Pädiatrie up2date 2015; 10(01): 3-4
DOI: 10.1055/s-0034-1391428
Editorial
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Thomas Baumann
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Publication Date:
02 March 2015 (online)

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Thomas Baumann

Zuviel des Guten!

Eine der wichtigsten Aufgaben unsers Berufes ist die Entdeckung und Behandlung von Krankheiten. Logisch! Das ist einfacher gesagt als getan, es gibt da einige Stolpersteine.

Die diagnostischen Möglichkeiten der modernen Medizin sind immens gewachsen. Auch die therapeutischen. Aber geht es den Klienten heute besser? Zahlen aus vielen Studien lassen vermuten, dass dem nicht so ist. Zwar werden mehr Diagnosen gestellt und vielleicht auch früher, aber die Überlebensrate erhöht sich nicht in gleichem Maße. Ein typisches Beispiel dafür ist die Diskussion über Sinn und Unsinn des Mammografiescreenings. Die modernen Möglichkeiten verleiten zu „Überdiagnosen“ (Overdiagnosis). Dabei werden zwar Abnormitäten diagnostiziert, deren Entdeckung aber für den Klienten kein Gewinn darstellt. Überdiagnosen sollten nicht mit Falschdiagnosen verwechselt werden, führen aber in der Regel gleichwohl zu „Übertherapie“. Wird zum Beispiel bei einem Säugling mit einer Bronchiolitis ein gegen evidenzbasierte Guidelines verstoßendes Röntgenbild veranlasst und da eine „bakterielle“ Pneumonie diagnostiziert und behandelt, ist das eine falsche Diagnose. Wird ihm bei gleichem Röntgenbild eine Atelektase diagnostiziert, eine typische Komplikation einer Bronchiolitis, mag das zwar korrekt sein, das Kind hat aber von dieser Diagnose nichts, da sich die Behandlung nicht ändert! Eine typische Überdiagnose. Wird im Rahmen der Bronchiolitis eine Pulsoxymetrie durchgeführt, die entmutigend ausfällt, verlängert sich die Hospitalisationsdauer um entsprechende Tage und die Kosten nehmen massiv zu, ohne dass das Kind davon etwas hätte. Es gibt auch keine Belege, dass eine Sauerstoffgabe dem Kind irgendetwas nützt!

In der Erwachsenenmedizin hat das Problemfeld schon einige Beachtung gefunden, noch kaum aber in der Kinderheilkunde. Nun ist vor kurzem in Pediatrics ein entsprechender Artikel erschienen. Darin werden einzelne Diagnosen, besser Überdiagnosen, herausgepickt, viele weitere harren noch der Entdeckung und Benennung: ADHD, Aspiration, Bakteriämie, Cholelitiasis, gastroösophagealer Reflux, Nahrungsmittelallergie, Hyperbilirubinämie, Hypercholesetrinämie, Hypoxämie in Bronchiolitis, nächtliche Sättigungsabfälle bei Adenoiden, Schädelfrakturen, Harnwegisinfektionen, vesikuuretraler Reflux, Neuroblastomfrüherkennung und Medium-chain acyl-coenzym A Dehydrogenae-Mangel.

Als Beispiel sei hier der gastroösophageale Reflux erwähnt. In den ersten Lebensmonaten ist dieser eher die Regel als die Ausnahme und verschwindet mit der zunehmenden Vertikalisierung des Säuglings von alleine, ganz gleich welche medizinischen Maßnahmen zu dessen Bekämpfung durchgeführt wurden. Trotzdem werden viele Säuglinge zunehmend mit wirkungslosen Medikamenten, die zum Teil sogar off label verabreicht werden, behandelt!

Überdiagnosen sind deshalb ein Problem, da sie zwar den Aktivismus des engagierten Arztes beweisen, aber den Kindern in vielerlei Hinsicht Schaden zuführen können. Unnötige Untersuchungen, die für die Kinder keine Konsequenzen haben, verletzen diese, sie traumatisieren psychisch und sie machen ein ganzes Familiensystem vulnerabel. „Unser Kind ist krank“! So löst die Diagnose GöR bei Eltern (und Ärzten) den Reflex aus, dass hier Medikamente gegeben werden müssen, um die Störung zu behandeln. Diese werden in der Regel auch verschrieben, obwohl deren Wirksamkeit nicht belegt werden kann! Von den finanziellen Schäden für das Gesundheitswesen ganz zu schweigen. Amerikanischen Zahlen zufolge sind 21 – 47 % der Gesundheitskosten auf Unnötiges zurückzuführen. Auch sind Kollateralschäden zu postulieren, da die unnötige Diagnose eine wichtige Diagnose verschleiern kann, weil dieser keine Beachtung geschenkt wird.

Ein früherer Lehrer von mir hatte eine eigenwillige Qualifizierung für uns Assistenten, die im Rückblick jedoch sehr weise war: Ein schlechter Arzt hat in der Krankengeschichte des Kindes viele Normalbefunde, der gute Arzt nur einen pathologischen Befund. Ersterer „schloss alle möglichen und unmöglichen Diagnosen aus“, letzterer hat zuerst überlegt und nur die Untersuchung veranlasst, die seine Hypothese auch bewies! Heute ob der allgemeinen Verunsicherung junger (und alter) Kollegen wahrscheinlich ein frommer Wunsch: nur das zu diagnostizieren, das dem Kind auch einen Nutzen bringt und den Rest zu vergessen.

In diesem Zusammenhang sei auch an ein Buch erinnert das ebenfalls zur Pflichtlektüre gehört: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Professor Peter C. Gotzsche beschreibt darin kenntnisreich die Machenschaften der Pharmaindustrie, der es offensichtlich mehr um ihren Gewinn als um das Schicksal der Patienten geht. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die traurige Geschichte von „Tamiflu“ erinnert. Sind die Kosten dieses unwirksamen Medikaments je den Staaten zurückbezahlt worden, die im Glauben gelassen wurden, sie bewirken mit der Anschaffung etwas Gutes für ihre Bürger? Wohl kaum!

Um auf meinen Lehrer zurückzukommen: weniger ist praktisch immer mehr! Ein Wahlspruch, den man sich merken und umsetzten sollte. So sei im Sinne von Hipokrates „primum nihil nocere“ auch der nunmehr 10. Jahrgang von Pädup2date erfolgreich und viel gelesen!

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Dr. med. Thomas Baumann
Mitherausgeber der Pädiatrie up2date

(Literatur beim Verfasser)