Keywords
Mikrobiom - Mikrobiota - Mikrobiologische Therapie - Metagenom - Mikroökologie - Keime
- Bakterien - Darmbesiedelung - Darmbakterien - E.-coli Enterokokken - Laktobazillen
- Bifidobakterien
Die neuere FORSCHUNG zeigt, welche Bedeutung Keime für uns haben.
DIE PHYLOGENETISCHE und ontogenetische Entwicklung aller mehrzelligen Organismen findet
unabdingbar in Koevolution mit Mikroorganismen statt. Im Laufe der Evolution hat der
Mensch mit Mikroben auf seinen äußeren und inneren Oberflächen koexistierende Lebensgemeinschaften
gebildet. Die Gesamtheit der dort nachweisbaren Mikroorganismen stellt die Mikrobiota
des Menschen (synonym für Körperflora) dar. Man findet sie
-
auf den äußeren Oberflächen: Haut, Haaren, Nägeln
-
auf den Kontaktzonen: Konjunktiva, äußeres Ohr, Urethra, äußerer Bereich der Vagina,
Zervix
-
im Respirationstrakt: Nase, Mund, Rachen
-
im Verdauungstrakt: Magen, Dünndarm, Dickdarm
An jedem Standort bilden sich eigenständige Lebensgemeinschaften zwischen Mensch und
Mikroben heraus (Mikrobiozönosen). Besonders intensiv werden das Vorkommen und die
Wirkungsweise von Mikroorganismen im Verdauungstrakt untersucht. Die Summe der im
Magen-Darm-Trakt nachweisbaren lebenden Mikroorganismen (ca.1014 KBE = Koloniebildende Einheiten) wird als Mikrobiota des Gastrointestinaltrakts (synonym
für Darmflora) bezeichnet.
-
Keime galten lange einzig als potenzielle Krankheitserreger, die es zu vernichten
galt. Dabei sind manche, im Darm und auf anderen Körperoberflächen angesiedelte, wichtig
für die Gesundheit.
-
Der Mensch lebt in einer Lebensgemeinschaft mit 100 Billionen Bakterien. Diese bringen
150-mal mehr Gene mit, als der Mensch in seinen eigenen Körperzellen hat.
-
Die Mikrobiota trägt zur Steuerung physiologischer Vorgänge und Aufrechterhaltung
der Gesundheit bei. Sie agiert als Superorgan in Kooperation mit dem Makroorganismus.
Quantensprünge in der mikrobiellen Analytik
Quantensprünge in der mikrobiellen Analytik
Bis in die 1980er-Jahre identifizierten Fachleute und Speziallabors die Mikroorganismen
sowohl qualitativ als auch quantitativ ausschließlich mittels kultureller, biochemischer,
physikochemischer und mikroskopischer (inkl. elektronenmikroskopischer) Techniken.
Die Entwicklung molekularbiologischer Analyseverfahren, v. a. die Einführung der DNA-Sequenzierung,
hat die humanmedizinische mikroökologische Forschung revolutioniert. Mit den sehr
zeitaufwändigen traditionellen Methoden war es über viele Jahrzehnte gelungen, durch
Kultivierung auf geeigneten Nährböden etwa 450 verschiedene Arten von im Magen-Darm-Trakt
lebenden Mikroorganismen zu identifizieren. Heute sind bereits mehr als 1000 Mikroorganismen
bekannt (s. u.), die sich anhand ihrer genetischen Determinanten als eigenständige
Arten der Magen-Darm-Mikrobiota des Menschen differenzieren lassen. Hochrechnungen
zufolge vermuten Experten bis zu etwa 10 000 Mikroorganismen-Arten in unserer Mund-Magen-Darm-Mikrobiota.
Obwohl ca. 80 % davon unbekannte und nicht kultivierbare Bakterien sein dürften, ist
es durch Abgleich von Sequenzähnlichkeiten mit bekannten Genen möglich, Informationen
über Enzyme, Stoffwechselleistungen und ihre Bedeutung innerhalb des mikroökologischen
Systems zu erhalten. Immer ausgeklügeltere Sequenzierungsmethoden, gepaart mit einer
Hochleistungs-Rechentechnik, die den Zeitbedarf für die Identifikation des genetischen
Materials extrem verkürzt, lassen die Forschung dazu boomen.
Das Mikrobiom und sein Metagenom
Das Mikrobiom und sein Metagenom
Nachdem im Jahr 2001 das humane Genom (Gesamtheit aller Gene der körpereigenen Zellen)
mit etwa 22 000 Genen entschlüsselt worden war, wurden 2007/2008 etwa zeitgleich in
den USA das Human Microbiom Project (HMP) und in Europa das Konsortium für Metagenomics
of the Human intestinal tract (MetaHit) initiiert. Es war der US-amerikanische Nobelpreisträger
und Molekularbiologe Joshua Lederberg, der bereits 2001 forderte, das Genom des Menschen
nicht losgelöst von den Genen seiner Mikrobiota zu betrachten.
Abb. 1 Das gastrointestinale Mikrobiom mit seiner Vielzahl an Mikroorganismen greift auf
unterschiedlichsten Ebenen in unseren Stoffwechsel ein. Es unterhält nicht nur Nahrungsmittelunverträglichkeiten,
sondern ist, wie aktuelle Forschungen beweisen, auch an der Entstehung zahlreicher
intestinaler, metabolischer und psychischer Erkrankungen beteiligt. Foto: © Fotolia/T. L. Furrer
Mikroorganismen und ihre Gene
Lederberg prägte den Begriff „Mikrobiom“ für den „anderen Teil des Menschen“, nämlich
für „seine“ Mikroorganismen mit ihren genetischen Ausstattungen und ihren Beziehungen
(z. B. Stoffwechsel, Immunmodulation etc.) zum jeweiligen Standort in unserem Körper.
Damit führte er die ganzheitliche Betrachtungsweise, die seit langem Kernstück der
naturheilkundlichen Forschung und Praxis ist, auch in die schulmedizinischen Fachgebiete
mit mikroökologischem Hintergrund ein. Die erste Komplettanalyse des kollektiven Genoms
aller Mikroorganismen auf und in unserem Körper, des Metagenoms, ergab 3 300 000 Gene
[[11]]. Nach neueren Angaben, bei denen neben Bakterien und Pilzen auch Viren einbezogen
sind, sollen es ca. 8 000 000 Gene sein, d. h. auf 1 humanes Gen kommen mindestens
150, möglicherweise sogar 360 mikrobielle Gene. Diese enorm hohe Gen-Dichte im Mikrobiom
ermöglicht in erheblichem Maße den Austausch von Gen-Substanz, mithin auch den Austausch
funktioneller Eigenschaften [[13]].
Was ist was?
-
Mikrobiota: Gesamtheit aller Mikroorganismen eines definierten Standorts
-
Metagenom: Gesamtheit der Gene und Genome aller Mikroorganismen eines definierten Standorts
-
Mikroökologie: Teilgebiet der Biologie, das sich mit den Beziehungen zwischen und innerhalb der
Mikroorganismen (Lebensgemeinschaften) und der sie umgebenden Außenwelt (Helmut Haenel,
1960) befasst
-
Biom: Lebensgemeinschaft (Biozönose) in einem definierten Lebensraum mit seinen belebten
und unbelebten Faktoren
-
Mikrobiom: funktionelle Einheit aller Mikroorganismen, inkl. des zugehörigen Metagenoms sowie
der Wechselbeziehungen zwischen Mikroorganismen, Metagenom und dem vorherrschenden
Milieu innerhalb eines definierten Standorts (bisher gibt es keinen Konsens für eine
allgemeingültige Definition)
Mikrobiom als Multitalent und Superorgan
Das humane Mikrobiom trägt im großen Umfang zur Steuerung physiologischer Vorgänge
und Aufrechterhaltung der Gesundheit bei. Es sorgt für den Aufbau, die Stabilität
und partiell für die Reparatur einer unspezifischen Barriere zur Abwehr von Infektionskeimen.
Gleichzeitig nimmt es Einfluss auf die Entwicklung und Aktivität des darmassoziierten
Immunsystems. Mit unüberschaubaren metabolischen Aktivitäten (etwa 30 % der Metaboliten
im Blut sind mikrobiellen Ursprungs) ist die Mikrobiota in den humanen Metabolismus
integriert. Beispielhaft sei erwähnt, dass sich das Mikrobiom am Abbau komplexer Polymere
aus der Nahrung beteiligt und dem Wirt zusätzlich Energie, aber auch Vitamine (B12, Folsäure, Biotin, Vitamin K2) zur Verfügung stellt. Mikrobiell gebildete kurzkettige Karbonsäuren fördern die
Durchblutung der Darmschleimhaut (Acetat), haben einen positiven Effekt auf den Cholesterolstoffwechsel
der Leber (Propionat), stabilisieren die Funktion der Kolonozyten bei gleichzeitiger
Verminderung der Entzündungsaktivität (Butyrat) und reduzieren über die pH-Neutralisation
im Dickdarm die Ammoniak-Last (Laktat). Katalasen von Laktobazillen wirken über die
Reduktion oxidativer Radikale detoxifizierend und ermöglichen die Entgiftung von toxischen
oder (pro)kanzerogenen Stoffen exogenen oder endogenen Ursprungs bereits im Darm,
dessen Milieu im Wesentlichen von der Funktion des Mikrobioms bestimmt wird [[14]].
Ein neues Zuhause im Baum des Lebens
Ein neues Zuhause im Baum des Lebens
Das wachsende Bedürfnis, Verwandtschaftsgrade zwischen einzelnen Arten nicht nur an
phänotypischen, also vom Erscheinungsbild geprägten, sondern auch an genotypischen
Merkmalen aufzustellen, hat in den letzten 50 Jahren zur Revision der Systematik geführt.
Auf Basis von rRNA-Genen ließ sich der gesamte „phylogenetische Baum des Lebens“ auf
3 Domänen reduzieren, nämlich die Archaeen (früher Urbakterien), Bakterien (beides
sind Prokaryonten) und Eukaryonten (alle Lebewesen mit einem Zellkern). Vor allem
die Möglichkeit der Gensequenzierung hat die Grundlage für neu entdeckte genetisch
determinierte Verwandtschaften und somit für ein völlig neues Arrangement des taxonomischen
Systems der Mikroorganismen geliefert.
Die Domäne der Bakterien umfasst zurzeit 29 Phyla (Stämme; die verschiedenen Bakteriengattungen,
aus denen sich nach heutigem Verständnis die Mikrobiota des Gastrointestinaltrakts
rekrutiert, finden sich in Tab. 1).
TABELLE 1
Auswahl der für die Mikrobiota des Gastrointestinaltrakts relevanten Gattungen und
die robuste taxonomische Zuordnung zum „phylogenetischen Baum des Lebens“ [modifiziert
nach 4]
|
Domäne
|
Phylum
|
Ordnung
|
Gattung
|
|
Archaeen
|
Euryarchaeota
|
Methanobacteriales
|
Methanobrevibacter
|
|
Bakterien
|
Actinobacteria
|
Bifidobacteriales
|
Bifidobacterium
|
|
Coriobacteriales
|
Coriobacterium + weitere 5 Gattungen
|
|
Bacteroidetes
|
Bacteroidales
|
Bacteroides Prevotella + weitere 2 Gattungen
|
|
Firmicutes
|
Bacillales
|
Staphylococcus
|
|
Clostridiales
|
Blautia Butyrivibrio Clostridium Coprococcus Eubacterium Faecalibacterium Roseburia Ruminococcus + weitere 6 Gattungen
|
|
Erysipelotrichales
|
Coprobacillus Holdemania Catenibacterium
|
|
Lactobacillales
|
Enterococcus Lactobacillus Lactococcus Streptococcus
|
|
Selenomonadales
|
Veillonella + weitere 28 Gattungen
|
|
Fusobacteria
|
Fusobacteriales
|
Fusobacterium
|
|
Proteobacteria
|
Enterobacteriales
|
Escherichia Enterobacter
|
|
Verrucomicrobia
|
Verrucrobiales
|
Akkermannsia
|
|
Eukaryonten
|
Ascomycota
|
Saccharomycetales
|
Candida
|
Im Wesentlichen sind es nur 4 Phyla (Firmicutes, Bacteroidetes, Actinobacteria, Protobacteria),
zu denen Hunderte von Bakterienarten gehören und die mit > 95 % aller mikrobiellen
Zellen das Gros der Darm-Mikrobiota bilden. Den restlichen Anteil (< 5 %) stellen
Mikroorganismen-Arten, die aus den Phyla Fusobacteria, Verrucomicrobia, Euryarcheota
und Ascomycota stammen [[4]].
Bei Analysen zur kompletten fäkalen Mikrobiota, die mittels DNA-Sequenzierung in Proben
von 124 Europäern durchgeführt wurden, fanden sich ca. 1000–1150 unterschiedliche,
kultivierbare und nicht kultivierbare Bakterienarten [[11]]. Mindestens 160 der identifizierten Arten wurden bei jedem Probanden gefunden.
Trotz individueller Unterschiede in der Artenvielfalt scheint jede individuelle Mikrobiota
mit einem „Kern-Mikrobiom“ ausgestattet zu sein, das Störungen des Systems besser
übersteht.
Bei Bakterien und Archaeen ist der Begriff „Phylum“ (deutsch: Stamm) eine hierarchische
Rangstufe unterhalb der Domäne. Keine taxonomische Rangstufe, sondern eine Bezeichnung
für eine Abstammungslinie (Klon) ist die in der Praxis häufig verwendete Bezeichnung
„Bakterienstamm“ (engl.: bacterial strain) innerhalb einer Art. So wird z. B. mit
der Bezeichnung E. coli Stamm Nissle 1917 eine Abgrenzung zu anderen Vertretern derselben
Art E. coli festgelegt.
Das Essen definiert unsere Mikrobiota
Das Essen definiert unsere Mikrobiota
Ein weiteres überraschendes Ergebnis war, dass die Zusammensetzung der Mikrobengemeinschaft
im Darm bestimmten Ordnungsprinzipien zu unterliegen scheint. Demnach ist die Darm-Mikrobiota
(fast) jedes Menschen 3 Clustern mit typischer Bakteriengruppen-Dominanz, den sog.
„Enterotypen“, zuzuordnen. Diese wurden nach der jeweils dominierenden Gattung benannt
(s. Kasten). Die Zuordnung zu einem der 3 Enterotypen scheint unabhängig von Nationalität,
Alter, Geschlecht und Body-Mass-Index zu sein. Allerdings besteht eine enge Assoziation
zum Langzeit-Ernährungsverhalten [[1]], was den seit Langem vermuteten, aber schwer nachweisbaren Einfluss der Ernährung
auf die Darm-Mikrobiota nahelegt.
Dominierende Mikrobengemeinschaften des Darmes
Enterotyp 1 – Bacteroides-Dominanz
-
. Besonderheit: ist spezialisiert auf den Abbau komplexer Kohlenhydrate und (tierischem)
Eiweiß durch Fermentation sowie auf die Synthese von Biotin (Vitamin B5), Vitamin B2, Panthothensäure (Vitamin B7) und Ascorbinsäure (Vitamin C)
-
Bezug zur Ernährung: positive Korrelation zum Fleischverzehr
Enterotyp 2 – Prevotella-Dominanz
-
Besonderheit: ist spezialisiert auf den Abbau von Zucker-Protein-Komplexen aus Muzinen,
Synthese von Folsäure und Vitamin B1
-
Bezug zur Ernährung: positive Korrelation zum Vegetarismus
Enterotyp 3 – Ruminococcus-Dominanz
-
Besonderheit: ist spezialisiert auf den Abbau von Zellulose, Muzinen und desaminierten
Kohlenstoffgerüsten (Zucker), Alkoholen (unter allen untersuchten Proben die am häufigsten
gefundene Konstellation)
-
Bezug zur Ernährung: keine klare Korrelation zu einer Ernährungsform, evtl. Mischkost
Die Annahme, dass der Einfluss auf die Mikrobiota nur über ein Langzeitdiätregime
funktioniert, ist durch aktuelle Untersuchungsergebnisse infrage gestellt [[5]]. In einem Pilotprojekt wurde 10 Mischköstlern (21–33 Jahre alt) entweder eine Diät
tierischer Herkunft (Fleisch, Eier, Käse) oder eine vegetarische Diät (Getreide, Hülsenfrüchte,
Gemüse, Früchte) verabfolgt. Unter der tierischen Kost wurde bereits nach einem Tag
die Anzahl der vorherrschenden galletoleranten Mikroorganismen Alistipe, Bilophila
und Bacteroides weiter erhöht und der Gehalt an Firmicuten (Roseburia, Eubacterium
und Ruminicoccus), die v. a. pflanzliche Polysaccharide degradieren, vermindert. Unter
dem Einfluss der Ernährung änderte sich nicht nur die qualitative und quantitative
Zusammensetzung der Mikrobiota, sondern auch das Mikrobiom mit dem Bezug zu möglichen
gesundheitlichen Konsequenzen. Das fäkale Gallensäureprofil zeigte eine Erhöhung der
Desoxycholsäurekonzentration, die mit der Entstehung von Leberkrebs und chronisch
entzündlichen Darmerkrankungen (CED) assoziiert ist. Zudem wird auch das vermehrte
Auftreten des gallensäuretoleranten Bakteriums Bilophila wadsworthia als Risikomerkmal
für CED angesehen.
Die individuelle Adaptation an bestimmte Ernährungsregime kann ebenfalls über Änderungen
im Mikrobiom gesteuert werden, wie das folgende Beispiel zeigt: Spezielle Kohlenhydrate
in Speisealgen („Nori“) können weder von körpereigenen noch von den üblicherweise
im menschlichen Darm vorkommenden bakteriellen Enzymen aufgespalten werden. Im intestinalen
Mikrobiom von Japanern, die häufig fermentierte Algen verzehren, jedoch nicht bei
Europäern ist kürzlich ein Gen identifiziert worden, das die Biosynthese von Enzymen
zur Verdauung jener Kohlenhydrate kodiert. Dieses „Nori-Gen“ entstammt dem Genom mariner
Bakterien und ist in das Genom von Darmbakterien der o. g. asiatischen Bevölkerungsgruppe
transferiert worden [[7]].
Wie kommt der Mensch zu seiner Mikrobiota?
Wie kommt der Mensch zu seiner Mikrobiota?
Bis vor kurzem bestand die einhellige Lehrmeinung, dass sich der Fetus im Uterus bis
zur Geburt steril entwickelt und die mikrobielle Besiedelung erst während des Geburtsvorgangs
beginnt. Neue wissenschaftliche Daten von zunächst tierexperimentellen und später
auch humanen Untersuchungen legen nahe, dass der Fetus bereits vor der Geburt Kontakt
mit Bakterien der mütterlichen Darm-Mikrobiota hat. Zunächst zeigten tierexperimentelle
Untersuchungen, dass genetisch markierte Darmbakterien, die trächtigen Mäusen oral
verabfolgt wurden, sich nach einem Tag bereits im Mekonium der Feten wiederfanden.
Untersuchungen an Schwangeren und nachfolgend an ihren Neugeborenen ergaben, dass
der mütterliche Lebensstil und die mütterliche Ernährung während der Schwangerschaft
die initiale Grundausstattung der Darm-Mikrobiota ihrer Kinder bestimmen. Das Mekonium
aller untersuchten Kinder (N = 20) war zur Geburt bereits besiedelt: das einer Hälfte
der Kinder mit dominierenden Milchsäurebakterien, das der anderen mit vorherrschenden
Enterobakterien [[6]]. Bei Neugeborenen, die gestillt werden, rekrutiert sich die Mikrobiota über einen
zusätzlichen Weg aus dem Bakterienpool der Mutter. Via Muttermilch erfolgt der Transfer
v. a. obligat anaerob lebender Darmbakterien (z. B. Bifidobakterien) auf den Säugling,
was in den letzten Jahren sowohl über Gen-Sequenzierung als auch kulturell mehrfach
nachgewiesen worden ist. Zwar ist der diskutierte Darm-Brustdrüsen-Weg noch hypothetisch
[[10]], aber mit mehr als 600 nachgewiesenen Bakterienarten enthält die Muttermilch viel
mehr Mikroorganismen als erwartet [[8]]. Die Umstellung vom fakultativen zum strikt anaeroben Mikrobiom erfolgt demnach
viel früher als ursprünglich angenommen [[9]]. Muttermilch liefert außerdem verschiedene Galakto-Oligosaccharide und Aminozucker,
die als „Bakterienfutter“ (Präbiotika) für das Keimzahlwachstum und den Stoffwechsel
v. a von Bifidobakterien wertvoll sind. Bereits zu Beginn des Lebens übernimmt die
Ernährung eine prägende Rolle bei der Genese des individuellen intestinalen Mikrobioms.
Säuglinge, die anstelle der Muttermilch eine Formula-Milch erhalten, entwickeln in
den ersten Wochen und Monaten ihres Lebens eher eine fäulnisbetonte Darm-Mikrobiota
als die säurebetonte Bifidobakterien-Mikrobiota. Die wünschenswerte Artenvielfalt
der Muttermilch ist jedoch eingeschränkt, wenn die Mütter übergewichtig sind, mit
Kaiserschnitt entbunden haben und/oder mit Antibiotika behandelt wurden.
Entwicklung der Darm-Mikrobiota
-
Der erste Kontakt mit Kompartimenten des mütterlichen Mikrobioms findet in utero statt.
-
Der Siedlungsprozess setzt sich unter der Geburt fort.
-
In der Folge bilden sich standortspezifische Partnerschaften (Mikrobiozönosen) zwischen
Makro- und Mikroorganismen heraus.
-
Speziesspezifische Gesetzmäßigkeiten und umweltspezifische Zufälligkeiten (z. B. Herkunft
der Mikroorganismen, Ernährung, Medikamente, Fremdstoffe) bestimmen die mikroökologischen
Beziehungen und den Charakter des Mikrobioms.
Was schadet der Mikrobiota – und uns?
Was schadet der Mikrobiota – und uns?
Die ersten fundierten Erkenntnisse zur Bedeutung der intestinalen Mikrobiota für die
Erhaltung der Gesundheit oder Entstehung von Krankheiten stammen aus Untersuchungen
gegen Ende des 19. Jahrhunderts und sind mit Namen hervorragender Forscherpersönlichkeiten
wie Louis Pasteur, Theodor Escherich, Ilja Metschnikoff, Robert Koch u. a. verbunden.
Als Ursachen für Störungen der Mikroflora des Magen-Darm-Trakts wurden seinerzeit
ausschließlich Infektionen mit pathogenen Mikroorganismen (zunächst nur Bakterien,
später auch Pilze und Viren) dingfest gemacht. Der Freiburger Arzt und Hygieniker
Alfred Nissle beschrieb erstmalig 1916 den „Coli-Antagonismus“ und stellte „die Grundlage
einer neuen ursächlichen Bekämpfung der pathologischen Darmflora“ mit Mikroorganismen
vor.
Antibiotika und weitere Arzneimittel
Die meisten Nebenwirkungen von Antibiotikatherapien äußern sich als gastroenterologische
Beschwerden (am häufigsten Antibiotikaassoziierte Diarrhö), weil nicht nur Pathogene
eliminiert sondern auch physiologische Mikroorganismen der Darm-Mikrobiota geschädigt
werden. Weltweit sind ca. 8 000 antibiotisch wirksame Substanzen im Einsatz, die Jahresproduktion
beläuft sich auf ca.100 000 Tonnen. Antibiotika sind für das gastrointestinale Mikrobiom
„Feind Nr. 1“. Weitere Arzneimittel, wie Medikamente zur Behandlung von Krebs, Schmerzmittel,
Abführmittel oder Kortison, schädigen die Mikrobiota in unterschiedlichem Maße, ebenso
wie Strahlen, Umweltgifte und Lebensmittelzusatzstoffe.
Erkrankungen
Ebenso nehmen diverse Erkrankungen Einfluss auf verschiedene Funktionen des Mikrobioms
(s. Tab. 2).
TABELLE 2
Ursachen für strukturelle und metabolische Veränderungen im intestinalen Mikrobiom
[modifiziert nach 14]
|
Ursachen
|
Beispiele
|
|
Umwelt-Noxen
|
biologische
|
Infektionen Toxine Allergene
|
|
chemische
|
Schwermetalle Herbizide Fungizide Insektizide Desinfektionsmittel
|
|
physikalische
|
energiereiche Strahlung
|
|
Therapeutische Maßnahmen
|
Medikamente
Strahlen
|
Antibiotikatherapie Chemotherapie weitere Medikamente Strahlentherapie Röntgenstrahlen
|
|
chirurgische Eingriffe
|
Teilresektionen blinde Schlingen
|
|
Erkrankungen
|
strukturelle
|
Divertikel Stenosen Karzinome
|
|
systemische
|
metabolische, z. B. Diabetes Immundefekte
|
|
psychosoziale
|
psychische Belastungen emotionale Stressoren
|
|
Nahrung und Ernährung
|
Ernährungsverhalten
|
Fehlernährung (zu fett, zu eiweißreich) extremes Fasten totale parenterale Ernährung
(TEP)
|
|
Lebensmittelzusatzstoffe
|
Farbstoffe Geschmackstoffe Süßstoffe Konservierungsstoffe
|
Einfalt oder Vielfalt?
In der Vergangenheit wurde bei der Suche nach krankheitsbedingten Veränderungen in
der Mikrobiota das Hauptaugenmerk auf einzelne Mikroorganismen (Pathogene oder sog.
Leitkeime) gelegt, die am Krankheitsgeschehen ursächlich oder begleitend beteiligt
sind. Alle für dieses Ziel optimierten mikrobiologisch-kulturellen Methoden erfüllen
auch heute noch ihren Zweck. Allerdings ist den monolytischen Verfahren mit den neuen
hochparallelen Sequenzierungstechniken und 16s-rDNA-basierten Identifikationsverfahren
eine Untersuchungsmaschinerie zur Seite gestellt worden, die in kürzester Zeit nach
Probenahme eine Flut von zusätzlichen Informationen erzeugt. Diese geben Auskunft
über die funktionelle Kapazität aller beteiligten Mikroorganismen und vermitteln anhand
der Identifikation enormer Mengen bakterieller Signaturen einen Eindruck über die
Vielfältigkeit („diversity“) der Mikrobiota.
Zusammengefasst ergibt sich, dass eine große Vielfalt an Mikroorganismen den besten
Schutz vor Störfaktoren bietet und ein „gesundes“ Mikrobiom charakterisiert. Umgekehrt
korreliert eine Verarmung der mikrobiellen Vielfalt des Mikrobioms mit Krankheit.
Merke: Auch mit zunehmendem Lebensalter nimmt der Artenreichtum im Mikrobiom ab.
Neues Krankheitsverständnis, neue Behandlungsoptionen
Neues Krankheitsverständnis, neue Behandlungsoptionen
Es ist bekannt, dass Störungen im Gleichgewicht der gastrointestinalen Mikrobiota
sowohl zu Erkrankungen im Magen-Darm-Trakt als auch zu extraintestinalen Erkrankungen
führen können.
Gastrointestinale Erkrankungen
Enge Korrelationen zu einem gestörten Mikrobiom bestehen bei der Antibiotikaassoziierten
Diarrhö, bei infektiösen Durchfällen und Darmmykosen, beim bakteriellen Überwucherungssyndrom
des Dünndarms (SIBO), bei chronischen Darmerkrankungen (CED: Morbus Crohn, Colitis
ulcerosa, mikroskopische Kolitis), bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten und beim
postinfektiösen Reizdarmsyndrom (PI-RDS).
Schwache Korrelationen bestehen zur chronischen Obstipation, weiteren RDSEntitäten
und zum kolorektalen Karzinom.
Extraintestinale Erkrankungen
Ein gestörtes intestinales Mikrobiom findet sich aber auch bei zahlreichen extraintestinalen
Erkrankungen: bei rekurrierenden Harnwegsinfektionen, rezidivierenden Vulvovaginalmykosen,
enterogenen Arthritiden, reaktiven Arthritiden und Spondylarthritiden; ferner bei
chronischen und allergischen Erkrankungen der Haut und Atemwege (Neurodermitis, Psoriasis,
Urtikaria, Asthma) und bei der hepatischen Enzephalopathie.
Neue Einsichten in die Zusammenhänge zwischen Mikrobiom und Krankheiten hat das umfangreiche
Datenmaterial über die Vielfältigkeit der Mikrobiota inkl. des möglichen Genaustauschs
geliefert. So ist sicher, dass durch Stress verursachte Erkrankungen, Angst und Depressionen,
Multiple Sklerose und Autismus über das Mikrobiom getriggert werden.
Behandlungsoptionen
Die funktionelle Kapazität des gesamten Mikrobioms eröffnet neue Wege zur Therapie
z. B. des metabolischen Syndroms (Adipositas, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen,
Atherosklerose). Die meisten optimistischen Ergebnisse zu diesen Beziehungen stammen
zwar aus Tierversuchen. Nach und nach werden sie jedoch für den Menschen verifiziert.
So ist bei Adipösen der relative Gehalt an Mikroorganismen des Phylums Bakteroidetes
niedriger und der des Phylums Firmicutes höher als bei Normalgewichtigen. Im Mikrobiom
Normalgewichtiger, die eine hochkalorische Diät erhielten, änderte sich rasch das
Verhältnis dieser beiden Phyla zueinander: Der Anteil der Firmicuts stieg, der der
Bacteroidetes sank um 20 %. Gegenläufig veränderte sich das Verhältnis beider Phyla
bei Adipösen, die sich über ein Jahr mit einer energiereduzierten Diät ernährten.
Die Transplantation einer Mikrobiota von morbidadipösen Patienten in normalgewichtige
Mäuse löste bei diesen Adipositas aus [[12]]. Im Mikrobiom Adipöser finden sich höhere Aktivitäten von Glycosidhydrolasen und
Pyruvat-Formiat-Lyasen, was auf eine erhöhte Spaltungs- und Verwertungsaktivität von
Ballaststoffen hinweist. Adipöse erhalten also mehr Energie aus angeblich nicht verwertbaren
Ballaststoffen als Normalgewichtige [[15]].
Therapie mit Bakterien
Das Prinzip, eine gestörte Darm-Mikrobiota durch die Zufuhr lebender physiologischer
Mikroorganismen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, hat bereits eine über 100-jährige
Geschichte. Mutaflor® ist das älteste als Arzneimittel zugelassene Bakterienpräparat mit dem probiotischen
E.-coli-Stamm Nissle 1917. Die Fortschritte der Antibiotika-Forschung in der 2. Hälfte
des vergangenen Jahrhunderts ließen allerdings den therapeutischen Einsatz von Mikroorganismen
in den Hintergrund geraten. Erst das vermehrte Auftreten gegen Antibiotika resistenter
Infektionskeime hat in den 1990er-Jahren zu einer Wiederbelebung der probiotischen
Therapie geführt [[14]]. Jährlich erscheinen weit über 1000 internationale Fachpublikationen zu Wirkmechanismen
und zur Wirksamkeit von Probiotika. Der Aufschwung, den die frühere Darmflora-Forschung
durch die neuen Möglichkeiten der Mikrobiom-Forschung erhält, ist natürlich gekoppelt
mit dem Wunsch nach effizienten, möglichst personalisierten therapeutischen Strategien.
Ausgerechnet eine antiquierte Methode, die aufgeführt ist im Handbuch für medizinische
Notfälle des chinesischen Arztes Ge Hong, der in der Dongjin-Dynastie des 4. Jahrhunderts
lebte, und längst totgesagt ist – nämlich die Transplantation von Fäkalkeimen – genießt
eine Renaissance [[2]]. Die Clostridium-difficile-Diarrhö, die häufigste Form der nosokomialen infektiösen
Enteritis, wird standardmäßig mit den Antibiotika Vancomycin und Metronidazol therapiert.
Rund ein Viertel der Patienten erleidet jedoch ein Rezidiv, was für ältere und multimorbide
Patienten lebensgefährlich sein kann. Im Verlauf der letzten 50 Jahre sind mehrere
Fallbeispiele mit erfolgreicher Therapie durch Stuhlübertragung berichtet worden.
In einer kürzlich publizierten offenen, randomisierten und kontrollierten Studie lag
die Heilungsrate nach Stuhltransplantation bei 93 % (15/16), bei 2 Kontrollgruppen
nach Vancomycintherapie bei 31 % (4/13), bzw. 23 % (3/13) [[16]]. Zurzeit wird weltweit versucht, die Me-thode zu standardisieren, um sie auch für
weitere Indikationen einsetzen zu können. Ein standardisiertes, möglicherweise personalisiertes
Mikrobengemisch mit hoher Diversität könnte der Schlüssel zum Erfolg sein.
Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/s-0034-1396949