Einleitung
Die Haut ist uns Menschen vertraut und lieb. Sie ist unser größtes Organ und unsere
Hülle. Sie gibt Form, Aussehen und Individualität. Sie ist etwas Besonderes und beschäftigt
uns Tag und Nacht, übers Jahr hinweg und das ganze Leben lang; auch uns Dermatologen.
Wir sind die Spezialisten für Hautkrankheiten und für die gesunde Haut. Aber die Haut
ist kein isoliertes Organ unseres Körpers, sondern steht in besonderer Verbindung
mit dem Magen-Darm-Trakt, sodass viele Erkrankungen beide Systeme betreffen, jedes
in seiner besonderen Art. Und es wird auch betont, dass die Haut so etwas wie „der
Spiegel der Seele“ sei. Unsere Psychodermatologen haben dies schon mit Erfolg vertieft.
Aber auch die menschliche Kulturgeschichte gibt der Haut eine spezielle Bedeutung,
die des Menschen Leben in vielen Phasen mitprägt. Unser Alltag ist davon nicht frei.
Die Haut, vorwiegend von Tieren, war und ist immer noch Schriftträger; Pergament eben
[1], und sie dient nun dem Menschen als sichtbarer Platz für dauerhafte Symbole. Es
sind dies Bilder oder Schriften, die eingeritzt oder in die Haut gestochen werden,
oft farbig und aussagekräftig. Tätowieren und Tattoos sind altbekannt und bekennen
oft Zugehörigkeit oder Elimination, oder sie sind Ausdrucksformen der persönlichen
Verfassung und der Einstellung des Trägers. Auch individuelle Situationen werden ausgedrückt
sowie Beziehungen und Absichten. Dies ist gut bekannt [2] und nimmt gegenwärtig enorm zu.
Hautgedächtnis als ein neuer, virtueller Speicher
Hautgedächtnis als ein neuer, virtueller Speicher
Die Haut als Schriftträger in all ihren Formen ist nicht das akute Thema. Es beschäftigt
uns zunehmend ein neu zu beobachtendes Phänomen. Unsere Haut wird symbolhaft gebraucht
für allgemeine Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, ja sie muss gar als Metapher für
breiter ausgelegte Beziehungsgeflechte herhalten [3]. Während sich dies bisher vor allem in Sprachwendungen und Gleichnissen bewegte
([Tab. 1]), so wird die Haut neuerdings als virtueller Aufbewahrungsort für besonders wichtige
und dauerhafte Festlegungen aller Art in Anspruch genommen. Was muss nicht alles „unter
die Haut gehen“, in der Haut sitzen bleiben oder in, auf oder unter die Haut gehen,
um dort zu verbleiben und ständig auf uns einzuwirken. Eine neue Art eines als „Hautgedächtnis“
angelegten Speicherorgans, das uns neben dem Gehirn, der Schrift- und Sprachkultur
und neben den digitalen Möglichkeiten neuerdings und in virtueller Form zur Verfügung
steht. Darin werden vor allem Merksätze, Grundgedanken, Gesetzmäßigkeiten und Verpflichtungen
gelagert und dauerhaft zur Verfügung gehalten. Die Haut also ein virtueller Speicher
für Axiome der Zwischenmenschlichkeit? Obwohl dieser auch Gefühle und Regungen einschließt,
verarbeitet er solche kaum. Empathie geht ihm ab. Das ist nicht ganz neu.
Tab. 1
Vielfältige Verwendung von „Haut“ im Sprachgebrauch.
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Metaphorische Sinnsprüche
Mit Haut und Haaren Dünnes Häutchen Dickhäuter Rothaut Eine treue Haut Die geschundene Haut Die teure Haut Haut wie Milch und Honig, oder Blut Auf der faulen Haut liegen
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Haut-Gleichnisse
Haut als Hülle Hautkleid Haut-Gefängnis Hautlandschaft Haut als Botschaft Die Häutung Das Haut-Ich
Mythos Haut
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Und was auch noch
Schinden Skin painting Haut als Installation Body sculpturing Body Art Haut als Gesamt-(Kunst-)Werk
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Gleichsam ein Anfang wurde gemacht durch den hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz
Bauer (1903 – 1968), der verantwortlich war für den Frankfurter Auschwitz-Prozess
1963 – 1965. Er sagte über die menschlichen Grundrechte, „sie sollen nicht auf Pergament,
sondern auf empfindliche menschliche Haut geschrieben werden“ [1]. Dies ist nicht wörtlich als Tattoo gemeint, sondern übertragen. Die menschliche
Haut diene als unverrückbarer Speicher virtueller Art, um grundsätzliche Regeln und
Gesetze unabhängig von Zeit und Ort zu verewigen. Hier ist formal und ausdrücklich
die menschliche Haut erstmals als Speicher für Grundsätzliches postuliert worden.
Seit Mai 2015 werben die Medien mit Schlagzeilen wie „In die Haut geschrieben“ und
ähnlichen Formulierungen für die Europatournee 2015 der singenden Schauspielerin Charlotte
Gainsbourg (geb. 1971) mit allein 10 Auftritten in Deutschland. Bezug wird genommen
auf ein Lied „Beauty Mark“ aus dem Album 5.55 von 2006. Schönheitsfleck eigentlich,
wird das Mal auch als „Leberfleck“ bezeichnet. Nun sind Schönheitsflecken, vor allem
im Gesicht, als Blickfänger seit Jahrhunderten bekannt und werden zuweilen auch als
„Artefakte“ an prominenter Stelle im Gesicht platziert. Sie werden so auf den ersten
Blick [4] zum maßgeblichen Erstaspekt des Gegenübers und sie erhalten dabei gesteigerte Bedeutung.
Das ist nicht neu. Aber hier kommt noch etwas Besonderes hinzu. Der Pigmentfleck wird
wie folgt beschrieben: „dem Herzen ganz nah, von dem Liebsten in die Haut geschrieben“.
Der vorbestehende Schönheitsfleck der Haut wird also vom Liebhaber angesprochen, berührt
und somit markiert. Er wird zur sekundären erogenen Zone und dient der Steigerung
und Verewigung. Ihm wird eine neue Qualität zugesungen. Eine Lokalisation erfolgt
nur insofern, als dass die Nähe zum Herzen angesprochen wird, dem Organ, welchem seit
jeher ein enger Bezug zu Emotionen zukommt.
Auch sei erinnert an den Welthit (1956) von Cole Porter: „I’ve got you under my skin“,
gesungen von Frank Sinatra. Dieser wirkt fortan als musikalische Metapher [5] für die Dauerhaftigkeit persönlicher Beziehungen und von Liebe ([Abb. 1]). Eine Lokalisation erfolgt nicht, was Skeptiker nach der Kapazität der Haut als
Speicherorgan fragen lässt. Diese Frage bleibt unbeantwortet und offen.
Abb. 1 Musikalische Metapher, welche „unter die Haut geht“ und global verstanden wird. ©
2006 Nicolas Bock
Die Wiener Literatin Katrin Bernhardt (geb. 1982) publizierte 2013 einen Lyrikband
„Auf bittere Haut geschrieben“ [6]. Charakteristisch ist, dass sie intensive Gefühle und Regungen persönlicher und
allgemeiner Art so eindringlich angeht, dass diese auf die Haut verewigt gehören.
Die Haut wird dadurch bitter. Der angesprochene Hautspeicher verändert sich also durch
den aufgebrachten Inhalt. Was wir aus der Psychodermatologie kennen, dass psychosomatische
Wechselbeziehungen die Haut verändern. Diese wird glanzlos, trocken, schuppend und
erscheint vorgealtert. Eine wilde Reise in die Abgründe der menschlichen Seele scheint
es zu sein, was die Autorin ihren Lesern auf die Haut presst, mit Anspielungen auf
mediterrane und fernöstliche Erlebniswelten.
Die moderne Oper „Written on Skin“
Die moderne Oper „Written on Skin“
Am 7. Juli 2012 fand in Aix-en-Provence die Uraufführung der modernen Oper „Written
on Skin“ statt, einer Kurzoper (100 Min.) von George Benjamin (geb. in London am 31. 1. 1960)
mit Texten von Martin Crimp (geb. in Dartford, GB, am 14. 2. 1956). Es war auf Anhieb
ein durchschlagender Erfolg. Aufführungen folgen Schlag auf Schlag in London, Tanglewood/USA,
Amsterdam, Toulouse, Florenz, Wien, München, Straßburg, Bonn, Lissabon und 2015 in
Stockholm, Toronto, New York und in St. Gallen [7] ([Abb. 2]).
Abb. 2 Cover von The Opera Lively Guides Vol. 2 von „Written on Skin“ 2015 [8].
Die Oper geht zurück auf eine Erzählung des katalanischen Troubadours Guillem de Cabestany
(1162 – 1312), eine banale, tragische Dreiecksgeschichte. Er gibt sich als Liebhaber
von Seremonda, Frau des Ramon aus, der des Troubadours Herz der untreuen Gattin zum
Mahl anbietet. Nach der Eröffnung der Grausamkeit nimmt sich die Gattin durch Fenstersturz
das Leben. Das Motiv erscheint wiederum im Decamerone von Giovanni Boccaccio als 8. Geschichte
des 2. Tages, sowie, unter anderen, auch in den „Cantos“ von Ezra Pound. Anderseits
finden sich Elemente dazu schon bei Ovid in den „Metamorphosen“ und in der „Medea“
von Euripides.
Die Handlung der Oper [8]: Der Protector, ein Landlord, will seiner 14-jährigen Frau Agnes, die weder schreiben
noch lesen kann, zeigen, was er hat und ist. Dazu engagiert er einen jungen Maler,
Boy genannt, der die Familiengeschichte des Protectors in einem illustrierten Band
darstellen soll. Darin zeichnet er auch „die Frau“, worin Agnes sich selber erkennt
und die sinnliche Kraft erahnt, die sie ausstrahlt. Und sie verführt den Maler. Als
er dies vor dem Hausherrn zu vertuschen versucht, ist Agnes tief verletzt, da „der
Boy“ nicht zu ihr und zum Ehebruch stehen will. Dieser bekennt also und wird vom Protector
getötet. Das Herz serviert der Protector seiner Gattin zum Mahl und deckt den Gräuel
auf. Agnes ist entsetzt und stürzt sich aus dem Fenster zu Tode. Der Engelchor begleitet
das Geschehen und agiert zugleich als Erzähler.
Die Oper ist mehrschichtig angelegt. Zum einen steht sie unter dem mächtigen Titel
der Hautaufschrift. Ehebruch, Verrat und das grässliche Mahl sollen dem Auditorium,
jedem Einzelnen, auf die Haut geschrieben ewig in Erinnerung bleiben. Dies wird aber
nicht dargestellt, sondern auf einem Zwischenmedium, den illustrierten Zeichnungen
eben, im Spiel den Akteuren vermittelt. Die Haut wird nicht gezeigt, nur genannt.
Und so vermittelt die Wucht der Darstellung gleichsam die Allgewalt und Ausschließlichkeit
des erotischen Erlebnisses, wenn Agnes vor dem Todessturz bekennt, dass „weder Gewalt
noch Verbote die Bilder entfernen können, die der Boy ihr auf die Haut gezeichnet
hat“. Und sie bestärkt dies noch durch die Versicherung, „dass der Geschmack des verspiesenen
Herzens ihres Liebhabers ewig ihr im Munde verbleibe“.
Das Hautgedächtnis also als lebenslanger Speicher für tiefgreifende, auch schmerzliche
Ereignisse. Verstärkt wird das Ganze durch die Verknüpfung mit dem Herzen als Metapher
für die Gewalt der Gefühle. Es wird derselbe Weg dargestellt, den die erotische Erregung
in das Hautgedächtnis begeht, und die Annäherung zum Herzen, wie es im Lied von Charlotte
Gainsbourg mit dem in Herzensnähe liegenden Leberflecken besungen wird. Die Intention
und die Richtung sind dieselben, die Intensität allerdings ist verschieden. Die Spannbreite
erotischer Beziehungen wird gleichsam abgesteckt. Die zärtlich-freudige Liebe einerseits
und dann ihre vernichtende Wucht im Konfliktfall.
Tatsache ist, dass ewige Wahrheiten oder elementare Gefühle, um lebenslang zu wirken,
dem virtuellen Speicher „Haut“ zugeschrieben und eingearbeitet werden. Autor und Berichterstatter
erachten solche Geschehnisse also als dermaßen bedeutsam, dass diese den Mitmenschen
und der Nachwelt auf ewig präsent sein sollen. Dazu dient der virtuelle Speicher Haut.
Dem ist eine gewisse Wirksamkeit nicht abzusprechen. Dies betrifft einzelne Personen
im zwischenmenschlichen, dem psycho-sozialen Bereich. Gemeint ist aber auch die gesamte
Menschheit mit den autonomen und ihren selbst gewählten Umgangsformen in Gesellschaft,
Religion, Rechtswesen, Erziehung, Kultur, Wissenschaft und Politik. Die zugesprochene
Wirksamkeit wird anerkannt und findet Anwendung. Darauf ist das Instrument zu beschränken.
Soweit gut und recht.
Über Abgrenzung und Missbrauch
Über Abgrenzung und Missbrauch
Der virtuelle Speicher „Haut“ ist nicht zu verwechseln mit all den Formen der Bemalung,
Zeichnung und Dekoration der Haut, umschrieben oder großflächig, hautbezogen oder
integriert. Gemeint sind nicht die Installationen von Körper und Haut. Bodypainting,
Tattoo, Piercing und dergleichen haben mit dem virtuellen Speicher nichts zu tun.
Sie heben sich davon durch ihren vorwiegend individuellen Charakter auch deutlich
ab [9]
[10]. Allerdings beanspruchen künstlerische Ambitionen an Körper und Haut (Body Art)
neben der individuellen Aussage zuweilen auch allgemeingültige Botschaften zu vermitteln
[11]. Anmaßenderweise wird versucht, diese in die Nähe des virtuellen Speichers „Haut“
zu rücken [12]. Soviel zur Abgrenzung.
Allerdings beobachtet man in den letzten Jahren auch einen drastischen Missbrauch
solcher Zuordnungen. Das Instrument der Haut als virtueller Speicher wird „verwässert“,
indem es für Belanglosigkeiten als kurzfristige Bedeutungszumessung werbemäßig eingesetzt
wird. So ist es absolut fehl am Platz, wenn beispielsweise eine lokale Vorführung
derart angepriesen wird, dass diese dem einzuladenden Besucher „auf ewig“ unter die
Haut gehen werde. So und ähnlich wird, vor allem durch die mediale Werbung, eine Inflation
des virtuellen Speichers Haut betrieben, die groteske Züge annimmt und der jegliche
Glaubwürdigkeit abgeht. Dies ist bedauerlich und gehört unterlassen.
Halten wir fest: Die Ausdeutung eines virtuellen Speichers „Haut“ ist beeindruckend, interessant und
offenbar recht wirksam. Ein bemerkenswertes Phänomen in der kulturellen Entwicklung
und deren Deutung. Terminus und Bedeutung werden allerdings durch Missbrauch geschwächt
und sogar diskriminiert.