Einleitung
Migrationserfahrungen, Migrationshintergrund oder kulturelle Normen sind für die meisten
Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen keine unbekannten Begriffe mehr. Zwar
sind Verständnis und Akzeptanz gestiegen für die Bedeutung soziokultureller Einflussfaktoren
auf die Krankheitsdarbietung, die Krankheitsverarbeitung, für die Diagnostik, die
Therapie und die Prävention, doch in der Praxis scheitert es noch immer an der Umsetzung.
So ist es bislang im klinischen Alltag oft schwierig, die migrations- bzw. kulturspezifischen
Aspekte und deren Stellenwert für die Genese und den Verlauf im Einzelfall adäquat
einzuschätzen.
Sprachbarrieren [31, 50], Unterschiede in der Präsentation von psychischen Beschwerden
[43, 44], Differenzen in der Erwartung bez. Diagnostik und Therapie zwischen Patienten
und Behandler können z. T. schwer überwindbare Hürden im Behandlungsalltag bilden
[69]. Ein Abbau dieser Barrieren mit der Zeit erfordert auch die Aufnahme des Themas
in Aus- und Weiterbildung. In diesem Beitrag werden die Begriffe Migranten bzw. kulturelle
Minderheit verwendet, wenn Menschen mit Migrationshintergrund gemeint sind.
Mensch mit Migrationshintergrund bezeichnet alle Menschen, die „… nach 1949 auf das
heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zuwanderten, sowie alle in Deutschland
geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem
zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil …“ [94].
Migrationsgeschichte
Deutschland entwickelte sich erst seit Mitte der 1950er-Jahre zu einem der wichtigsten
europäischen Einwanderungsländer [20]. Es wurden zunächst „Gastarbeiter“ aus Italien,
später aus Spanien, Portugal, Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien und aus der
Türkei angeworben. Nach 1973, dem Jahr des Anwerbestopps, veränderte sich der Zuzug
von Ausländern. Es folgte der Zuzug von Familienangehörigen, und seit den 1980er-Jahren
kamen zudem Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber sowie deutschstämmige Bürger
der Sowjetunion und später der GUS-Staaten nach Deutschland. Auch die Globalisierung
und die weltweit zunehmende Mobilisierung trugen dazu bei, dass Menschen ihren Lebensmittelpunkt
nach Deutschland verlagerten. 2001 stellte die Regierungskommission zur Zuwanderung
unter Leitung von Rita Süssmuth fest, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden
ist (Süddeutsche Zeitung vom 5.7.2001, S. 8).
Aktuelle statistische Daten
Obwohl die Nachkommen der 1. Generation von Einwanderern größtenteils in Deutschland
geboren sind und selber keine Migrationserfahrung haben, werden sie auch zu Personen
mit Migrationshintergrund gerechnet. Bis 2005 wurde zwischen Deutschen und Ausländern
unterschieden. Erst der Mikrozensus 2005 differenzierte zwischen Personen mit und
ohne Migrationshintergrund (s. o. Definition) [93]. Demnach hatten 2005 18,6 % (15,3
Millionen) der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund, darunter waren 8,9 %
(7,4 Millionen) Ausländer [93]. Der Mikrozensus 2013 zeigte, dass sich der Anteil
an Personen mit Migrationshintergrund auf nun mehr als 20,5 % (16,5 Millionen) der
Gesamtbevölkerung erhöht hat [94]. Personen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt
deutlich jünger als die ohne Migrationshintergrund (35,2 vs. 46,7 Jahre) [94]. Bei
den unter 5-Jährigen haben demnach inzwischen 34,5 % (1 172 000 Personen) einen Migrationshintergrund
[94].
Herkunft der Migranten in Deutschland
-
36,6 % (ca. 5,4 Mio.) aus den 28 Mitgliedsländern der Europäischen Union
-
17,6 % (ca. 2,7 Mio.) aus der Türkei
-
9,6 % (ca. 1,5 Mio.) aus Polen
-
8,8 % (ca. 1,4 Mio.) (Spät-)Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion
-
7,5 % (ca. 1,1 Mio.) aus der Russischen Föderation
-
5,7 % (903 000) aus Kasachstan
-
4,9 % (783 000) aus Italien [94]
Erklärungsmodelle und Behandlungserwartung
Erklärungsmodelle und Behandlungserwartung
Kultureller Kontext
Bei den oben genannten Daten wird schnell deutlich, wie heterogen die „Bevölkerungsgruppe“
der Migranten ist. Es handelt sich um Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern
und Generationen mit verschiedensten Migrationsgeschichten, Bildungsniveaus, Aufenthaltsstatus
und sozialen Lebenswelten.
Kultur. Der Begriff Kultur steht hier für einen Hintergrund aus etablierten und über Generationen
hinweg übernommene Überlieferungen, Wertevorstellungen, Glaubenssätzen und Haltungen.
Als ein Beispiel hierfür sollen die Konzepte von „namus“ und „seref“ genannt werden, die auch in Deutschland unter den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund
weitverbreitet sind [87]. Der Begriff namus beschreibt in diesem Zusammenhang die individuelle sexuelle Integrität einer Frau
[4, 26, 30]. Seref dagegen umschreibt das Ansehen einer Familie innerhalb der Community, das vom Verhalten
aller Familienmitglieder abhängt [82]. Traditionell sollen Töchter und Frauen die
Tugendhaftigkeit und das Ansehen aller Männer innerhalb und außerhalb der Familie
bewahren und die Sitten, Gebräuche und die Reinlichkeit unter der sozialen Kontrolle
der Community leben [40, 41]. Damit werden in diesen Konzepten Frauen für den Erhalt
von namus und seref verantwortlich gemacht.
Individuelle Modifikation. Die Konzepte über namus und seref zählen zu kulturspezifischen Faktoren, die das Denken, Fühlen und Handeln der Betroffenen
beeinflussen [34, 72], sodass der Einzelne sie übernimmt und abhängig von den Kontextfaktoren
wie Lebensraum, Alter, Geschlecht, Religion, Bildung und Akkulturation modifiziert
[25, 72].
Die kulturellen Kontexte befinden sich in einem dynamischen Prozess.
Als Ausdruck eines dynamischen Prozesses kann es durchaus üblich sein, dass innerhalb
einer Gruppe (z. B. in verschiedenen Migrantengenerationen) unterschiedliche Erklärungsmodelle
und Behandlungserwartungen im Hinblick auf körperliche und seelische Erkrankungen
nebeneinander zu finden sind [48, 49, 53, 54, 59]. Diese können je nach kultureller
Entwicklung, persönlichen Erfahrungen und Informationen aus dem sozialen Umfeld oder
den Medien einem ständigen Wandel unterliegen [34].
Cultural Formulation
Im DSM-5 wird mit dem Kapitel über Cultural Formulation unterstrichen, dass es für
die diagnostische Einschätzung und das klinische Vorgehen essenziell ist, den kulturellen
Kontext der Krankheitserfahrung eines Patienten zu verstehen [24]. Als Instrument
wird der Einsatz des Cultural Formulation Interviews (CFI) empfohlen. Das CFI kann
besonders hilfreich sein bei Diagnoseschwierigkeiten aufgrund bedeutsamer Unterschiede
des kulturellen, religiösen oder sozioökonomischen Hintergrunds von Behandler und
Patient. Eine weitere Einsatzmöglichkeit besteht bei Unsicherheiten über die Übereinstimmung
kulturell ausgeprägter Symptome mit diagnostischen Kriterien, bei Schwierigkeiten
in der Beurteilung des Schweregrads oder der Beeinträchtigung durch die Erkrankung.
Auch bei Uneinigkeit über die Behandlung sowie bei begrenzter Motivation und Behandlungsadhärenz
des Patienten kann der Einsatz des CFI hilfreich sein [24].
Im DSM-5 wird das CFI als Diagnoseinstrument bei unterschiedlichem kulturellen Hintergrund
empfohlen.
Cultural Formulation Interview
Im CFI bezieht sich Kultur auf folgende Inhalte:
-
„… Werte, Orientierungen, Wissen und Gebräuche, die Individuen aus ihrer Zugehörigkeit
zu unterschiedlichen sozialen Gruppen ableiten (z. B. ethnische Gruppen, Glaubensgemeinschaften …)
-
Aspekte des Hintergrunds eines Patienten, Entwicklungserfahrungen und aktuelle soziale
Kontexte, die seine Perspektive, wie geografische Herkunft, Migration, Sprache, Religion,
sexuelle Orientierung oder Ethnizität beeinflussen können
-
Einfluss der Familie, Freunde und anderer Community-Mitglieder (soziales Netzwerk
des Patienten) auf die Krankheitserfahrung des Patienten“ [24, S. 1029]
Zugangs- und Inanspruchnahmebarrieren
Zugangs- und Inanspruchnahmebarrieren
In Deutschland stehen nur wenige Studiendaten zur Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer
Angebote durch Migranten zur Verfügung [39, 51, 52, 57]. Gezeigt wurde z. B., dass
psychosomatisch erkrankte Migranten mit spanischem und italienischem Hintergrund häufiger
Unterstützung in der Familie und im sozialen Umfeld suchen, während Personen mit russischem
Hintergrund sich mehr an selbst umzusetzenden Maßnahmen (Hausmittel) orientieren [8].
Zugangsbarrieren. Personen mit russischem und türkischem Hintergrund geben sprachliche Probleme als
wichtiges Hindernis für eine gezielte Inanspruchnahme an. Die Autoren betonen, dass
bei türkeistämmigen Personen die Einschätzung, Fachkräfte wüssten zu wenig über die
türkische Kultur, das wichtigste Hindernis ist. Auch die subjektive Einschätzung der
Deutschkenntnisse und das subjektive Wohlbefinden in Deutschland haben einen Einfluss
auf die Ausprägung der erlebten Hindernisse [7, 8].
Unterschiedliche Aspekte wie fehlende Informationen bezüglich der Versorgungsmöglichkeiten
im deutschen Gesundheitssystem, aufenthaltsrechtliche Faktoren [29], Verständigungsschwierigkeiten
und „kulturelle“ Missverständnisse [32, 34, 69, 71, 84], die den Weg in das Versorgungssystem
verhindern bzw. zumindest verzögern, gelten als weitere Barrieren.
Kulturelle und kommunikative Barrieren können zu Problemen von Unter-, Über- und Fehlversorgung
von Migranten führen [15].
Auch Diskriminierungserfahrungen [39], Stigmatisierung und Scham könnten weitere Ursachen
für eine Unterversorgung, zumindest von einigen Gruppen von Migranten mit psychischen
Störungen, sein [64, 83].
Stationäre Versorgung. Zur stationären Inanspruchnahme führten Schouler-Ocak et al. eine bundesweite repräsentative
Umfrage in 131 psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken durch [84]. Die Autoren
stellten fest, dass 17 % der Patienten der untersuchten Einrichtungen Migranten waren.
Diese Erhebung erfolgte 2006, sodass hier die Daten aus dem Mikrozensus 2005 als Vergleichsdaten
herangezogen werden konnten [93]. 2005 waren 18,6 % der Gesamtbevölkerung Migranten.
Dies scheint dem Anteil der Migranten zu entsprechen, die sich in der stationären
psychiatrischen Behandlung befanden. Bei genauer Auswertung der Daten zeigte sich
jedoch, dass Migranten gerade in den Abteilungen für Psychotherapie/Psychosomatik
(4,5 %), Gerontopsychiatrie (9,2 %) und Kinder- und Jugendpsychiatrie (11,4 %) sowie
Sucht/Reha (11,4 %) unter-, in der Forensik (27,2 %) und der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen
(21,8 %) überrepräsentiert waren [51].
Ambulante psychiatrische Versorgung. In einer bundesweit in psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) durchgeführten Untersuchung
hatten 32,5 % der Patienten einen Migrationshintergrund und erhielten häufiger eine
Diagnose aus dem Bereich der neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen
im Vergleich zu Patienten ohne Migrationshintergrund. Insbesondere Patienten mit türkischem
Migrationshintergrund wurden deutlich häufiger der Diagnosegruppe der affektiven Störungen
(F3) zugeordnet. Die hohe Inanspruchnahme durch Migranten weist darauf hin, dass offenbar
die niederschwelligen und multiprofessionellen Angebote der PIA ihren Bedürfnissen
besser gerecht werden [85].
Interkulturelle Öffnung
Mithilfe der interkulturellen Öffnung soll erreicht werden, dass ein gleichwertiger
und gleichberechtigter Zugang zu Angeboten der Regelversorgung des Gesundheitssystems
sowie eine kultursensible adäquate Diagnostik und Therapie für Migranten gewährleistet
wird. Die interkulturelle Öffnung in Deutschland wurde erstmals von verschiedenen
psychiatrischen Fachgesellschaften in den sog. „Sonnenberger Leitlinien“ zusammengefasst
[61].
Die interkulturelle Öffnung wird von psychiatrischen Fachgesellschaften und auch von
der Politik gefordert [22, 23].
Wie im Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hervorgehoben wird, ist eine nachhaltige
und alltagstaugliche Verbesserung der medizinischen Versorgung von Migranten im ambulanten
und stationären Bereich nur gewährleistet, wenn die Gesundheitsinstitutionen verbindliche
Aktivitäten zur interkulturellen Öffnung entwickeln und diese personell zuordnen [23,
55]. Penka et al. stellen fest, dass das Konzept der interkulturellen Öffnung in die
Organisations-, Personal- und Qualitätsentwicklung von Institutionen einfließen sollte
[70].
Die interkulturelle Öffnung ist eine Leitungsaufgabe und somit eine Top-down-Maßnahme
[23]. Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, die institutionellen Strukturen zu adaptieren
[33].
Nur wenige Studien befassen sich in Deutschland mit dem Stand der interkulturellen
Öffnung. Einheitliche Messinstrumente zur Bestimmung der Umsetzung der interkulturellen
Öffnung liegen nicht vor. Das wohl umfassendste Instrument ist von Penka et al. entwickelt
worden [69].
Nationale Untersuchungen zum Stand der Umsetzung der interkulturellen Öffnung sind
dringend nötig.
Migrations-, Migranten-, Integrationsverantwortliche
Im Integrationsplan wird die Implementierung eines Migrations- oder Integrationsbeauftragten
als ein Schritt zur Umsetzung des Diversity Managements empfohlen [22]. Dieser kann
aus allen Berufsgruppen stammen und dabei helfen, dass die besonderen Bedürfnisse
von Patienten mit Migrationshintergrund berücksichtigt werden und die behandelnden
und pflegenden Mitarbeiter die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung dieser
Patienten leichter bewältigen können [23, 55].
Je nach spezifischer Situation der jeweiligen Einrichtungen, der Patientenstruktur,
dem Versorgungsschwerpunkt und den zur Verfügung stehenden Ressourcen können die konkreten
Aufgabenbereiche des Integrationsbeauftragten wechseln [23, 55]. Folgende Bereiche
fallen in sein Gebiet:
-
Koordination einzelner Maßnahmen
-
Dolmetschersystem
-
Aus-, Fort- und Weiterbildung
-
Öffentlichkeitsarbeit
-
Vernetzung und Durchführung von Beteiligungsprozessen
Für den Integrationsbeauftragten ergibt sich ein breites Aufgabenspektrum.
Der Integrationsbeauftragte sollte in das Qualitätsmanagement eingebettet werden,
damit die vertikale und horizontale Kommunikation und das Monitoring migrationsspezifischer
Daten gewährleistet werden können [23]. Zudem zählen zu seinen Aufgaben die Teilnahme
an Gremien und Arbeitskreisen (z. B. QM-Team), in denen Pläne und Konzepte zur Zukunft
der Einrichtungen entwickelt werden [23, 55]. So können organisatorisch gesicherte
und kontinuierliche Absprachen mit der Betriebsleitung regelmäßig in den Prozess der
interkulturellen Öffnung fließen [55].
Interkulturelle Kompetenz
Pfeiffer beschreibt Kultur als einen „Komplex, der überlieferte Erfahrungen, Vorstellungen
und Werte umfasst sowie gesellschaftliche Ordnung und Verhaltensregeln“ [72, S.10].
Tseng dagegen sieht in der Kultur einen ständigen Veränderungsprozess, in dem die
Kultur das Verhalten der Menschen prägt und gleichzeitig von den Ideen und dem Verhalten
der Mitglieder einer Kultur geformt wird [97]. Kumbruck und Derboven umschreiben Kultur
als etwas, das im sozialen Diskurs um Bedeutungen entsteht, wobei Sinn und Wert von
kulturellen Traditionen, Praktiken und Erfahrungen ausgehandelt werden [56]. Daraus
resultiert die Annahme, dass die interkulturelle Kompetenz eine Komponente der sozialen
Kompetenz ist.
Offenheit und respektvolle Neugier. Grosch und Leenen stellen fest, dass Wahrnehmen, Urteilen und Handeln immer auch
kulturell bedingt sind [28]. Für Oestereich und Hegemann sind Offenheit, Interesse
und respektvolle Neugier auf Ungewohntes die Grundpfeiler interkultureller Kompetenz
[67]. Kirmayer et al. sehen in der interkulturellen Kompetenz die Fähigkeit, mit Sprach-
und Kulturvermittlern arbeiten zu können, Idioms of Distress (kulturspezifische Ausdrucksmuster)
zu erkennen und Krankheitsverständnisse und Behandlungserwartungen der Patienten sowie
das Ausarbeiten kulturell passender Erklärungen und Behandlungsangebote zu beachten
[46].
Die interkulturelle Kompetenz setzt kulturelles Wissen und Kompetenzen wie Umgang
mit Sprach- und Kulturmittlern und eine entsprechende Haltung voraus [74, 88].
Interkulturelle Kompetenz ist dort erforderlich, wenn Behandler und Patient unterschiedliche
kulturelle Hintergründe haben, um den Bedürfnissen des Patienten gerecht werden und
eigene Vorurteile oder Befangenheiten ablegen zu können [12 – 14, 88]. Carpenter-Song
et al. empfehlen, offen zu sein für neue ungewöhnliche Beschwerden und Schilderungen
[29].
Bedeutung für die Bildungssysteme. Mit zunehmender Globalisierung nimmt die Bedeutung der interkulturellen Kompetenz
zu und sollte unbedingt in die Aus-, Fort- und Weiterbildung aller im Gesundheitssystem
Tätigen integriert werden [66]. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der nach Implementierung
fortlaufend unter Monitoring weiterentwickelt werden sollte [47, 88].
Arbeit mit Dolmetschern (Sprach- und Kulturmittlern)
Koch et al. berichten, dass in 12 großen psychiatrisch-psychotherapeutischen stationären
Einrichtungen die multiprofessionellen Behandlerteams angaben, im Kontakt mit Migranten
Verständigungsprobleme zu haben. Diese wurden mit 27 % als sprachgebunden, mit 38 %
als kulturgebunden und mit 44 % als kultur- und sprachgebunden quantifiziert [51].
Offenbar sind Verständigungsprobleme im Behandlungssetting mit Migranten sprach- und
kulturgebunden.
Ohne eine Verständigung ist eine Behandlung nicht möglich. Behandler müssen auch für
Personen mit geringen Kenntnissen der deutschen Sprache eine angemessene Behandlung
gewährleisten. Entsprechend einer Expertise, erstellt im Auftrag des BAMF, liegt der
Anteil von Migranten mit schlechten Deutschkenntnissen bei rund 20 % [63]. In diesem
Zusammenhang sind Kenntnisse im Umgang mit Dolmetschern (Sprach- und Kulturmittlern)
und deren Verfügbarkeit von großer Bedeutung. Dabei kann es sich z. B. um Gemeindedolmetscherdienste
wie in Berlin handeln, es sind aber in größeren Kliniken auch Dolmetscherdienste von
bilingualem Fachpersonal denkbar [5, 55, 105].
Problematisch ist das Hinzuziehen von ungeschultem Personal oder von Angehörigen als
Laien-Übersetzer [23]. Der Einsatz von qualifizierten Sprach- und Kulturmittlern sollte
routinemäßig dann erfolgen, wenn Verständigungsprobleme bestehen.
Die Verständigung bildet das Hauptarbeitsinstrument der Psychiatrie und Psychotherapie.
Eine muttersprachliche Behandlung scheitert in der Regel an einem Mangel an qualifizierten
Muttersprachlern und an Sprach- und Kulturmittlern. Erschwert wird die Situation auch
dadurch, dass ausländische Ärzte deutliche Schwierigkeiten haben, eine außerhalb Deutschlands
erworbene Berufserlaubnis anerkennen zu lassen [23]. Das DGPPN-Positionspapier fordert,
dass Leitfäden für den professionellen Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern nicht
nur von professionellen Dolmetschern, sondern auch von den Professionellen im Gesundheitssystem
verinnerlicht werden [16, 23]. Dadurch können Missverständnisse vermieden und die
Möglichkeiten einer dolmetschergestützten Diagnostik und Behandlung genutzt werden
[16, 65].
Epidemiologische Aspekte und Besonderheiten psychiatrischer Störungsbilder bei Migranten
Epidemiologische Aspekte und Besonderheiten psychiatrischer Störungsbilder bei Migranten
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern liegt in Deutschland bisher nur eine
kleine Zahl an bevölkerungsbezogenen epidemiologischen Untersuchungen zum Auftreten
und Verlauf von psychiatrischen Störungen in verschiedenen Migrantengruppen bzw. kulturellen
Minderheiten vor [6]. Die wenigen bevölkerungsbezogenen Daten stammen sonst aus Untersuchungen,
deren eigentliches Ziel nicht die Erfassung von Prävalenzen und Inzidenzen psychiatrischer
Diagnosen in Migrantengruppen war, sondern die Variablen zur nationalen oder kulturellen
Herkunft der Probanden erfassten und somit eine zusätzliche Auswertung nach Migrationshintergrund
erlauben [2, 3, 6, 27]. Die gezielte Untersuchung von Kindern und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund war und ist jedoch Ziel der Kinder- und Jugendgesundheitssurveys
(KiGGS) [78]. Eine Darstellung zu den Störungsgruppen, zu denen bislang die meisten
Informationen vorliegen, erfolgt unten.
Bislang liegen Prävalenz und Inzidenzdaten v. a. für affektive Störungen und psychotische
Störungen vor.
Abhängigkeitserkrankungen (ICD-10: F1)
Bevölkerungsrepräsentative Daten zu Abhängigkeitserkrankungen bzw. schädlichem Konsum
von Alkohol und psychotropen Substanzen in Migrantengruppen fehlen für Deutschland
bislang weitgehend [76]. Es wird angenommen, dass insbesondere Menschen mit türkischem
und russischem Migrationshintergrund besonders von Abhängigkeitserkrankungen betroffen
sind [102].
In den vergangenen Jahren beschäftigten sich jedoch zunehmend mehr Studien in Deutschland
mit dieser Thematik in Migrantengruppen. So zeigte z. B. eine Analyse von Daten der
Deutschen Suchthilfestatistik des Instituts für Therapieforschung München (IFT) der
Jahre 2002 – 2012, dass Männer mit Migrationshintergrund entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil
in der ambulanten Suchthilfe vertreten waren, Frauen mit Migrationshintergrund, mit
Ausnahme der Kokainabhängigkeit, jedoch unterrepräsentiert waren. Des Weiteren waren
Männer mit Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert, wenn sie eine der folgenden
Diagnosen aufwiesen: Cannabismissbrauch, Opioidabhängigkeit, Kokainabhängigkeit und
pathologisches Spielen. Insgesamt waren Personen mit eigener Migrationserfahrung allerdings
unterrepräsentiert [79]. Eine von Weilandt et al. bislang unveröffentlichte Untersuchung
zeigte, dass im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen männliche nicht deutsche Staatsangehörige
häufiger wegen den Konsumfolgen von psychotropen Substanzen stationäre Rehabilitationsangebote
wahrnahmen als wegen Alkoholabhängigkeit [104]. Frauen mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit
nahmen dagegen allgemein seltener als deutsche Frauen Rehabilitation in Anspruch [104].
Schizophrenie und wahnhafte Störungen (ICD-10: F2)
Eine von Schouler-Ocak et al. durchgeführte deutschlandweite Erhebung der stationär-psychiatrischen
Versorgung zeigte, dass insbesondere schizophrene Psychosen und wahnhafte Störungen
häufiger bei Migranten diagnostiziert wurden [84]. Gleichzeitig berichteten die Autoren,
dass viele der befragten Institutionen häufige Kommunikationsschwierigkeiten, wie
z. B. Sprachbarrieren, angaben, durch die die Einschätzung der Symptomatik teilweise
erschwert oder beeinträchtigt sein könnte. Daten aus bevölkerungsbezogenen epidemiologischen
Studien zu Migranten in diesem Bereich fehlen in Deutschland fast gänzlich, jedoch
sprechen die Ergebnisse von einigen internationalen Untersuchungen aus den Niederlanden,
Großbritannien oder Dänemark dafür, dass Migranten, insbesondere der 2. Generation
bzw. Personen, die sehr früh migriert sind, unter einem größeren Risiko für das Auftreten
einer psychotischen Störung stehen [42, 64, 90, 98 – 100].
Affektive und somatoforme Störungen, Angsterkrankungen (ICD-10: F3 & F4)
Bevölkerungsrepräsentative Studien. Bislang liegen zu dieser Diagnosegruppe die meisten Daten sowohl aus der Allgemeinbevölkerung
(s. o.) als auch aus der ambulanten und stationär-psychiatrischen Versorgung vor.
So fanden Bermejo et al. in einer Folgeauswertung des Bundesgesundheitssurveys aus
den Jahren 1998 /99 bei Migranten eine höhere 4-Wochen-, 12-Monats- sowie Lebenszeitprävalenz
bei affektiven und somatoformen Störungen [6]. Einschränkend muss jedoch erwähnt werden,
dass die Untersuchung nicht speziell den Einschluss von Migranten zum Ziel hatte und
keine Unterscheidung nach Migrationshintergrund erfolgte, sondern nur unterschieden
wurde zwischen nicht in Deutschland geborenen Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft
und Personen, die in Deutschland geboren wurden und die deutsche Staatsbürgerschaft
besaßen [6].
Eine weitere bevölkerungsrepräsentative Studie von Glaesmer et al. untersuchte die
Frage der Häufigkeit einzelner psychiatrischer Störungen bei Migranten in Deutschland
und fand im Gegensatz zu Bermejo et al. keinen Unterschied zwischen Migranten und
Nichtmigranten in der 2- bzw. 4-Wochen-Prävalenz depressiver und somatoformer Symptome
(2-Wochen-Prävalenz), bei generalisierter Angstsymptomatik und posttraumatischen Belastungsstörungen
(PTBS) [6, 27]. Auch diese Studie richtete sich nicht spezifisch an Migranten. Zudem
bestand keine deutsche Vergleichsgruppe. Eine Unterscheidung nach Migrationshintergrund
erfolgte ebenfalls nicht. Die Bestimmung der Prävalenzen erfolgte im Gegensatz zu
der erstgenannten Studie mittels Screeninginstrumenten [27].
Depression. Aichberger et al. fanden in einer Auswertung der deutschen Daten einer bevölkerungsrepräsentativen
Untersuchung zu Gesundheit, Altern und sozioökonomischer Lage älterer Menschen in
Europa (Survey of Health, Ageing, and Retirement – SHARE) bei Migranten (in diesem
Fall nur Personen mit eigener Migrationserfahrung) eine höhere Prävalenz depressiver
Symptome (28 vs. 19 %) als bei Nichtmigranten [2]. Auch in dieser Studie erfolgte
keine gezielte Rekrutierung von Migranten und die Bestimmung depressiver Symptome
mittels eines Screeninginstruments.
Viele Studien befassen sich nicht explizit mit der Migrantenpopulation.
Versorgungsstudien. In Zusammenschau lassen die Ergebnisse der aufgeführten Studien keine eindeutigen
Rückschlüsse zu, jedoch weisen Studien aus dem klinischen Versorgungsalltag eher darauf
hin, dass Migranten in Deutschland häufiger eine affektive oder somatoforme Diagnose
erhalten [6]. So fanden Schouler-Ocak et al. in einer bundesweiten Erhebung zur Versorgungssituation
von Migranten in Psychiatrischen Institutsambulanzen, dass insbesondere türkeistämmige
Migranten deutlich häufiger die Diagnose einer affektiven Störung erhielten [85].
Metaanalyse. Eine Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Auftreten affektiver
Störungen kam zum Schluss, dass aufgrund der aktuellen Datenlage bis auf den Verdacht,
dass Migranten ein höheres Risiko für bipolare Störungen aufweisen könnten, eine abschließende
Aussage zu weiteren affektiven Störungsbildern zurzeit nicht möglich ist [95].
Suizid und Suizidversuche
Eine Reihe von Untersuchungen in verschiedenen europäischen Ländern hat in den letzten
20 Jahren auf erhöhte Suizidversuchs- und Suizidraten in manchen Migrantengruppen
hingewiesen [37]. Insbesondere Mädchen und junge Frauen (15 – 24 Jahre) zeigen ein
erhöhtes Risiko [17, 18]. Daten aus Deutschland weisen einerseits auf eine erhöhte
Suizidrate bei 10- bis 17-jährigen türkeistämmigen Mädchen hin und andererseits auf
erhöhte Suizidversuchsraten bei russischen, türkischen und polnischen Migranten und
Migrantinnen [60, 75].
Beschwerdepräsentation
Neben der Frage nach Prävalenz, Inzidenz und dem Verlauf der einzelnen Störungen ist
für den klinischen Alltag die Frage nach Besonderheiten der Symptompräsentation bei
Migranten von wesentlicher Bedeutung. Mehrheitlich fanden Untersuchungen, dass insbesondere
die initiale Darbietung von Beschwerden durch kulturelle Aspekte überlagert bzw. beeinflusst
wird [44, 45], aber dass bei gezielter Befragung keine relevanten Unterschiede bestehen
[92]. Dass die Kultur eine wichtige Rolle für die Beschwerdepräsentation im diagnostischen
und therapeutischen Prozess spielt, wird in zahlreichen Publikationen berichtet [12 – 14].
Belastungs- und Schutzfaktoren
Belastungs- und Schutzfaktoren
Eine Vielzahl von migrationsspezifischen Faktoren (z. B. ob eine Person selbst migriert
ist, unter welchen Bedingungen und mit welchen Motiven) aber auch allgemeinen sozialen
Faktoren (z. B. unter welchen sozialen Rahmenbedingungen jemand aufgewachsen ist)
können gemeinsam mit individuellen biologischen Risiken zu einer Prädisposition für
die Entwicklung psychiatrischer Störungen bei Migranten führen. Während unbestritten
ist, dass die individuellen biologischen, insbesondere genetischen Risiken, sich zwischen
Migranten und Nichtmigranten nicht wesentlich unterscheiden, könnten soziale Risiko-
und Belastungsfaktoren in verschiedenen Migrantengruppen unterschiedlich verteilt
sein [12, 36].
Migrationsspezifische Faktoren
Traumatische Erfahrungen vor oder während der Migration
Zu den bedeutsamsten Belastungen bei Migranten mit eigener Migrationserfahrung zählen
sicherlich traumatische Erfahrungen im Rahmen der Migration. Migranten mit Erfahrung
von Flucht vor bewaffneter Auseinandersetzung im Rahmen von (Bürger-)Kriegen haben
ein besonderes Risiko für das Auftreten von vorübergehenden, aber auch chronischen
psychiatrischen Beschwerden [1]. So fanden Lindert et al. in einer Metanalyse von
Studien zu depressiven Störungen und Angsterkrankungen bei Arbeitsmigranten und Flüchtlingen,
dass Flüchtlinge eine doppelt so hohe Prävalenz bei depressiven Störungen sowie Angsterkrankungen
aufwiesen (20 % vs. 44 % und 21 % vs. 40 %) [58]. Zudem weisen Studien darauf hin,
dass die Rate der Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei Flüchtlingen und
Asylbewerbern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das 10-Fache erhöht ist [21].
Akkulturation und akkulturativer Stress
Das Ankommen in einer neuen Gesellschaft, in einem neuen Land, erfordert eine hohe
Anpassungsleistung von den ankommenden Menschen. Die sozialen und v. a. psychischen
Belastungen, die spezifisch mit dieser Phase der Migration in Verbindung gebracht
stehen, werden unter dem Begriff akkulturativer Stress zusammengefasst [10].
Akkulturation, der gegenseitige Austausch von kulturellen Normen und Traditionen von
miteinander in stetigen Kontakt tretenden Personengruppen unterschiedlicher Kulturen,
umfasst nach Berry 2 Dimensionen:
In Abhängigkeit von der Nähe bzw. Ähnlichkeit von Verhaltensweisen und Werten können
4 sog. Akkulturationsstrategien abgeleitet werden [103]. Hier handelt es sich nicht
um statische Strategien, sie sind immer wieder einer dynamischen Veränderung je nach
Einflussfaktoren unterworfen [34]. Von den Akkulturationsstrategien wird zumeist die
Marginalisierung mit höheren Raten von psychischer Belastung bzw. geringerer psychischer
Gesundheit in Zusammenhang gebracht [11, 81].
Die 4 Akkulturationsstrategien
Integriert: Individuum teilt sowohl das kulturelle Normsystem der Ursprungs- als auch der neuen
Kultur
Separiert: Individuum hat keine oder kaum Aspekte des Normsystems der neuen Kultur übernommen
Marginalisiert: Individuum ist sowohl von der Ursprungs- als auch von der neuen Kultur ausgegrenzt
Assimiliert: Individuum hat kulturelles Normsystem der neuen Kultur angenommen und teilt kaum
oder keine Aspekte des Normsystems der Ursprungskultur mehr
nach Berry [10, 11]
Ethnische Diskriminierung und Rassismus
Zahlreiche Befunde sprechen dafür, dass sich rassistisch motivierte Diskriminierung
negativ auf körperliche und psychische Gesundheit auswirkt [35, 68, 98, 106]. Eine
Vielzahl an Befunden bestätigt die gesundheitsbeeinträchtigenden Effekte in unterschiedlichen
ethnischen Minderheiten bzw. Migrantengruppen [68]. In einer von Igel et al. in Deutschland
durchgeführten Untersuchung berichteten 43,4 % der Migranten unabhängig vom Migrationshintergrund
von häufigen Diskriminierungserfahrungen [39]. Die Autoren konnten außerdem in der
Gruppe der GUS-stämmigen Migranten einen Zusammenhang mit seelischer Gesundheit zeigen.
Aufenthaltsstatus und rechtliche Rahmenbedingungen bei der Einwanderung
Einige Untersuchungen konnten zeigen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der
Einbürgerung, die Dauer bis zur Bewilligung eines Aufenthaltsstatus sowie die Art
des Aufenthaltstitels die psychische Belastung von Migranten verstärken können [73].
Verlust sozialer Netzwerke
Gerade für Migranten mit eigener Migrationserfahrung, die ihre Heimat und oft Teile
ihrer Familie zurücklassen mussten, kann der Verlust der gewohnten sozialen Netzwerke
und damit von sozialer Unterstützung ein starker Belastungsfaktor sein [91, 96]. Insbesondere
Flüchtlinge, die meist keinen Abschied von Familie und Freunden nehmen konnten, können
hierdurch v. a. zu Beginn deutlich mehr belastet sein. Auch in der Aufnahmegesellschaft
sind offenbar soziale Faktoren der Migration und ihre Folgen wie Partizipation versus
Ausschließung entscheidend für die Prävalenz z. B. psychotischer Erkrankungen [36].
Präventive Angebote für Migranten
Präventive Angebote für Migranten
Bisher ist die Zahl der spezifisch für bestimmte Migrantengruppen zugeschnittenen
Präventionsangebote im Feld der Psychiatrie relativ gering.
MIMI-Projekt. An prominentester Stelle ist das MIMI-Projekt (Mit Migranten für Migranten) zu nennen,
das vom Ethno-Medizinischen Zentrum e. V. in Hannover entwickelt wurde. Das Projekt
verbessert mittlerweile in verschiedenen deutschen Städten gesundheitsbezogenes Verhalten
bei Migranten durch Schulungen von Schlüsselpersonen aus derselben Migranten-Community
[107].
ISH-Projekt. Ein anderes Beispiel für ein Präventionsprogramm ist das ISH-Projekt (Interkulturelle
Suchtprävention und Beratung), das muttersprachliche und kulturspezifische Aufklärungsangebote
zu Drogen bereitstellt und ebenfalls Schlüsselpersonen (muttersprachliche Suchtpräventionsberater)
einsetzt [107].
SPIMig-Projekt. Mit dem Thema suizidalen Verhaltens und der Verbesserung der Inanspruchnahme von
Krisenhilfe im Rahmen von (suizidalen) Krisen beschäftigte sich das SPIMig-Projekt
(Suizidprävention bei Berliner Frauen mit türkischem Migrationshintergrund) in Berlin,
das neben einer bevölkerungsbezogenen Aufklärungskampagne eine muttersprachliche Krisenhotline
und Schlüsselpersonen aus der Community mit gutem Kontakt zur Zielgruppe, die speziell
dafür geschult wurden, einsetzte [86].
PRÄALMI-Projekt. Bei dem Projekt „Primärprävention alkoholbezogener Störungen bei älteren Migrantinnen
und Migranten – Entwicklung und Evaluation eines transkulturellen Präventionskonzeptes“
(PRÄALMI) werden kulturelle Normen und Werte, migrationsbezogene Faktoren, spezifische
Zugangsbarrieren im Suchthilfebereich sowie die Förderung interkultureller Kompetenz
in Regeldiensten der Suchthilfe unterstützt [9].
Kulturelle Aspekte der Psychopharmakologie
Kulturelle Aspekte der Psychopharmakologie
Die Ethnopsychopharmakologie ist in Deutschland bislang ein noch zu wenig beachtetes
Gebiet. Mit der Zunahme von Migranten aus verschiedenen Teilen der Welt rückt das
Thema der unterschiedlichen Pharmakogenetik mehr und mehr in den Fokus. Als genetisch
unterschiedliche Hauptpopulationen werden nach Ruiz genannt:
-
Kaukasier
-
Mongoloide
-
Negroide
-
australische Aborigines
-
San (Buschmänner) [80]
Die Pharmakogenetik, die Lehre von den erblichen Ursachen individueller Unterschiede
in den Arzneimittelwirkungen und Nebenwirkungen, beschreibt z. B. genetische Unterschiede
von Arzneimittelrezeptoren, Enzymen, die am Metabolismus beteiligt sind (z. B. CYP
450), und Proteine, die am Transport von Pharmaka beteiligt sind (z. B. P-Glykoprotein)
[77].
Genetisch verschiedene Metabolisierungsgruppen
Nach Schwab et al. werden 4 Metabolisierungstypen unterschieden [89]:
Über das Cytochrom-P450-Isoenzym 2C19 werden die Wirksubstanzen Moclobemid, Diazepam,
Clomipramin, Amitriptylin und Imipramin abgebaut. Hier sind 3 – 5 % der Kaukasier
und 15 – 20 % der Asiaten langsame Metabolisierer [89]. Dieses Beispiel macht deutlich,
dass bei manchen Migrantengruppen auch pharmakogenetische Faktoren zu beachten sind.
Aus Unwissenheit können falsche Substanzen eingesetzt oder Dosierungen nicht angepasst
werden.
Fazit und Perspektiven
Mehr als 16,5 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund (ca. 21 % der Gesamtbevölkerung)
haben inzwischen ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Es ist davon auszugehen,
dass in den kommenden Jahrzehnten die Zahl der Migranten noch steigen wird. Das medizinische
Versorgungssystem muss sich auf diese sehr heterogene Bevölkerungsgruppe mit ihren
unterschiedlichen Biografien, Schutz- und Belastungsfaktoren vorbereiten. Gesundheits-
und Krankheitskonzepte sowie Behandlungserwartungen sind je nach kulturellem Hintergrund,
traditionellen Werten, persönlichen Erfahrungen und sozialen Lebenswelten einem ständigen
Wandel unterworfen [12 – 14, 24, 34]. Zugangsbarrieren können besser überwunden bzw.
gemindert werden, wenn die jeweiligen sozialen Lebensumstände von Migranten beachtet,
die individuellen Erklärungsansätze bezüglich Erkrankungen und ihre Behandlungserwartungen
berücksichtigt werden [12 – 14, 24, 34, 69, 71].
Das medizinische Versorgungssystem ist noch nicht gut gerüstet für die speziellen
Bedürfnisse von Migranten.
Soziale Exklusion, niedrige Bildung, schlechte ökonomische Lage und niedrige ethnische
Dichte sind Belastungsfaktoren, die bei Migranten zu einem höheren Erkrankungsrisiko
für bestimmte Störungen führen [36, 39, 64, 91, 95, 100, 101]. Neben diesem erhöhten
Erkrankungsrisiko können Migranten durch zahlreiche Zugangs- und Inanpruchnahmebarrieren
wie aufenthaltsrechtliche Faktoren [29], Verständigungsschwierigkeiten und „kulturelle“
Missverständnisse [32, 34, 69, 71, 84], Diskriminierungserfahrungen [39], Stigmatisierung
und Scham [64, 83] benachteiligt sein. Um die Barrieren zu senken, sind interkulturelle
Öffnung der Einrichtungen und interkulturelle Kompetenz aller Mitarbeiter erforderlich.
Doch nach wie vor ist die interkulturelle Öffnung der Institutionen im Gesundheitssystem
mit Einrichtung eines Migrations- bzw. Integrationsbeauftragten nicht vorangekommen
[55, 61, 69, 70].
Auch der Erwerb der interkulturellen Kompetenz der Mitarbeiter aller Berufsgruppen
entwickelt sich zögerlich [12 – 14, 28, 46, 47, 66, 74]. Oftmals ist der Einsatz eines
Dolmetschers erforderlich, da sonst keine ausreichende Kommunikation möglich ist [12, 13,
55, 105].
Die interkulturelle Öffnung der Institutionen des Gesundheitssystems ist noch wenig
entwickelt.
Auch ethnopharmakotherapeutische Einflussfaktoren müssen bei der Versorgung von Migranten
berücksichtigt werden [38, 77, 80, 89]. Menschen mit Migrationshintergrund haben besondere
gesundheitliche, psychosoziale und ökonomische Belastungen [76]. Kulturelle Aspekte,
migrationsspezifische und soziale Faktoren beeinflussen die Prävalenz, Manifestation
und den Verlauf psychischer Erkrankungen bei Migranten [12].
Zusammenfassend ist zu hoffen, dass die in diesem Beitrag aufgeführten Aspekte der
Versorgung von Migranten regelhaft in die Aus-, Fort- und Weiterbildungen integriert
werden. Denn in Anbetracht der großen Bevölkerungsgruppe können diese Versorgungslücken
nicht mehr länger hingenommen werden.
Die sehr heterogene Gruppe der Migranten nimmt stetig zu und taucht mehr und mehr
in der Versorgung auf. Mithilfe des Cultural Formulation Interviews (CFI) können ihre
Gesundheits- und Krankheitskonzepte sowie Behandlungserwartungen und Belastungsfaktoren
erfasst werden. Interkulturelle Öffnung der Einrichtungen und interkulturelle Kompetenz
der Mitarbeiter sowie der reguläre Einsatz von professionellen Sprach- und Kulturmittlern
können helfen, einige zentrale Zugangs- und Inanspruchnahmebarrieren zu vermindern
sowie Unter- und Fehlversorgung zu reduzieren. Daraus erschließt sich, dass die Aus-,
Fort- und Weiterbildungen wesentlich durch die Integration von Lehrinhalten zu Einflussfaktoren
der Versorgung von Migranten profitieren könnten.