physiopraxis 2014; 12(03): 18-19
DOI: 10.1055/s-0034-1372542
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Gesund sein ist für jeden anders

Konzepte und Theorien von Gesundheit
Eva Trompetter

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Publikationsdatum:
21. März 2014 (online)

 

Zunehmend mehr Physiotherapeuten arbeiten im Bereich der Gesundheitsförderung. Was sie dabei fördern, ist allerdings nicht so klar, wie es zunächst scheint. Denn jeder Mensch hat eine andere Vorstellung von Gesundheit – abhängig beispielsweise von Alter, Geschlecht und sozialem Status.


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Eva Trompetter

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Eva Trompetter ist Physiotherapeutin, hat Public Health studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Bielefeld. Zudem schreibt sie regelmäßig für physiopraxis.

Jeder einzelne Mensch hat ganz eigene, subjektive Vorstellungen von Gesundheit; jeder ist ein Experte seines Lebens und damit auch seiner Gesundheit und Krankheit. Chronisch kranke Menschen etwa können meistens sehr genau erklären, welche jeweiligen Faktoren ihre Gesundheit verbessern oder verschlechtern.

Physiotherapeuten sind dafür ausgebildet, kranke Menschen zu behandeln. Deshalb sind sie jedoch nicht automatisch auch Experten beim Thema Gesundheit. Denn dieses Thema wird in ihrer Ausbildung nur spärlich unterrichtet – oder gar nicht. Wenn es bei ihrer Arbeit um Gesundheit geht, etwa in der Gesundheitsförderung, müssen Physiotherapeuten daher zwangsläufig auf ihre eigenen subjektiven Vorstellungen dieses Phänomens zurückgreifen – und sind sich oft nicht bewusst, dass sich diese von denen der meisten anderen Menschen, mit denen sie arbeiten, unterscheiden. Menschen akzeptieren Ratschläge von Gesundheitsprofessionellen oftmals jedoch nur dann, wenn sie sie überzeugend finden bzw. wenn sie mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmen [1].

Insofern empfiehlt es sich für Physiotherapeuten, sich zunächst vor Augen zu führen, wie sie selbst Gesundheit definieren und welche Maßnahmen sie – wissentlich oder intuitiv – ergreifen und empfehlen, diese zu fördern [11]. Dann sollten Therapeuten auch erfassen, welche subjektiven Vorstellungen von Gesundheit ihr Gegenüber hat. So erfahren sie mehr über dessen Motive und Handlungen und können unter anderem besser nachvollziehen, warum sich ein Mensch beispielsweise nicht so verhält, wie es aus Expertensicht oder aus einer wissenschaftlichen Perspektive wünschenswert wäre. Berücksichtigen Physiotherapeuten diese subjektiven Vorstellungen und Erfahrungen, fällt es ihnen leichter, sich in die Vorstellungswelt ihrer Patienten einzufühlen und dadurch Präventions- und Versorgungsangebote besser an den Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppe auszurichten.

Meist bedeutet Gesundheit Wohlbefinden

Welche unterschiedlichen Vorstellungen von Gesundheit sind in der Bevölkerung zu finden? Wissenschaftler konnten aufgrund einer Studie in der deutschen Bevölkerung vier Hauptkonzepte ermitteln:

  • > Gesundheit bedeutet Abwesenheit von Krankheit.

  • > Gesundheit bedeutet ein Reservoir an Energie, zum Beispiel Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse.

  • > Gesundheit bedeutet Gleichgewicht oder Wohlbefinden.

  • > Gesundheit bedeutet, funktional leistungsfähig zu sein.

Das erste Hauptkonzept definiert sich ausschließlich über das Fehlen einer Erkrankung oder einer Funktionseinschränkung [2, 4]. Doch der überwiegende Teil der Menschen hat eigenständige, positive Gesundheitskonzepte, die sich nicht ausschließlich durch die Abwesenheit von Krankheit auszeichnen [1]. Eine Studie aus Großbritannien mit einer repräsentativen Stichprobe konnte beispielsweise zeigen, dass nur 13 Prozent der Bevölkerung die eigene Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit versteht. Der überwiegende Teil – 42 Prozent – versteht Gesundheit als Wohlbefinden [5].

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Abb.: Vitaly Maksimchuk/shutterstock.com

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Alter und Geschlecht beeinflussen die Gesundheitsvorstellung

Alter und Geschlecht haben – erwartungsgemäß – einen starken Einfluss auf die eigene Gesundheitsvorstellung: Kindern im Vorschulalter fällt es noch schwer, Gesundheit zu definieren. Sie nehmen diese überwiegend als positiven Zustand wahr, der körperliche Aktivität ermöglicht. Ab dem Grundschulalter erkennen die Kinder dann die Reversibilität von Gesundheit und dass Gesundheit und Krankheit gleichzeitig vorhanden sein können („Mein Bein ist krank“) [6]. Bei Jugendlichen wiederum hat das subjektive (Wohl-)Befinden einen hohen Stellenwert, seelisches Gleichgewicht ist besonders den Mädchen wichtig [7]. Auch im Erwachsenenalter assoziieren Frauen Gesundheit eher mit körperlichem und seelischem Wohlbefinden. Für Männer bedeutet sie hingegen funktionale Leistungsfähigkeit und Abwesenheit von Krankheit. Das „männliche“ Gesundheitskonzept lässt sich auch häufiger bei Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status vorfinden. Sie haben eine eher instrumentelle Vorstellung ihres Körpers und neigen dazu, Beschwerden länger zu ignorieren. Möglicherweise hat die eigene Gesundheit eine geringere Priorität, wenn der Alltag etwa durch psychosoziale Belastungen oder materielle Sorgen beeinflusst ist [4, 8, 9]. Im höheren Alter verbinden beide Geschlechter Gesundheit vor allem damit, wenige Funktionseinschränkungen zu haben [10].

Frauen assoziieren Gesundheit eher mit körperlichem und seelischem Wohlbefinden.

Für Männer bedeutet Gesundheit überwiegend funktionale Leistungsfähigkeit und Abwesenheit von Krankheit. Das gilt auch für einige Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status.

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Abb.: Robert Kneschke/shutterstock.com

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Jeder Mensch sieht seine Gesundheit anders bedroht

Doch nicht nur die Vorstellung davon, was genau Gesundheit bedeutet, variiert innerhalb der Bevölkerung, auch die Meinung darüber, wie sie entsteht bzw. verloren geht. Diese Meinung begründet sich in der Regel auf Lebenserfahrungen und ist dadurch fest in der Persönlichkeit verankert [4].

In der deutschen Bevölkerung konnten Wissenschaftler bisher vier Typen dieser subjektiven Gesundheitstheorien ermitteln:

  • > Risikotheorien

  • > Ressourcentheorien

  • > Ausgleichs- und Balancetheorien

  • > Schicksalstheorien

Risikotheoretiker sehen ihre Gesundheit durch Risiken und Belastungen gefährdet. Externe Risiken, etwa Schadstoffe aus der Umwelt, empfinden sie als nur schlecht kontrollierbar. Risiken, die auf eigenem Verhalten beruhen, sehen sie dagegen prinzipiell als kontrollierbar an.

Ressourcentheoretiker gehen davon aus, dass interne und externe Ressourcen (beispielsweise eine starke Persönlichkeit und vertrauensvolle Beziehungen) die Gesundheit beeinflussen: Je schwächer die Ressourcen eines Einzelnen, desto gefährdeter ist dessen Gesundheitszustand.

Der Meinung von Ausgleichs- und Balancetheoretikern nach ist die Gesundheit zwar durch bestimmte Risiken gefährdet. Sie gehen aber gleichzeitig davon aus, dass es möglich ist, Risiken auszugleichen oder zu kompensieren, etwa durch Entspannung oder Zeit mit der Familie. Zudem sehen sie Gesundheit als herstellbare Balance zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Einflüssen an. Dieses Gleichgewicht ist für sie jedoch labil. Es wird durch äußere Einflüsse (z. B. Konflikte am Arbeitsplatz) gefährdet und muss immer wieder neu hergestellt werden.

Für Schicksalstheoretiker sind die Krankheiten, die ihre Gesundheit bedrohen, vorwiegend in biologischen Alterungsprozessen und schicksalhaften Ereignissen begründet. Sie sehen ihre eigenen Einflussmöglichkeiten auf diese Faktoren als sehr gering an [3].


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Die eigenen Gesundheitsvorstellungen reflektieren

Man geht davon aus, dass sich die subjektiven Gesundheitsvorstellungen von Ärzten, Therapeuten und Pflegenden unmittelbar auf ihre Interaktion mit den Patienten auswirken sowie auf ihre Entscheidungen und Handlungen. Untersuchungen zeigen, dass deutsche Ärzte und Pflegende Gesundheit eher mit körperlichem und seelischem Wohlbefinden verbinden und sie nicht, wie vielleicht erwartet, rein biomedizinisch als Abwesenheit von Krankheit definieren. Pflegende haben darüber hinaus ein Gesundheitskonzept, das auch Unabhängigkeit und Selbstständigkeit einschließt [4, 11].

Wie kontraproduktiv es sein kann, wenn beispielsweise Ärzte ihre eigenen Gesundheitsvorstellungen und als gesundheitsförderlich definierten Verhaltensweisen nicht reflektieren, zeigen Zitate aus einer dieser Studien: „Was ich für mich selbst als gut empfinde, gebe ich auch an die Patienten weiter“, „Sport empfehle ich gar nicht … weil ich auch keinen mache“ [11].


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Abb.: Vitaly Maksimchuk/shutterstock.com
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Abb.: Robert Kneschke/shutterstock.com