Anlässlich der 2. Qualitäts- und Sicherheitskonferenz zur Endoprothetik haben Experten
auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik
(AE) und des Bundesverbands Medizintechnologie (BVMed) erläutert, welche Anforderungen
an künstliche Gelenke und Ärzte gestellt werden. Auf der Konferenz in Frankfurt diskutierten
Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure, Vertreter der Industrie und Juristen vom 05.-06.
November über neue Herausforderungen in der Endoprothetik.
Der Gelenkersatz ist eine der Erfolgsgeschichten der Medizin der letzten Jahrzehnte,
vor allem Menschen mit Arthrose und Rheuma profitieren von künstlichen Gelenken. In
Deutschland werden jährlich bei rund 400 000 Patienten künstliche Gelenke implantiert,
davon allein rund 220 000 Hüft- und 150 000 Kniegelenke. Die Methoden sind bewährt
und etabliert, dennoch steht die Endoprothetik vor immer neuen Herausforderungen.
Prof. Carsten Perka, Vizepräsident der AE, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Prof.
Michael M. Morlock, Leiter des Instituts für Biomechanik an TU Hamburg-Harburg, und
Heinrich Wecker, Ceramtec GmbH, stellvertretender Sprecher des Exekutivkomitees des
deutschen Endoprothesenregisters (EPRD), informierten über die sich kontinuierlich
ändernden Anforderungen. Einfluss hat nicht nur die Einführung neuer Produkte, sondern
auch die demografische Entwicklung. Patienten, Materialien und Operateur, sowie die
operative Technik sind die Faktoren, die den Erfolg des Gelenkersatzes bestimmen.
Hohe Anforderungen durch Patienten
Hohe Anforderungen durch Patienten
Aus Sicht der Patienten sind die Erwartungen an das Ergebnis deutlich gestiegen. War
früher vor allem ein schmerzfreies Gehen das Ziel, wollen die Patienten heute nahtlos
an ihre bisherigen Aktivitäten anknüpfen. Dabei stellen vor allem Sportarten mit schnellen
Richtungswechseln und Körperkontakt (z.B. Fußball, Handball), extremen Belastungen
Operations(z.B. Marathon) oder einem hohen Bewegungsumfang (z.B. Yoga) die künstlichen
Gelenke vor enorme Herausforderungen. Langfristig nimmt der Bedarf eines Gelenkersatzes
durch die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung zu. Ein weiterer Aspekt ist die
Gewichtszunahme, die vor allem im Bereich Knieendoprothetik zu steigenden Zahlen führt.
Im Durchschnitt sind 95 % der Patienten nach einem Gelenkersatz zufrieden, die verbleibenden
5 % gelte es zu verbessern, fordern die 3 Experten. Ziel der Aufklärung des behandelnden
Arztes muss es immer sein, die Erwartung der Patienten und die tatsächliche Möglichkeiten
in Einklang zu bringen. Die Grenzen und Risiken müssen klar aufgezeigt werden. Auch
wenn Prothesen dauerfest sein sollen – es handelt sich um Verbrauchs- und Verschleißteile,
die sofort nach dem Einbau mit der Abnutzung beginnen und es kann lediglich versucht
werden, den Verschleiß zu minimieren. Je mehr ein Gelenk belastet wird, desto mehr
nutzt es sich ab. Das gilt für künstliche ebenso wir für natürliche Gelenke. Moderne
Prothesen behalten ihre Funktionalität 20–25 Jahre. Darüber hinaus fehlen die Erfahrungen
mit den neuen Materialien. Diese Daten sind aber wichtig, da mit zunehmender Lebenserwartung
die Revisionseingriffe zwangsläufig zunehmen. Daten aus dem englischen Endoprothesenregister
zeigen nach 10 Jahren eine Revisionsrate von etwa 2,1 %. Wünschenswert wären 2 % nach
20 Jahren – so Prof. Morlock, mehr sei aus technischer Sicht, bedingt durch den Verschleiß,
nicht zu erwarten.
Sportarten mit hohem Bewegungsumfang, schnellen Richtungswechseln oder hohen Belastungen
fordern die Gelenke ̶ natürliche ebenso wie künstliche. (Bild: Holger Münch / Thieme
Verlagsgruppe)
Geeignete Testverfahren
Mit Blick auf das Material wird schnell klar: Bei etablierten Prothesen sind Material
und Design unkritisch. Einfluss auf das (subjektive) Ergebnis haben vor allem der
Operateur und der Patient selbst. Bei neuen Materialien, Techniken oder OP-Konzepten
sieht das anders aus – hier können unerwartete Probleme auftreten. Sowohl Arzt als
auch Patient tragen in diesen Fällen eine hohe Eigenverantwortung. Welchen realen
Belastungen ein künstliches Gelenk später wirklich ausgesetzt ist, kann im Vorfeld
nur bedingt verlässlich getestet werden. Die präklinisch genormten Testverfahren,
die in der Regel zum Einsatz kommen, beziehen sich immer auf Versagensmechanismen,
die in der Vergangenheit bereits aufgetreten sind. In der Regel werden die Prothesen
für 5-10-Jahresbelastungen getestet, für mehr gibt es weltweit nicht genug Kapazitäten.
Die Tests basieren auf der am häufigsten ausgeführten Tätigkeit: dem Gehen. Zusätzlich
testen die Hersteller auf höchste mechanische Belastungen wie Stolpern oder Treppensteigen.
Aber wieviel Testen ist sinnvoll? Im Worst-Case-Szenario versagen alle Prothesen,
auch die klinisch erfolgreichen. Es ist daher dringend notwendig, die Testverfahren
weiterzuentwickeln und die zugrundeliegenden Zusammenhänge zu verstehen.
Das Training macht‘s
Die Anforderungsentwicklung betrifft nicht nur die Materialien der Implantate, sondern
auch die operative Qualität.
Besonders muskelschonende Operationsverfahren haben einen hohen Stellenwert. Zu den
benötigten Qualifikationen eines Chirurgen zählen, neben dem handwerklichen Geschick,
das theoretische Wissen sowie eine qualifizierte praktische Ausbildung. Immer komplexere
Implantatsysteme machen ein ausführliches Training unerlässlich.
Material, Typ und Verankerung einer jeden Prothese werden auf die Bedürfnisse und
Voraussetzungen der Patienten abgestimmt. Hierbei steht heutzutage eine breite Palette
zur Verfügung. (Bild: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der
Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und
K. Wesker. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011).)
Ursachen und Vermeidung von Komplikationen
Ursachen und Vermeidung von Komplikationen
Trotz bester Voraussetzungen, treten auch in Deutschland hin und wieder Probleme mit
Endoprothesen auf. Die häufigsten Komplikationen sind Lockerungen der Implantate oder
Infektionen. Außerdem korrodieren Metallimplantate und setzen Partikel frei, die sich
schon nach kürzester Zeit im Körper des Patienten nachweisen lassen. Die Infektionsrate
beträgt durchschnittlich ca. 1 %. Je länger eine Operation dauert, desto höher sei
die Infektionsrate, erläutert Prof. Perka. Neben der Ausbildung der Operateure spielt
hier der Allgemeinzustand des Patienten eine wichtige Rolle: so dauert beispielsweise
eine Operation bei einem übergewichtigen Patienten länger als bei einem normalgewichtigen.
Auch die Hautflora des Patienten ist entscheidend; antiseptische Waschungen vor der
Operation sowie ein gezieltes Screening auf Erreger bei Risikogruppen können die Infektionsrate
reduzieren.
Aktuell ist die Forschung an antibakteriellen Beschichtungen für Implantate im Fokus.
Diese könnten eine Besiedlung mit Bakterien reduzieren, ohne ein Einwachsen der Osteoblasten
zu verhindern.
Wir brauchen verlässliche Daten!
Wir brauchen verlässliche Daten!
2011 fiel der Startschuss für das deutsche Endoprothesenregister (EPRD). Mit dem Register
ist es möglich, alle Parameter von der Diagnose über den chirurgischen Prozess bis
hin zu einer eventuellen Revision zu erfassen. Aktuell sind im EPRD ca. 150 000 Datensätze
enthalten, erste Auswertungen seien für Anfang des kommenden Jahres erwartet, prognostiziert
Wecker. Die integrierte Datenbank enthält ca. 36 000 verschiedene Prothetik-Komponenten,
eine Detailtiefe, die weltweit einmalig ist. Die Experten erhoffen sich von dem Register
tiefe Einblicke und ein verbessertes Verständnis der Zusammenhänge.
Bisher ist die Teilnahme am EPRD freiwillig und etwa die Hälfte aller infrage kommenden
Krankenhäuser pflegt ihre Daten ein. Der BVMed und die AE fordern ab Mitte 2017 eine
gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme am Endoprothesenregister.
Die Initiative EndoCert der DGOOC (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische
Chirurgie) ist weltweit das erste Zertifizierungssystem für Endoprothetik. Ziel ist
es, Prozesse festzulegen und sie zu standardisieren. Die Teilnahme am EPRD ist für
zertifizierte Zentren verpflichtend. Die Experten hoffen, in Zukunft anhand der Daten
des EPRD überprüfen zu können, ob die Zertifizierung zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität
beiträgt.
Dr. Anna Beckmann, Stuttgart