Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2016; 11(03): 16-23
DOI: 10.1055/s-0036-1584244
Praxis
Grundlagen
© Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG

Karussel im Kopf

Benno Stüve

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Publikationsdatum:
13. Juni 2016 (online)

 

Summary

Der Gleichgewichtssinn erfordert ein komplexes Zusammenspiel von Vestibularapparat, Augen, Tiefen- und Oberflächensensibilität. Schwindel entsteht meist durch Dysfunktionen desselben. Zu den häufigsten Ursachen zählen Kreislaufstörungen, glykämische Entgleisungen, Neuritiden und psychischer Stress. Aber auch an Apoplex oder Blutdruckkrisen ist bei Schwindel zu denken. Mit unterschiedlichen Tests lassen sich die Ursachen differenzieren, Notfälle ausschließen und erste Verdachtsdiagnosen stellen.


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Foto: © Shutterstock / Judah Grubb

SCHWINDEL kann ein harmloses Symptom sein, aber auch erstes Anzeichen für eine schwerwiegende Erkrankung. Eine genaue Differenzierung ist wichtig.

WAS LANDLÄUFIG als banales Altersleiden gilt und oft als harmlos abgetan wird, ist ein ernstzunehmendes Symptom und mitunter ein enormer Risikofaktor: Schwindel. Betroffene ignorieren ihn meist, solange er ihr Leben nicht zu stark einschränkt. Mit dem Lebensalter häuft er sich jedoch und steht bei Beschwerden über 75-Jähriger an erster Stelle. Die Folgen sind eingeschränkte Lebensqualität, Stürze und bei jedem Fünften sogar Pflegebedürftigkeit.

Gleichgewicht ist die Synergie von Sinneseindrücken

So unterschiedlich das Symptom Schwindel auch beschrieben wird, alle Betroffenen haben eines gemein: Es fällt ihnen schwer, das Gleichgewicht zu halten. Wie kommt das? Was macht den Schwindel?

Die Wahrnehmung und der Erhalt des Gleichgewichts ergeben sich aus einem permanenten komplexen und dynamischen Zusammenspiel mehrerer Sinnesorgane. Das sind insbesondere der Vestibularapparat, die Augen, das sensible System mit Tiefensensibilität sowie Oberflächensensibilität (mit Golgi-, Pacini- und Ruffinirezeptoren sowie freien, interstitiellen Nervenendigungen). Alle Signale aus diesen Bereichen werden gemeinsam mit Informationen des Kleinhirns und Rückenmarks in den Vestibulariskernen des Hirnstamms verschaltet und als Gleichgewichtsinformation an die höheren Zentren weitergeleitet. Hierbei muss der Körper ständig dreidimensional auf dynamische Veränderungen von Lage und Beschleunigung reagieren und zusätzlich Relationen herstellen. Wie störanfällig diese komplexe Reizverarbeitung ist, zeigt sich bereits physiologisch bei Kopfdrehungen, mehrmaligem Drehen des Körpers, starker Beschleunigung oder schwankendem Untergrund, beispielsweise auf einem Schiff.

KURZ GEFASST
  1. Der Gleichgewichtssinn erfordert ein komplexes Zusammenspiel von Vestibularapparat, Augen, Tiefen- und Oberflächensensibilität. Schwindel entsteht meist durch Dysfunktionen desselben.

  2. Zu den häufigsten Ursachen zählen Kreislaufstörungen, glykämische Entgleisungen, Neuritiden und psychischer Stress. Aber auch an Apoplex oder Blutdruckkrisen ist bei Schwindel zu denken.

  3. Mit unterschiedlichen Tests lassen sich die Ursachen differenzieren, Notfälle ausschließen und erste Verdachtsdiagnosen stellen.

INFORMATION

Die Diagnostik bei Schwindel auf einen Blick

  • • Blutdruckmessung und -anamnese

  • • Puls (achten auf Arrhythmie und Stärke)

  • • Blutzuckertest zur Abklärung einer Hypo- oder Hyperglykämie

  • • Hörtest, um Schwerhörigkeit abzuschätzen und auch um herauszufinden, ob sie einseitig oder beidseits auftritt

  • • Vibrationstest an den Extremitäten, um eine Polyneuropathie auszuschließen

Test Kopfdrehen

Durchführung: Der Patient sitzt und bewegt den Kopf endgradig zu beiden Seiten.

Interpretation: Tritt Schwindel auf, ist meist eine Störung im Bereich der HWS oder eine Durchblutungsstörung des Kopfes die Ursache.

Romberg-Test (Kleinhirntest)

Durchführung: Der Patient steht mit geschlossenen Beinen und schließt die Augen.

Interpretation: Beginnt er zu schwanken, ist der Test positiv. Eine Kleinhirnläsion, Intoxikation oder ein Apoplex kommen als Ursachen infrage.

Unterberger-Tretversuch (Kleinhirntest)

Durchführung: Der Patient geht mit geschlossenen Augen auf der Stelle.

Interpretation: Weicht der Patient deutlich zu einer Seite hin ab oder dreht er sich, ist der Test positiv. Eine Kleinhirnläsion, Intoxikation oder ein Apoplex kommen als Ursachen infrage.

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Abb. 1 Der Vestibularapparat befindet sich im Felsenbein (Pars petrosa), einem Anteil des Schläfenbeins (Os temporale). Quelle: [1]

Weil das Gleichgewichtsorgan im Innenohr liegt und der N. vestibulocochlearis Gehör- und Gleichgewichtssinn bündelt, treten Hörstörungen wie Tinnitus und Schwindel zudem häufig gemeinsam auf. Auch Nystagmus ist oft als kompensatorischer Orientierungsversuch mit Schwindel vergesellschaftet, auch wenn hier unterschiedliche Nerven beteiligt sind.

Merke: Schwindel ist immer ein Symptom und keine eigenständige Erkrankung. Er erfordert also immer eine gründliche Ursachenforschung und Diagnosestellung.


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Ist die Ursache kardiovaskulär, zerebral oder diabetisch?

Die Ursache eines pathologischen Schwindels beschäftigt mehrere medizinische Fachrichtungen und liegt meist in Dysfunktionen der Rezeptoren, Bahnsysteme und Koordinationszentren. Diese werden in der Regel durch entzündliche, hämodynamische, metabolische, raumfordernde oder mechanische Veränderungen ausgelöst. Systematisch kann man auch zwischen zentral (Störungen des zentralen Nervensystems) und peripher bedingtem Schwindel (Störungen des peripheren Nervensystems, des Vestibularapparats) unterscheiden.

Wie immer braucht es eine gründliche Diagnostik. Dazu kann in der Heilpraktikerpraxis viel geleistet werden, auch um mögliche Ursachen einzugrenzen und Notfälle zu erkennen.

Der Notfall stellt in der Naturheilpraxis die Ausnahme dar, muss aber vorrangig abgeklärt werden. Deutlich häufiger sind Patienten mit dezenterem Diabetes mellitus oder Blutdruckauffälligkeiten betroffen. In manchen Fällen ist auch die Ursache nicht näher zu bestimmen.

Viele Medikamente verursachen zudem Schwindel, insbesondere Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Psychopharmaka, Diuretika und Neuroleptika.


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An Wirbelsäule und Kiefergelenke denken

Auch orthopädische Probleme können Schwindel hervorrufen, insbesondere HWS-Dysfunktionen, Skoliose, C 0/C 1-Blockierungen, Mobilitätsstörungen des Felsenbeins, welches zum Os temporale (Schläfenbein) gehört und Paukenhöhle und Labyrinthsystem enthält sowie degenerative Wirbelerkrankungen (die A. vertebralis verläuft in den HWS-Querfortsätzen).

TABELLE 1

Häufige Notfälle mit Schwindel als Symptom

Ursache

Hinweisgebende Symptome (neben Schwindel)

Bei der Anamnese fragen nach

Diagnostik

Lagerung

Notarzt rufen?

Kardiale

Minderdurchblutung / Hypotonie

Patient mit blasser Haut, schlapp und antriebslos

bekannter Hypotonie, Einnahme blutdrucksenkender Medikamente

Puls-, Blutdruckmessung (RR niedrig, Puls mitunter beschleunigt)

Schocklage bei Ausschluss kardialer Ursachen wie Herzinfarkt

eventuell

hypertensive Krise

Patient ist aufgedreht, hat einen hochroten Kopf.

bekannter Hypertonie, Einnahme blutdrucksteigernder Medikamente

Puls-, Blutdruckmessung (RR hoch, Puls meist beschleunigt)

Patient aufrecht sitzend lagern

ja

Arrhythmie

mitunter Synkopen

Herzrhythmusstörungen, Diuretikaeinnahme; psychischem Stress

Puls-, Blutdruckmessung (RR meist normal, Puls kann beschleunigt sein oder verlangsamt); Ruhe-EKG (Belastungs-EKG durch Arzt)

Schocklage bei Ausschluss kardialer Ursachen wie Herzinfarkt

bei Kreislaufdekompensation

Neurologische

erhöhter Hirndruck, Apoplex (zerebrale Ischämie oder Blutung), Vergiftung, Trauma

neurologische Ausfälle

Trauma, Sturz, Infekt, Arteriosklerose, Vergiftung

auf Hirndruckzeichen achten: Übelkeit, schwallartiges Erbrechen, massiver Kopfschmerz, Somnolenz, Unruhe, Bradykardie (Druckpuls), Koordinationsstörungen (Kleinhirnfunktion)

Patient aufrecht sitzend lagern

im Zweifel immer

Stoffwechselbedingte

Hypoglykämie / Hyperglykämie

Je nach Ursache ist der Patient unruhig, verwirrt, fahrig, zitternd, kaltschweißig oder schläfrig, verlangsamt; vielfältige Exsikkosezeichen (Hyperglykämie) oder Stresssymptome (Hypoglykämie)

Diabetes, Insulinsubstitution, Infektionen, Stress

Blutzuckermessung

bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlagerung

bei Hypoglykämie evtl. Notarzt und Glukosegabe, bei Hyperglykämie Flüssigkeitssubstitution und evtl. Notarzt

Merke: Der manchmal empfohlene De-Kleyn-Test zur Feststellung einer Durchblutungsstörung der A. vertebralis darf lege artis nur vom Arzt unter Reanimationsbereitschaft durchgeführt werden.

Aus osteopathischer Sicht können auch Kiefergelenkstörungen zu Dysfunktionen des Os temporale mit Symptomen wie Tinnitus und Schwindel führen. Auch an Traumata mit Kopfbeteiligung oder Spangenversorgung ist in diesem Zusammenhang zu denken.


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Ist es der Kreislauf oder eine Anämie?

Neben den beschriebenen kardiovaskulären Notfällen können weitere internistische Störungen zu Schwindel führen, darunter Kreislaufschwäche, Hypotonie und Eisenmangelanämie. Letztere betrifft häufig jüngere Frauen und äußert sich meist durch weitere charakteristische Anämiesymptome. Ein Blutbild sichert die Diagnose.

Bei Kindern und Jugendlichen, die schnell wachsen, zeigt sich Schwindel mitunter als Zeichen einer orthostatischen Dysregulation. Diese überkommt sie bei schnellem Aufstehen oder langem Stehen, typischerweise mit kurzzeitigem Blutdruckabfall, Schwarzwerden vor den Augen und anderen vegetativen Symptomen.

INFORMATION

Kardiovaskuläre Adaptionsstörung bei Stressbehandlung

Nach einer erfolgreichen stresslösenden Behandlung z. B. durch Massage, Osteopathie oder Akupunktur, fallen Puls und Blutdruck rasch ab. Dies kann zu einer kurzen kardiovaskulären Adaptionsstörung führen mit Schwarzwerden vor den Augen, wenn Patienten aus der sehr „entspannten“ Situation wieder in den Alltag eintreten. Auch die Lageveränderung von Rückenlage zum Sitz / Stand kann dann bereits zu Kreislaufschwäche oder -kollaps führen.


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Auch neurologische Erkrankungen können dahinter stecken

Neurologische Grunderkrankungen, die keinen Notfall darstellen, werden leider oft zu spät entdeckt. So leiden besonders ältere Menschen in vielen Fällen unter Polyneuropathie, häufig aufgrund von langzeitigen Stoffwechselstörungen durch Diabetes mellitus, Leberzirrhose oder Nierenerkrankungen, aber auch Medikamentennebenwirkungen (besonders Chemotherapie) oder ausgeprägtem Vitamin-B12-Mangel. Zu den Frühsymptomen zählen Brennen oder wundes Gefühl an den Fußsohlen, eine Verminderung der Vibrationsempfindlichkeit, gefolgt von eingeschränkter Schmerzwahrnehmung und begleitender Anämie. Später stellen sich diverse Nervenausfälle ein. Hier ist ein neurologischer Status inkl. Test auf Vibrationsempfindlichkeit (Stimmgabeltest) notwendig, der in der Naturheilpraxis zur Standardbefundung gehört.

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Abb. 2 Das Vestibularorgan besteht aus den drei häutigen Bogengängen (Ductus semicirculares) sowie Sacculus und Utriculus mit ihren Makulaorganen. Die Bogengänge enthalten in ihren Erweiterungen (Ampullae) Sinnesleisten (Cristae ampullares). Die Sinnesleisten reagieren auf Drehbeschleunigung, die Makulaorgane auf vertikale (Macula sacculi) bzw. horizontale (Macula utriculi) Linearbeschleunigungen. Foto: Quelle: [1]

Auch ein Akustikusneurinom kann Schwindel – eher Schwankschwindel – verursachen, wobei Tinnitus und Hörminderung meist vorangehen. Dabei handelt es sich um einen gutartigen Tumor des 8. Hirnnervs (N. vestibulocochlearis), der in den Kleinhirnbrückenwinkel Richtung Stammhirn wächst. Aufgrund des sehr langsamen und verdrängenden Wachstums bleibt er oft lange unentdeckt. Ein Verschlusshydrocephalus kann folgen. Hier ist diagnostisch weder mit den Tumor-Sekundärsymptomen noch mit Auffälligkeiten im Blutbild zu rechnen. Eine Magnetfeldresonanztomografie zeigt den Tumor.

Auch Störungen weiterer Hirnnerven kommen als Schwindelursache infrage, insbesondere des N. trigeminus (V), N. abducens (VI), N. facialis (VII), N. glossopharyngeus (IX) und N. vagus (X), häufig begleitet von Kleinhirnzeichen wie vermindertem Muskeltonus oder Störungen der Koordination oder Feinmotorik.

Die Neuritis vestibularis löst neben Schwindel auch eine Hörminderung und / oder Tinnitus aus und wird vorwiegend durch Herpesviren oder andere (reaktivierte) Erreger ausgelöst, häufig begleitet von Fieber, geschwollenen Lymphknoten und Ohrenschmerzen. Der Begriff dient aber auch als Synonym für eine Funktionsstörung des Vestibularorgans (Gleichgewichtsorgan), sodass auch Mikrozirkulationsstörungen eingeschlossen sind. Die Symptome halten über Stunden bis Tage, teilweise auch länger an.

Merke: Kalte Ohrspülungen helfen diagnostisch und verschaffen bei Neuritis vestibularis vorübergehend Erleichterung.


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Taubheit und Tinnitus können Hinweis auf Menière sein

Tritt Schwindel anfallsweise über Minuten bis Stunden und gemeinsam mit einseitigem Hörverlust und niederfrequentem Tinnitus auf, handelt es sich typischerweise um Morbus Menière. Die Erkrankung betrifft oft Menschen zwischen 40 und 60 Jahren, Frauen etwas häufiger als Männer. Als Ursache wird eine Störung des vestibulären Lymphsystems vermutet, durch die fehlerhafte Informationen geliefert werden.

INFORMATION

Differenzialdiagnose: Zentrale oder periphere Ursachen bei Schwindel

Um eine Notfallindikation auszuschließen, müssen besonders bei erstmalig auftretendem Schwindel periphere (z. B. Neuritis) und zentrale Ursachen, hier insbesondere Apoplex, unterschieden werden. Drei Tests geben dazu wichtige Hinweise.

Horizontaler Kopfimpulstest

Der Horizontale Kopfimpulstest prüft den horizontalen vestibulo-okulären Reflex. Eine Störung spricht hierbei für eine periphere Ursache.

Durchführung: Der Patient fixiert einen Punkt. Der Behandelnde legt dabei beide Hände seitlich an den Kopf des Patienten und dreht diesen dann rasch, aber nur um wenige Grad nach links und rechts.

Interpretation: Normalerweise wird die Drehung durch eine rasche gegenläufige Augenbewegung kompensiert. Bei Neuritis-Patienten erfolgt jedoch stattdessen zeitverzögert eine Korrektur-Sakkade , ein sogenannter „Blicksprung“.

Nystagmus-Test (bei Patienten mit Schwindel und Nystagmus)

Durchführung: Der Patient fixiert im Sitzen einen Punkt. Anschließend lässt er von diesem Punkt ab und blickt in Richtung Nystagmus.

Interpretation: Bei peripherer Läsion zeigt sich beim sitzenden Patienten meist ein horizontaler Spontannystagmus zur gesunden Seite. Dieser verschwindet durch visuelle Fixierung, verstärkt sich aber bei Aufhebung der Fixierung sowie beim Blick in die Bewegungsrichtung des Nystagmus.

Bei einer zentralen Ursache bleiben diese Reaktionen aus.

Vertikale Divergenz

Eine unterschiedliche vertikale Ausrichtung der beiden Bulbi weist fast sicher auf eine zentrale Störung, meist eine Hirnstamm- oder Kleinhirnbeeinträchtigung, hin.

Otosklerose (überschießende Knochenbildung im knöchernen Labyrinth) verursacht typischerweise Schwerhörigkeit, manche Patienten reagieren aber zusätzlich mit Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Die Erkrankung findet sich gehäuft bei weißen Frauen zwischen 20 und 40 Jahren, die entweder schwanger sind oder Kontrazeptiva einnehmen.

Auch ein Mangel oder Überschuss an Sauerstoff durch Hypoxie, beispielsweise bei Lungenemphysem oder Hyperventilation bei Angst- und Stresserkrankungen, verursacht Schwindel. Die erforderlichen Hinweise liefert die Atemanamnese, evtl. auch eine Atemdiagnostik.


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In der Anamnese die W-Fragen durchgehen

Wie, wann, wie oft, seit wann? Es sind die ersten Fragen in der Anamnese, und sie geben erste Hinweise auf Ursachen bzw. Notfälle. Fragen nach vorangegangenen Ereignissen, Vorerkrankungen, Medikamenten sowie Schwindel in der Vergangenheit liefern dann weitere wichtige Informationen. Da Schwindel als Frühsymptom u. a. bei kardialen und zerebralen Ereignissen sowie Blutzuckerentgleisung auftritt, sollten besonders bei erstmaligem Auftreten entsprechende Anzeichen als Alarmzeichen gewertet und in alle Richtungen Untersuchungen durchgeführt werden.

Hinweis: Drop Attacks, plötzliche Stürze ohne Bewusstseinsverlust, treten manchmal bei Schwindel auf, können aber auch Folge eines Apoplex sein.

Bei der körperlichen Untersuchung interessieren neben Puls, Blutdruck und Blutzucker der neurologische Status und die Wirbelsäule sowie deren Beweglichkeit. Ein Blick in das Ohr hilft, entzündliche Prozesse zu finden. Dazu gehört dann auch ein sondierender Hörtest.

Die Dauer des Schwindels kann alleine schon auf seine Ursachen hinweisen. Sehr kurze Schwindelattacken können Folge eines Apoplex bzw. dessen Vorboten sein, auf eine Blutdruckkrise, orthostatische Dysregulationen, Blutzuckerprobleme, Morbus Menière, Hyperventilation oder Schwindel durch eine schnelle Kopfdrehung hindeuten. Länger andauernder Schwindel spricht eher für neurologische Störungen wie Neuritis vestibularis, aber auch Wirbelsäulenfehlstellungen. Chronische Formen treten u. a. bei Polyneuropathie, unbehandelten Sehstörungen, Otosklerose oder Akustikusneurinom auf.

Die einfache ärztliche Diagnostik erfordert darüber hinaus bei Verdacht auf eine Durchblutungsstörung der A. vertebralis oder A. carotis communis die Ultraschallsonografie mit Farbdoppler. Diese liefert heute beeindruckende Bilder, ist wenig aufwendig, nicht invasiv und kostengünstig.


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Dreh-, Schwank- oder Liftschwindel?

Dreh-, Schwank- und Liftschwindel (s. Tabelle 2) werden als Hauptformen den systematischen Schwindelformen zugerechnet, bei denen die Ursache im Gleichgewichtsorgan gesucht wird. Darüber hinaus lassen sich weitere Schwindelqualitäten, insbesondere nach Ursachen, unterscheiden. So führen Traumata und Intoxikation (z. B. auch durch toxische Nahrungs-, Rausch- oder Arzneimittel) zu Benommenheitsschwindel, der jedoch nicht mit Bewusstseinseinschränkungen wie Somnolenz (Schläfrigkeit) oder Sopor (schlafender Patient, nicht mehr erweckbar) zu verwechseln ist. Übelkeit, Erbrechen und Durchfälle geben Hinweise auf eine Beteiligung des Magen-Darm-Trakts – hierbei ist auch an Erreger zu denken, z. B. Salmonellen, Enteroviren, E. coli oder Norovirus (Infektionsschutzgesetz beachten!).

TABELLE 2

Systematische Schwindelformen

Schwindelform

Beschreibung des Patienten

Ursache

Drehschwindel

Gefühl, dass „die Welt sich dreht“

Neuritis vestibularis

Schwankschwindel

Gefühl, „dass die Welt schwankt“

Stresserkrankungen, Akustikusneurinom

Liftschwindel

Gefühl, wie mit einem Fahrstuhl nach oben oder unten zu fahren

Morbus Menière


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Lagerungsschwindel ist nicht immer Altersschwindel

Lagerungsschwindel tritt bei Lageveränderungen des Kopfes für einige Sekunden bis Minuten auf. Hierbei sind oft traumatisch bedingt Kalzitsteinchen (Otolithe) in den Sinnesfeldern der Vorhofsäckchen des Bogenganges gelöst, die den Sinneszellen falsche Informationen liefern. Man spricht auch von benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel. Typischerweise kommt es hierdurch zu Drehschwindel, teilweise mit Stresssymptomen wie Schwitzen, Übelkeit und Angst. Meist verschwinden die Symptome nach einigen Wochen wieder. Da der Lagerungsschwindel überwiegend bei Menschen ab 60 Jahren auftritt, wird er den Vertretern des Altersschwindels zugerechnet.

Beim Altersschwindel treffen häufig verschiedene Auslöser zusammen, darunter nachlassende Sehkraft, Polyneuropathie, Arteriosklerose, Blutdruckveränderungen und Medikamentennebenwirkungen, beispielsweise durch Blutdrucksenker. Betroffene bleiben häufig beim Spazierengehen stehen, weil „alles auf einmal nicht mehr geht“. Als einfacher Test in der Praxis wird der Patient aufgefordert, ruhig zu stehen und die Augen zu schließen (vor Sturz sichern). Beginnt er, unmittelbar zu schwanken, ist der Gleichgewichtssinn beeinträchtigt und wird übermäßig visuell kompensiert.

Merke: Man unterscheidet zwischen systematischem (zentral oder peripher, z. B. Kleinhirnläsion oder Neuritis) vestibulären Schwindel und unsystematischem Schwindel anderer Ursache (z. B. Hypotonie).


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Wenn’s nicht der Körper ist

Psychogener Schwindel gilt als Ausschlussdiagnose, wenn andere Schwindelformen ausscheiden. Er tritt häufig in extremen emotionalen Situationen einschließlich psychischer Störungen wie Angstattacken oder Depression auf.


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Erste Maßnahmen und Überlegungen bei Schwindel

In der Praxis wählt man bei akutem Schwindel zuerst eine sichere Lagerung und misst Puls (Anzahl, Regelmäßigkeit, Druck), Blutdruck sowie den Blutzucker.

Blutdruckbedingter Schwindel wird typischerweise von Blässe, Unruhe, Schwäche und Zittern (Hypotonie) oder gerötetem Kopf (Bluthochdruckkrise) begleitet. Eine nachfolgende Bewusstseinstrübung oder Bewusstlosigkeit deutet auf eine kardiovaskuläre Erkrankung oder Zuckerentgleisung hin.

Für eine pathologische Veränderung im Gehirn sprechen u. a. starker Kopfschmerz, Somnolenz, Pupillenasymmetrie oder Nackensteifigkeit. Patienten mit kardiologischer Ursache wählen im drohenden Notfall oft intuitiv eher die sitzende Position, wohingegen sie sich bei Hypovolämie und Hyperglykämie lieber – häufig mit hochgelagerten Beinen – hinlegen.

Eine gute Schwindeldiagnostik bedeutet somit auch „Detektivarbeit“. Sind Notfälle ausgeschlossen, lässt sich die Störung mit der richtigen Arbeitshypothese in den meisten Fällen erfolgreich finden – und behandeln.

Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/s-0036-1584244


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HP Benno Stüve

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Eckardtsweg 9
33617 Bielefeld
E-Mail:
bennostueve@aol.com


Benno Stüve ist Heilpraktiker in niedergelassener Praxis, Physiotherapeut und Lehrer für medizinische Assistenzberufe. Er ist mitunter Referent an der Heilpraktikerschule von Elvira Bierbach in Bielefeld und an der Hufelandschule in Senden.

  • Verwendete Literatur

  • [1] Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2009

  • Verwendete Literatur

  • [1] Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2009

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Abb. 1 Der Vestibularapparat befindet sich im Felsenbein (Pars petrosa), einem Anteil des Schläfenbeins (Os temporale). Quelle: [1]
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Abb. 2 Das Vestibularorgan besteht aus den drei häutigen Bogengängen (Ductus semicirculares) sowie Sacculus und Utriculus mit ihren Makulaorganen. Die Bogengänge enthalten in ihren Erweiterungen (Ampullae) Sinnesleisten (Cristae ampullares). Die Sinnesleisten reagieren auf Drehbeschleunigung, die Makulaorgane auf vertikale (Macula sacculi) bzw. horizontale (Macula utriculi) Linearbeschleunigungen. Foto: Quelle: [1]