Geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung
Glaubt man dem Berufsverband der Frauenärzte, ist das Problem keines:
„Mit den im Mutterpass aufgeführten Untersuchungen ist eine werdende Mutter rundum
gut versorgt. Nur bei
außerordentlichen medizinischen Verdachtsmomenten kann die ein oder andere zusätzliche
Vorsorgeuntersuchung
sinnvoll sein. Zusätzliche Untersuchungen sollten in der Regel nach eingehender Prüfung
und individueller
Beratung durch die Frauenärztin bzw. den Frauenarzt erfolgen.“ [ [1] ]
Das Medizinsystem ist nach dem Prinzip „Vergütung von Einzelleistungen“ aufgebaut.
Man darf sich daher nicht
wundern, wenn in einer Praxis nicht nur das medizinisch Sinnvolle, sondern auch (und manchmal leider
ganz überwiegend) das finanziell Lukrative angeboten wird. In diesem Klima kann eine wertschätzende
und salutogenetische Haltung nicht gut gedeihen.
1966 wurde in Westdeutschland die von den Krankenkassen finanzierte Schwangerenvorsorge
eingeführt, nachdem
die perinatale Mortalität mit 28/1000 weit über der von anderen europäischen Ländern
lag.
Das Hickhack um Zuständigkeit und Vergütung der Schwangerenvorsorge begleitete bereits
ihre Einführung. Die
Idee, Vorsorge als Schwangerenberatung Hebammen und öffentlichen Institutionen wie
Gesundheitsämtern zu
übertragen, wurde schnell verworfen. Die Gesundheitsämter hatten in der Nazizeit eine
unrühmliche Rolle
gespielt. Gleichzeitig setzte sich die starke Lobby der niedergelassenen Ärzte für
individuelle
Untersuchungen in der Praxis ein. Sogar der Mutterpass als Dokumentation, die auch
die Frauen und andere
Personen einsehen können, wurde anfangs vehement bekämpft [[4]]:
„…ist es uns jetzt gelungen, alle Bestrebungen nach Einführung eines Mutterpasses
in Bayern zu
unterbinden. Wir haben den Standpunkt vertreten, dass ärztliche Daten und Untersuchungsergebnisse
in die
Kartei des Arztes, aber nicht in die Handtasche der Frau gehören: Wenn sie in der
Handtasche der Frau sind,
werden sie Gegenstand von Unterhaltungen beim Kaffeeklatsch und führen zu einer unnötigen
Beunruhigung der
Frauen, die mit diesen nichts anzufangen wissen.“ H. J. Severing zitiert in [ [4] ]
„Weithin haben die Kassenärztlichen Vereinigungen es abgelehnt, Beratungsstellen in
Kliniken an der
Vergütung für Schwangeren-Vorsorge zu beteiligen. Die Folge: Wohlausgerüstete Beratungsstellen
für
Schwangere, die etwa an deutschen Universitätskliniken schon eingerichtet worden waren,
mussten wieder
geschlossen werden.“ [ [2] ]
Nach 1989 wiederholte sich diese Entwicklung in den neuen Bundesländern, wo gut funktionierende
Ambulanzen
und Polikliniken geschlossen wurden.
In der Folgezeit wurden die Untersuchungen ausgeweitet. 2 Ultraschalluntersuchungen
wurden 1979 in den
Katalog aufgenommen, 1995 kam eine 3. dazu.
Wenig bekannt ist bis heute, dass eine Hebamme die Schwangeren selbständig betreuen
und sie zu den
Ultraschalluntersuchungen an eine ärztliche Praxis überweisen kann.
Seit den 90er Jahren nimmt die Pränataldiagnostik einen immer größeren Raum ein. Ihre
Ergebnisse führen
selten zu einer besseren Gesundheit von Mutter und Kind, etwa wenn ein Herzfehler
rechtzeitig entdeckt und
die Operation schon vor der Geburt geplant werden kann. Meist bleibt nach einem auffälligen
Ergebnis nur die
Frage: Schwangerschaft fortsetzen oder abbrechen?
In den letzten 20 Jahren ist die perinatale Mortalität nur noch minimal gesunken,
obwohl unzählige
zusätzliche Untersuchungen angeboten werden.
Die geringe Reduktion ist teilweise darauf zurückzuführen, dass mehr Kinder nach einer
frühen Frühgeburt
überleben. Zum anderen werden viele Kinder, die früher kurz nach der Geburt an schweren
Fehlbildungen
gestorben sind, nicht geboren, weil die Schwangerschaft vorher abgebrochen wird. Die
späten
Schwangerschaftsabbrüche werden bis heute nicht systematisch erfasst, ihre genaue
Zahl ist nicht
bekannt.
Es gibt gute Übersichten darüber, welche Untersuchungen nach den strengen Kriterien
der evidence based
medicine sinnvoll sind (z. B. BzgA, Spiegel.de, Stiftung Warentest). Aber mit Vernunft allein
lässt sich
das Problem nicht lösen.
So wie beim Laufen an der frischen Luft nicht mehr das Gefühl der wohligen Erschöpfung
anzeigt, dass es
genug ist, sondern die Pulsmess-App, so möchte man sich auch in der Schwangerschaft
apparativ absichern. Und
wie Eckart von Hirschhausens Patient mit dem schmerzenden Knie gekränkt ist, wenn
er beim Arzt nur beraten
wird („Abnehmen und mehr Bewegung! Dafür zahle ich doch keine Beiträge!“), so beschweren
sich auch
Schwangere, wenn das, was gesundheitsökonomisch das beste Preis-Leistungs-Verhältnis
hat, nämlich die
sorgfältige Erhebung einer Anamnese, nicht durch weitere Aktionen ergänzt wird.
„war heute bei der Vorsorge und der hat nur sehr viel geredet und mich ausgefragt.
Bild gab’s auch net.
Wie ist das bei euch, kriegt ihr immer ein Bild mit? Überlege, ob ich mein Gyn. wechseln
soll“ Zitat von
sannchen84 bei www.netmoms.de.
Weil die Informationsmöglichkeiten nahezu unbegrenzt sind und Autonomie und Selbstverantwortung
gefordert
werden, ist die Verunsicherung sehr groß. Dies offenbaren die Beiträge in Schwangerschaftsforen.
Daher
wundert es nicht, dass die meisten Schwangeren die Verantwortung für ihre Schwangerschaft
der Gynäkologin
übertragen und die Betreuung durch Hebammen allenfalls als Ergänzung wahrnehmen.
Außerdem scheinen die Untersuchungen mit dem höchsten Erkenntniswert unattraktiv.
Blutdruck messen, wiegen,
Bauch abtasten ist im Vergleich zum 3D-Ultraschall langweilig.
Dazu kommt das für viele Frauen extrem belastende Thema „Gewicht“. Gerade für Frauen,
die schon vor der
Schwangerschaft permanent gegen ihr tatsächliches oder vermeintliches Übergewicht
ankämpfen, ist das
regelmäßige Wiegen vor Zeugen der schlimmste Teil der Untersuchung.
Bereits während meiner Doktorarbeit im ländlichen Westafrika 1989 faszinierte mich
eine Untersuchung über
die Schwangerenvorsorge in Tansania, die zeigte, dass Vorsorge die Gesundheit von
Mutter und Kind zwar
fördert, dass aber mehr als 4 Vorsorgeuntersuchungen keine Verbesserung brachten und
dass die
Entdeckungsrate der Präeklampsie in Deutschland und in Tansania bei je 80 % lag. Ist mehr also nicht
unbedingt besser?
Das ursprüngliche Ziel der Schwangerenvorsorge, möglichst viele Eklampsien zu verhindern,
wurde durch
einfache Untersuchungen wie die Blutdruckmessung, Gewichtskontrolle und Eiweißteststreifen
bereits in den
1970er Jahren erreicht. Dagegen sind viele Probleme bis heute ungelöst, wie die Frühgeburtlichkeit.
Anstatt aber einen Blick auf die bekannten Risikofaktoren zu werfen (Armut, Rauchen,
fehlende
Partnerbeziehung, Gewalt), wird mit Technik gegengesteuert. Die vaginale Untersuchung
ist nicht
evidenzbasiert, wird aber trotzdem routinemäßig durchgeführt. Zusätzlich gibt es den
vaginalen Ultraschall
zur Messung der Zervixlänge und einen Teststreifen, der als Selbstzahlerleistung angeboten
wird, eigentlich
aber nur bei erhöhtem Frühgeburtsrisiko eingesetzt werden sollte.
„Ich habe die ganze Nacht nicht richtig geschlafen, meine FÄ hat mich gestern Abend
angerufen und mir
gesagt dass der Actim Partus test, den sie bei mir gemacht hat, (ist bei ihr Routine-Igel)
leider positiv
ist. Jetzt bin ich total verunsichert! Ich soll jetzt morgen nochmal reinkommen damit
sie den Mumu
kontrollieren kann.“ Zitat vonBeGe auf www.BabyCenter.de
Studiert man die Forenbeiträge, so macht sich das Gefühl breit, dass es in deutschen
Praxen immense
Kommunikationsdefizite gibt.
Wie bei allen Gesundheitsleistungen sind Frauen aus einkommensschwachen Verhältnissen
unterrepräsentiert. Bis heute nehmen gut situierte Frauen durchschnittlich 2–3 Vorsorgeuntersuchungen
mehr
wahr. Präventionskampagnen, z. B. zum Rauchverzicht, sind an der Mittelschicht orientiert
und erreichen die
Zielgruppen häufig nicht [[5]]. Es fällt auf, dass das Risiko „besondere
soziale Belastung“ in der Perinatalerhebung in keinem Bundesland über 1 % ausmacht,
während bundesweit
mittlerweile 15 % der Bevölkerung als arm gelten [[9]]. Obwohl bekannt ist,
dass Armut einer der Hauptrisikofaktoren für Frühgeburten, niedriges Geburtsgewicht und perinatale
Mortalität ist, wird dieses Risiko offenbar in der Vorsorge nicht erfasst.
Auch hier finde ich übrigens eine Parallele zur Schwangerenvorsorge in Westafrika,
zu der sich
Funktionärsfrauen mit properen, wohlgenährten Kindern einfanden, während sich die
Frauen aus dem Dorf aus
Scham wegen ihrer Armut nicht trauten.
Dass mehr Vorsorge zu mehr Gesundheit führt, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Viele Untersuchungen
haben Ritualcharakter. Wie ich mich bei der Beichte von der Sünde befreie, so kaufe ich mich durch
(im Einzelfall teuer bezahlte) Untersuchungen von Angst frei. Wenn dann noch ein gewisser
Druck von Seiten
der betreuenden Praxis kommt, eine Untersuchung durchzuführen, ist es aus mit dem
informed
consent.
„Ich würde gerne wissen, ob euch der Fa auch so eindringlich positiv berät wg. Selbtzahleruntersuchungen
. Ich bin jetzt in der 9. Ssw und die meiste Zeit beim Fa geht für diese „Beratung“
drauf. Meine normalen
Fragen zur Ssw, was ich beim Sport darf etc. werden mit einem 3-Wortsatz beantwortet.
Bin ich nur extrem
empfindlich oder ist das heutzutage normal beim Fa?“ Zitat von musica13 auf www.BabyCenter.de
Es ist ein Mythos, dass die Schwangere wie eine Kundin zu Hause entspannt die Angebote
studiert und sich
nach ausgiebiger Information für das eine oder andere entscheidet.
Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)
Serologische Untersuchungen
Toxoplasmose
Wenn bei der Mutter IgG-Antikörper nachgewiesen werden, kann sie sicher sein, dass
sie bereits eine
Toxoplasmose durchgemacht hat, die außerhalb der Schwangerschaft harmlos ist – wie
ca. 50 % aller
Schwangeren. Falls keine Antikörper nachgewiesen werden, kann das zur Verunsicherung
führen: Hat sie eine
frische Infektion? Oder noch keinen Kontakt mit Toxoplasmose? Der Toxoplasmosetest
ist ein gutes Beispiel
dafür, wie ein Test weitere Tests nach sich zieht: er müsste die gesamte Schwangerschaft
alle 4 Wochen
wiederholt werden und würde trotzdem weiter zu Verunsicherung führen.
Dabei ist die Vorbeugung einfach: Eine Schwangere kann sich vor einer Infektion schützen,
indem sie auf
Hygiene beim Kontakt mit Katzen achtet und nur durchgegartes Fleisch isst.
Der IGeL-Monitor rät daher vom Toxoplasmosetest ab.
Auch beim Screening von anderen Infektionen bestehen große Unsicherheiten. Tests auf
Cytomegalie
und Ringelröteln beruhigen nur in den Fällen, in denen eine frühere Infektion bestätigt wird. Für
alle übrigen Frauen, etwa die Hälfte, je nach Alter und Intensität des Kontakts mit
kleinen Kindern, gibt
es keine gute Lösung. Soll man während der gesamten Schwangerschaft regelmäßig kontrollieren?
Inzwischen
werden seronegative Schwangere schon fast routinemäßig aus der Arbeitswelt entfernt,
wenn sie nur Kontakt
mit Kindern haben.
Eine Lobby setzt sich in Deutschland für die Aufnahme des Cytomegalie-Screenings als
Kassenleistungen ein
mit dem Argument, dass seit einigen Jahren die Möglichkeit besteht, eine frische Infektion
mit
Hyperimmunglobulinen zu behandeln und so schwere Schäden beim Kind zu verhindern.
Gegen Windpocken sind über 90 % aller Schwangeren immun, weil sie als Kind Windpocken
hatten oder geimpft
wurden. Theoretisch könnte man bei einer frischen Infektion Hyperimmunglobulin geben,
da jedoch die
Inkubationszeit lange ist und die Infektion fast immer zu spät festgestellt wird,
gibt es in der Praxis
keine Therapie. Sinnvoller als eine Serologie ist die Empfehlung, sich von kranken
Kindern
fernzuhalten.
Ersttrimester-Screening
Diese Untersuchung (Nackentransparenzmessung, Bestimmung von b-HCG und Papp-A) ist
für viele Schwangere der
niedrigschwellige Einstieg in die Pränataldiagnostik. Für viele Paare ist die Untersuchung (meist in
einer Praxis für Pränataldiagnostik mit einem guten Ultraschallgerät) ein erstes Highlight.
Die Untersuchung
ist sinnvoll für Schwangere, die eine Entscheidungshilfe für oder gegen eine Amniozentese
suchen. Es geht
vornehmlich um die Suche nach der Trisomie 21.
Die Trisomien 13 und 18 sind sehr viel seltener. Da die Kinder meist schon während
der Schwangerschaft
intrauterin sterben, ist das ethische Dilemma „Schwangerschaftsabbruch oder nicht?“
seltener als beim
Down-Syndrom.
Über 90 % der Schwangerschaften mit dem Befund Down-Syndrom werden inzwischen abgebrochen.
Das Problem sind auch hier unklare Befunde. Die Foren sind voll von Frauen, die verzweifeln,
weil ihr Risiko
von 1 : 700 auf 1 : 382 angestiegen ist. Menschen haben offenbar keine Möglichkeit,
einen solchen Befund zu
verarbeiten. Wie kann man individuell mit statistischen Wahrscheinlichkeiten umgehen?
„Diese ganzen Untersuchungen bringen den Ärzten nur Geld und machen dich wuschig.
… ich habe das über
mich ergehen lassen aufgrund eines höchst verdächtigen Ultraschalls. Dann folgten
die anderen Messungen
(Nackenfalte 5,6 mm!!) Tripple, und und und. Wenn man bedenkt, dass zwischen diesen
Untersuchungen jedesmal
1–2 Wochen lagen, war ein Drittel der SS nur mit Ängsten, Hoffen und Bangen versaut.“
Teetante4 auf
GoFeminin.de
Ultraschalluntersuchungen
Die mit Abstand beliebteste Untersuchung ist der Ultraschall. In den Internet-Communities
berichten
Schwangere darüber, dass ihre Ärztin keine Bilder rausrückt, während andere schwärmen,
bei ihnen gebe es
jedes Mal eines in 3 D, „aber wir haben auch eine Flatrate gebucht für 180 Euro, das ist es uns
wert“. Aber selbst scheinbar harmlose Vergnügungen wie der 3D-Ultraschall können verunsichern:
„…ich hatte gestern den 3d ultraschall… es war echt voll toll wir haben sogar ein
video wo der kleine
drauf lächelt … auf den bildern sieht es aus als hätte er eine ziemlich breite nase
… jetzt stellt sich mir
aber irgendwie die frage ob das normal ist? also ob das am gerät liegt oder ist die
nase wirklich so? was
schlimmes kann es aber nicht sein oder?“ Sunshine 2401 auf GoFeminin.de
Ob der Arzt eine Fehlbildung durch Ultraschall erkennt, hängt nicht von der Zahl der
Untersuchungen ab,
sondern von seiner Erfahrung [[7]]. Diese Binsenweisheit wird leider häufig
ignoriert. Zum Glück ist hier die Statistik auf der Seite der Schwangeren. Die meisten
Kinder sind
unauffällig und sehen auch so aus, so dass die Bilanz positiv ausfällt.