Kontra
In den letzten 20 Jahren hat sich die Sicherungsverwahrung (SV) von einem juristischen
Auslaufmodell zu der Maßregel entwickelt, die im Zentrum einer Vielzahl politischer
Aktivitäten und juristischer Diskussionen stand. Parallel dazu ist in Deutschland
die Anzahl der Sicherungsverwahrten von 176 im Jahr 1996 auf 492 Untergebrachte im
Jahr 2013 gestiegen. Die Debatte darüber, was Sicherungsverwahrung ist und wie bzw.
ab wann sie zu begründen sei, hat für die Psychiatrie an Bedeutung gewonnen.
Insofern ist diese Maßregel natürlich ein Thema für die Psychiatrie. Offen ist jedoch,
ob das medizinische Fach der Psychiatrie/Psychotherapie in der Lage ist, die ihr vom
Gesetzgeber auferlegte Rolle auszufüllen:
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011 steht die SV vor einer
grundlegenden Reform, die unmittelbare therapeutische Implikationen hat. Bis dato
war für ihre Anordnung das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit, die vor rückfallgefährdeten,
hochgefährlichen Hangtätern geschützt werden soll, entscheidend. Nun ist in Reaktion
auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus 2010, das die
nachträgliche Aufhebung der bis zum Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten gültigen
Höchstfrist von 10 Jahren als nicht akzeptabel angesehen hat, in großer Eile eine
Intensivierung therapeutischer Ansätze geplant bzw. umgesetzt worden. Das Bundesverfassungsgericht
forderte nämlich, ohne dass dem Urteil entnommen werden kann, dass man sich mit der
therapeutischen Umsetzbarkeit dieser Forderung auseinandergesetzt hätte, ein freiheitsorientiertes
Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung mit klarer therapeutischer Ausrichtung auf
das Ziel, die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr zu minimieren und auf diese
Weise die Dauer der Freiheitsentziehung auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren.
Interessanterweise verlief auch die anschließende politische Ausgestaltung dieses
Gesamtkonzepts ohne Mitwirkung von psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen
Experten, obwohl die DGPPN bereits zu einem frühen Zeitpunkt angeboten hatte, sich
an den erforderlichen Überlegungen zu beteiligen [1].
Somit war die Sicherungsverwahrung im politischen Entscheidungsprozess kein Thema
für die Psychiatrie. Die fehlende Mitwirkung von Therapieexperten hat den juristischen
und politischen Entscheidungsträgern die sachliche und auch realistische Auseinandersetzung
mit dem Adressatenkreis der von ihnen angedachten therapeutischen Bemühungen erspart.
So konnte in der Diskussion außen vor bleiben, dass es sich bei den Sicherungsverwahrten
um in der Regel über 50-jährige Wiederholungs- bzw. Intensivtäter mit Sexual- und/oder
Gewaltdelikten handelt. Bei den Insassen wurden ein früher Beginn kriminellen Handelns,
eine lange Lebenshaftzeit und zahlreiche Vorstrafen vor der Anlasstat festgestellt
[2]
[3]. Insgesamt zeigt sich eine Klientel, die durch ungünstige Milieueinflüsse geprägt
wurde und frühzeitig, letztlich aber auch hartnäckig eine mangelhafte soziale Integration
und robuste delinquente Verhaltensstile gezeigt hat. Zwar ist davon auszugehen, dass
beim weitaus überwiegenden Teil der Sicherungsverwahrten eine psychiatrische Diagnose
gestellt werden kann [2]
[3]. Dabei handelt es sich aber nahezu regelhaft um eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung
und bislang existieren keine hinsichtlich ihrer Wirksamkeit empirisch belegten therapeutischen
Konzepte [4]
[5] zur Behandlung dieser Störung.
Wenn ein Einbezug von Fachexperten wirklich ein Thema gewesen wäre, hätten diese außerdem
mitteilen können, dass die hohe Ausprägung des Merkmals psychopathy [6] bei den Insassen, deren Werte (z. B. 24 bei Basedikis et al. [7]) deutlich über den Werten deutschsprachiger Häftlingsgruppen liegen, für eine eingeschränkte
therapeutische Erreichbarkeit spricht und darüber hinaus auch therapieschädigendes
Verhalten erwarten lässt [8]. Ganz unabhängig davon sind angesichts des fortgeschrittenen Lebensalters und der
langen Haftzeiten der Sicherungsverwahrten auch Einflüsse der Institutionalisierung
zu beachten, die sich negativ auf die Behandlungsmotivation und Behandelbarkeit auswirken
können.
Vor diesem Hintergrund wird das im Urteil des Bundesverfassungsgerichts angedachte
Ideal in der Praxis kaum umsetzbar sein. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die therapeutischen
Bemühungen ins Leere laufen, was Fachleute ohne Weiteres hätten mitteilen können,
wenn denn eine Berücksichtigung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Wissensstandes
ein Thema gewesen wäre. Stattdessen blieb der von Kröber [9] skizzierte Mythos eines therapeutischen Wunderstabs, mit dem Persönlichkeitsstörungen,
sexuelle Deviationen, Dissozialität, Begierden und Verhaltensstörungen geheilt werden
können, intakt. Die Vermutung liegt nahe, dass das so gewollt war, denn bei Konfrontation
mit den Realitäten dieser Maßregel wäre deutlich geworden, dass die Ausführungen des
Bundesverfassungsgerichts allenfalls als Aufforderung angesehen werden können, Behandlungsprogramme
für antisoziale Straftäter zu entwickeln und diese parallel zu ihrer Entwicklung in
der Praxis zu evaluieren. Stattdessen wurde jedoch von medizinischen Laien bei nach
dem gegenwärtigen Wissensstand schwer zu therapierenden Personen eine Hoffnung auf
Besserung bzw. Entlassung geschürt, die vor dem Hintergrund des aktuellen medizinisch-psychotherapeutischen
Sachstands nicht zu begründen ist.
Wenn es wirklich um Entlassung gehen würde, wären weniger psychiatrisch-psychotherapeutische
Interventionen und Therapien wie Tataufarbeitung oder Empathietraining erforderlich,
sondern vielmehr ein intensives Übergangsmanagement [9] bzw. ein therapeutisch begleiteter und gut vorbereiteter bzw. engmaschig überwachter
sozialer Empfangsraum [10]. Dem Gesetzgeber mag mit der Psychiatrisierung der Sicherungsverwahrung die rasche
Schließung einer Sicherheitslücke nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte gelungen sein. Für die unmittelbar Betroffenen, also die zukünftigen
„Patienten“ und ihre „Therapeuten“, dürfte der Weg letztlich aber in eine Sackgasse
führen. Aus Sicht des Autors wurde die Chance auf eine grundlegende Reform des Maßregelvollzugs
in Deutschland vertan. Es steht zu befürchten, dass die Sicherungsverwahrung daher
auch weiterhin ein – allerdings problematisches – Thema für die Psychiatrie bleiben
wird.