer Arbeit
aufgelegt. Darunter sind die Medicins sans Frontieres, MSF [
6
]. MSF unterhält ein Forschungszentrum für die Auswertung der eigenen Daten [
7
]. Patrick Herard und Francois Boillot von den MSF legten 2012 erste, wenngleich ihrer
Einschätzung nach noch rudimentäre Kriterien zur Entscheidung für oder gegen eine
Amputation in Katastrophensituationen auf [
8
]. Ähnliches versuchte 2011 ein Chirurgenteam auf einem Humanitarian Action Summit
[
9
].
Ein entscheidendes Problem ist das Fehlen einer Institution, die solche Standards
wirklich international durchsetzen könnte. Das zeigt auch das Beispiel von früher
erarbeiteten Standards für Suchtrupps und Rettungsteams.
Von der Arbeit der Ärzte, den FMT, grenzt die Fachwelt die Arbeit von Hilfs- und Suchtrupps
ab, die quasi im Vorfeld nach Verschütteten suchen. Im Fachjargon sind es die Search
and Rescue Teams (SAR).
Unter dem Dach von OCHA hat eine International Search and Rescue Advisory Group (INSARAG)
seit 1991 Qualitätsanforderungen für SAR-Teams und eine klare Hierarchie der Koordination
für den Notfall festgelegt. INSARAG hat bislang 21 SAR-Teams von externen Auditoren
zertifizieren lassen [
10
]. Kernpunkt des Konzepts war, dass just die UN-Organisation OCHA in Abstimmung mit
der Regierung eines betroffenen Landes vor Ort, nach einer Katastrophe einfliegende
SARTeams koordiniert und steuert. Genau das Gleiche sieht jetzt die neue FMT-Arbeitsgruppe
der WHO vor. OCHA soll danach gleich noch die Koordination und Kontrolle der einfliegenden
FMT übernehmen. Damit avancierte allerdings ein System, das auf Haiti schlecht funktionierte,
und das bis heute rein freiwillig bleibt, zum Vorbild für die zukünftige Koordination
von FMT.
Mehr Qualitätskriterien für ein Big Business
Mehr Qualitätskriterien für ein Big Business
Katastrophenhilfe ist mittlerweile Big Business. 17,9 Milliarden US-Dollar an Internationaler
humanitärer Hilfe allein für 2012 bilanziert der aktuelle Report von Global Humanitarian
Assistance [
11
]. Über 200 000 Menschen arbeiten heute in diesem Bereich.
Zugleich ist der Wunsch nach mehr Professionalität in der Branche heute offenbar mehrheitsfähig.
92% der 1366 Teilnehmer an einer Umfrage in der Helfer-Szene, die ein Team um Peter
Walker von der Tufts University in Medford, Massachusetts 2008 unternahm, wünschte
sich eine Professionalisierung der eigenen Tätigkeit. Eine Mehrheit parallel befragter
Hilfsorganisationen wünscht sich Zertifizierungsverfahren für Ausbildungskurse und
generell für die Qualität von Hilfsorganisationen [
12
]. Bei Wachstumsraten von jährlich 6% für humanitäre Hilfsprogramme weltweit, sei
es an der Zeit, weltweite Standards für die Ausbildung eines Humanitarian-Helfers
zu generieren, konstatieren die Autoren. Für die braucht die Branche allerdings vor
allem eins: Mehr Daten. Denn die fehlen bislang oft völlig. Was die Helfer so arbeiten,
bleibt für jegliche Statistik weitgehend im Verborgenen.
Was an Dokumentation über die Medizinische Versorgung nach Katastrophen zu finden
ist, ist „notably poor“, wie Jason Nickerson und Kollegen von University of Ottawa
in einem Review 2012 bilanzierten [
13
].
Daten, Daten, Daten…
Protagonisten von mehr Evidenz in der Katastrophenhilfe und -medizin, darunter Frederick
M. Burkle aus Harvard und Johan von Schreeb vom Karolinska Institute, betonen, dass
deshalb sogar völlig unklar ist, ob der Einsatz von Foreign Medical Teams (FMT) bei
Katastrophen überhaupt nennenswerte positive Effekte hat [
14
].
Das soll sich ändern. Sowohl die FMT Arbeitsgruppe der WHO, wie auch weitere Fachgremien
präsentieren Vorlagen für die Minimaldokumentation, die ein Chirurgenteam unter Katastrophenbedingungen
leisten muss und in Zukunft zwingend leisten soll. Solche Dokumentation muss nicht
Stunden dauern. Die Gruppe um Burkle sieht zwei DIN-A4-Seiten vor. Eine, auf dem die
Mindestangaben zum Patienten, zur Art der OP und zur Anästhesie notiert werden. Eine
zweite Seite mit den täglichen Gesamtzahlen eines Arztteams zu Interventionen. Das
alles bitte sauber an UN-Stellen und lokale Krankenhäuser übergeben, die den Patienten
übernehmen sowie ordentlich archiviert für zukünftige Auswertungen. Vorbei, so die
Autoren, seien die Tage, an denen die gute Absicht ausreichte. Wer helfen will, müsse
zeigen, dass seine Aktionen effektiv sind.
Bernhard Epping
Weitere Informationen zu den Beiträgen Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell finden
Sie im Internet. Die Zahlen, zum Beispiel (1), verweisen auf weiterführende Links,
die Sie ebenfalls im Internet finden.
Zum Weiterlesen
Global Health Initiative an der Brown University:
http://brown.edu/initiatives/globalhealth/about