-
Neue Entwicklungen bei Diagnosesicherung und Pathogenese:
Hauptkriterien der zur Zeit noch aktuellen WHO-Klassifikation der
Polycythaemia vera (PV) sind eine gesteigerte Erythrozytenmasse und der
Nachweis eines klonalen Markers (JAK2-Mutation).
-
Klinische Symptome: Der Schweregrad der PV-Symptome ist häufig
moderat, jedoch leiden viele Patienten an mehreren Symptomen, wodurch
die Lebensqualität eingeschränkt ist.
-
Therapieziele und Risikostratifizierung: Bei in der Regel guter
Überlebensprognose ist die Reduktion der potenziell bedrohlichen
thromboembolischen Komplikationen primäres Therapieziel. Das Überleben
wird signifikant von der Anzahl der vorliegenden Risikofaktoren
beeinflusst.
-
Therapie: Aderlass, ASS und zytoreduktive Therapie (Hydroxyurea
bzw. Interferon-alpha) sind die Eckpfeiler der Therapie. Der
Tyrosinkinase-Inhibitor Ruxolitinib erweitert die Therapiemöglichkeiten
bei einer Resistenz und Intoleranz gegenüber Hydroxyurea.
Aktueller Stand
Die klassischen myeloproliferativen Neoplasien, chronische myeloische Leukämie,
Polycythaemia vera (PV), essenzielle Thrombozythämie (ET) und die primäre
Myelofibrose (PMF), wurden in der Vergangenheit aufgrund der klinischen Ähnlichkeit
unter dem Begriff der chronischen myeloproliferativen Erkrankungen zusammengefasst
[1]. Nach der Entdeckung des Philadelphia-Chromosoms
und des korrespondierenden bcr-abl-Fusionsgens [2]
[3], welche eine klare Abgrenzung der CML und die
Entwicklung einer zielgerichteten am molekularen Defekt ansetzenden Therapie
erlaubten, standen die anderen Entitäten über längere Zeit im Hintergrund des
klinischen und wissenschaftlichen Interesses. Erst im Jahre 2005 eröffnete die
Entdeckung der JAK2V617F-Mutation, einer Punktmutation im Gen der
JAK2-Tyrosinkinase, neue Perspektiven für Diagnostik und Therapie dieser
Erkrankungen [4].
Die JAK2-V617F-Mutation wird nicht nur als klonaler Marker zur Diagnosesicherung von
PV, ET, PMF und einzelner seltenerer Entitäten eingesetzt, sie ist insbesondere auch
eine Zielstruktur für die Entwicklung selektiver Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI). Mit
der Zulassung des JAK1 /JAK2-Inhibitors Ruxolitinib (Jakavi®) für
Patienten mit PV, die sich refraktär oder intolerant gegenüber Hydroxyurea zeigten,
steht erstmals ein TKI für die Behandlung dieser Erkrankung zur Verfügung.
In Europa liegt die Inzidenz der PV zwischen 0,4 % und 2,8 % pro 100 000 Einwohner
pro Jahr [5]. Das mediane Alter bei Diagnosestellung
beträgt etwa 60 Jahre [6]
[7].
Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt nach aktuellen Analysen bei knapp 19
Jahren und ist trotz dieser relativ günstigen Daten schlechter als die der
Normalbevölkerung [6].
Der natürliche Krankheitsverlauf der PV umfasst unterschiedliche Stadien. Die in der
Regel über Jahre anhaltende chronische Phase ist durch die klinischen Merkmale der
gesteigerten Myeloproliferation charakterisiert. Diese imponiert als Proliferation
aller drei Zellreihen (Erythropoese, Megakaryopoese, Granulopoese) und
Splenomegalie. Die Proliferation der Erythropoese steht hierbei im Vordergrund und
bestimmt das klinische Bild. Häufigste und potenziell bedrohliche Komplikationen
sind arterielle oder venöse Thromboembolien bei bis zu 40 % der Patienten [6]
[7]. Bei unbehandelter PV
stellen sie mit 63 % der Todesfälle die häufigste Todesursache dar [8]. Probleme der Spätphase sind der Übergang in eine
sekundäre Myelofibrose (MF) mit extramedullärer Hämatopoese und zum Teil
ausgeprägter Splenomegalie und die Transformation in eine akute Leukämie. Die Rate
an MF liegt nach einer medianen Beobachtungszeit von 10 Jahren bei 15 %, nach 20
Jahren bei 50 %. Der direkte Übergang in eine akute Leukämie ist selten (4 %),
während etwa 20 % der Patienten mit Post-PV MF in eine AML transformieren [6]
[7]
[10]
[11]
[12].
Neuere Entwicklungen bei Diagnosesicherung und Pathogenese
Neuere Entwicklungen bei Diagnosesicherung und Pathogenese
Die Diagnose der PV wird derzeit noch auf der Basis der WHO-Kriterien aus dem Jahr
2008 gestellt (Tab.
[
1
]) [13]. Diese Klassifikation schließt gegenüber früheren
Versionen den Nachweis der JAK2V617F-Mutation oder eines funktionell ähnlichen
Markers, wie einer Mutation im Exon12 des JAK2-Gens, ein. Etwa 98 % der Patienten
mit PV haben eine Mutation im JAK2-Gen. Aufgrund der Entdeckung der
Calreticulin-Mutation, die bei JAK2-negativen Patienten mit ET und PMF relativ
häufig nachgewiesen wird [14]
[15], ist eine Neufassung der WHO-Diagnosekriterien aller MPN in
Vorbereitung. Bei der PV ist eine Aufwertung des Stellenwertes der
Knochenmarkhistologie als obligat zu erhebendes Hauptkriterium, die Absenkung der
Höhe des diagnostischen Hämoglobinwertes und die Streichung der endogenen
Koloniebildung aus der Liste der Nebenkriterien in Diskussion [16].
Tab. 1
Diagnosekriterien der WHO von 2008 [13].
Die Diagnose Polycythaemia vera wird gestellt, wenn beide Hauptkriterien
und ein Nebenkriterium oder wenn das erste Hauptkriterium und zwei
Nebenkriterien vorliegen.
|
Hauptkriterien
|
-
Hämoglobin > 18,5 g / dl bei Männern, > 16,5 g / dl
bei Frauen oder andere Evidenz einer gesteigerten
Erythrozytenmasse
-
Nachweis der JAK2V617F-Mutation oder einer anderen
funktionell ähnlichen Mutation (z. B. JAK2-Mutation im
Exon 12)
|
|
Nebenkriterien
|
-
Hyperzellularität des Knochenmarkes mit gesteigerter
Erythropoese, Granulopoese und Megakaryopoese
-
Niedriger Erythropoetin-Spiegel
-
Nachweis von endogenen erythroiden Kolonien in vitro
|
Bei fehlendem Nachweis eines molekularen Markers (JAK2V617F- oder Exon12-Mutation)
ist, wie bereits in der Vergangenheit, differenzialdiagnostisch eine sekundäre
Polyglobulie auszuschließen. Häufigere Ursachen hierfür sind kardiale oder pulmonale
Erkrankungen, insbesondere Herzinsuffizienz und chronische Lungengerüsterkrankungen
sowie starker Nikotinkonsum. Bei der Suche nach selteneren Ursachen ist insbesondere
an das Schlaf-Apnoe-Syndrom, Tumorerkrankungen mit paraneoplastischer
Erythropoietinproduktion, medikamentös induzierte Polyglobulie und kongenitale
Erythrozytosen zu denken [17]
[18].
Nach aktuellem Kenntnisstand kommt Mutationen, die den JAK-STAT-Signalweg betreffen,
eine Schlüsselrolle in der Pathogenese verschiedener Malignome oder durch
Veränderungen im Immunsystem ausgelöster Erkrankungen zu [19]
[20]. Neben den Mutationen im
JAK-STAT-Signalweg wurden zusätzlich weitere, auf anderen Ebenen der
Signaltransduktion und Genregulation ansetzende Mutationen gefunden [21]. Für verschiedene Entitäten der MPN, einschließlich
der PV, konnte gezeigt werden, dass eine höhere Anzahl an Mutationen signifikant mit
einer schlechteren Prognose korreliert [22]. Ergebnisse
aus jüngster Vergangenheit machten deutlich, dass die Reihenfolge des Auftretens der
Mutationen (z. B. von TET2 und JAK2V617F) einen Einfluss auf klinische Parameter,
z. B. den Phänotyp (PV vs. ET) und die Empfindlichkeit der Zellen gegenüber
Ruxoltinib haben kann [23]. Die zunehmend bessere
Kenntnis der molekularen Veränderungen bei den MPN einschließlich der PV und deren
Korrelation zur Prognose deutet darauf hin, dass das individuelle molekulare Profil
in Zukunft einen wichtigen Stratifizierungsparameter für Therapieentscheidungen
darstellen dürfte.
Das Screening auf JAK2-Mutationen ist bei bestehendem Verdacht auf PV
obligat.
Klinische Symptome
Im früheren Krankheitsstadium stehen Symptome im Vordergrund, die durch die erhöhte
Blutviskosität bedingt sind. Zu den thromboembolischen Komplikationen trägt neben
dem erhöhten Hämatokrit und der ggf. gesteigerten Thrombozytenzahl eine ganze Reihe
inzwischen recht gut definierter weiterer thrombogener Mechanismen bei, die eine
zusätzliche Aktivierung von Gefäßendothel, Gerinnungssystem, Leukozyten und
Thrombozyten bewirken können [24]. Relativ häufig sind
kardiale und zerebrale arterielle Gefäßverschlüsse und periphere Venenthrombosen.
Selten, aber für die PV und andere MPN nicht ungewöhnlich, sind abdominelle
Venenthrombosen (Budd-Chiari-Syndrom, Pfortaderthrombose, Nierenvenenthrombose
u. a.) und Thrombosen im Cerebralsinus [25]
[26]
[27]
[28]. Auch Mikrozirkulationsstörungen führen zu charakteristischen
klinischen Symptomen (Tab.
[
2
]).
Tab. 2
Spektrum typischer klinischer Symptome bei Polycythaemia vera [7]
[29].
|
Arterielle und venöse Thromboembolien im Bereich der großen
Gefäße
|
Mikrozirkulationsstörungen
|
Konstitutionelle und allgemeine Symptome
|
-
Myokardinfarkt
-
Akutes Koronarsyndrom
-
Apoplex, TIA
-
Periphere arterielle Verschlusskrankheit
-
Tiefe Venenthrombose
-
Lungenarterienembolie
-
Intraabdominelle Venenthrombose (Budd-Chiari-Syndrom,
Pfortaderthrombose u. a.)
-
Zerebralsinus-Thrombose
|
-
Parästhesien
-
Kopfschmerzen
-
Sehstörungen
-
Schwindel
-
Erythromelalgie
|
-
Müdigkeit (Fatigue)
-
Pruritus
-
Nachtschweiß
-
Knochenschmerzen
-
Fieber
-
Splenomegalie
-
Gewichtsverlust
|
In aktuellen Analysen aus den USA und Europa wurde anhand von Patientenfragebögen
Häufigkeit und Schweregrad der klinischen Symptome (Grad 1 bis 10) der Patienten
erfasst (Abb.
[
1
]). Die Resultate machen
deutlich, dass der durchschnittliche Schweregrad zwar relativ moderat ist, dass aber
nicht wenige Patienten an mehreren Symptomen leiden, was die Lebensqualität
erheblich beeinflussen kann [29]
[30]. Insbesondere der oft quälende und nicht selten therapierefraktäre
Pruritus stellt für manche Patienten ein die Lebensqualität und den Aktionsradius
massiv beeinträchtigendes Symptom dar. Die systematische Erfassung der mit MPN
assoziierten Symptome und deren Ausprägung haben wesentlich dazu beigetragen den
ärztlichen Blick für diese Problematik zu schärfen.
Abb. 1 Prävalenz und Schweregrad der Polycythaemia-vera-Symptome [29]. Der Schwergrad der Syptome wird nach einer Skala
von Grad 1 bis 10 vom Patienten bewertet.
Patienten mit PV haben ein breites Spektrum an Symptomen, welche die
Lebensqualität erheblich einschränken können.
Therapieziele und Risikostratifizierung
Therapieziele und Risikostratifizierung
Vordringliche Therapieziele bei der PV sind
-
die Vermeidung thromboembolischer Komplikationen und
-
die Besserung der subjektiven Beschwerden.
-
Vermeidung von Spätkomplikationen
In erster Linie soll die Therapie thromboembolische Komplikationen reduzieren. Sie
wird in Abhängigkeit vom Thromboserisiko stratifiziert [17]
[31]. Höheres Alter und bereits
stattgehabte thromboembolische Komplikationen sind entscheidende Risikofaktoren für
Thrombosen und die Basis der Risikostratifizierung. Bei jüngerem Lebensalter (unter
60 Jahren) ohne weitere Risikofaktoren liegt ein niedriges Thromboembolierisiko vor,
bei Vorhandensein eines oder beider Faktoren ein hohes Risiko. Auch bei
Niedrigrisikopatienten ist das Thromboembolierisiko verglichen mit der
Normalbevölkerung etwa um den Faktor 2,5 erhöht, liegen beide Risikofaktoren vor ist
es 10-fach höher [32]. Weitere Risikofaktoren sind
kardiovaskuläre Erkrankungen, Nikotinkonsum sowie eine hohe Leukozytenzahl, die bei
Entscheidungssituationen berücksichtigt werden sollten [33].
In jüngerer Vergangenheit wurden zur Einschätzung der individuellen
Überlebensprognose von PV-Patienten Scores entwickelt. Beide Scores wurden auf Basis
retrospektiver Datensammlungen zusammengestellt. Sie schließen höheres Lebensalter
(> 60 bzw. > 70 Jahre), eine zum Diagnosezeitpunkt stattgehabte Thrombose und
eine erhöhte Leukozytenzahl (> 13 000 / µl bzw. ≥ 15 000 / µl) als Risikofaktoren
ein. Das Überleben von PV-Patienten wird signifikant von der Anzahl dieser Faktoren
beeinflusst; Patienten ohne Riskofaktor hatten die beste und Patienten mit
gleichzeitigem Vorliegen mehrerer Risikofaktoren die schlechteste Prognose [6]
[34].
Die Senkung des Thromboembolierisikos ist ein wesentliches Ziel bei der Therapie
der PV.
Therapie – aktueller Stand
Therapie – aktueller Stand
Der aktuell empfohlene Therapiealgorithmus (Abb.
[
2
]) entspricht den internationalen Therapieempfehlung für PV
[17]
[33]
[35]. Nachdem in der Vergangenheit der Zielhämatokrit
unzureichend definiert war und die Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) wegen des
gefürchteten Blutungsrisikos bei höheren Dosen als obsolet galt, gibt es inzwischen
für den Einsatz beider Therapiemaßnahmen aufgrund randomisierter Studien klare
Empfehlungen. Unabhängig von der individuellen Risikozuordnung ist das primäre
Therapieziel die gleichmäßige Absenkung des Hämatokrit auf Werte unter 45 % zunächst
mit Aderlasstherapie, da höhere Grenzwerte mit einer gesteigerten Rate an
arteriellen und venösen Thromboembolien verbunden waren [36]. Aufgrund des bei PV gesicherten antithrombotischen Effektes wird
zusätzlich die Gabe von niedrig dosierter Azetylsalicylsäure (100 mg ASS pro Tag)
empfohlen [37].
Abb. 2 Therapiealgorithmus bei Polycythaemia vera (PV). Interferon wird
vorzugsweise bei jüngeren Patienten (< 40 Jahren) empfohlen, Busulfan und
Radiophosphoe bei älteren Patienten (> 75 Jahren) [17]
[31].
Für Patienten der Niedrigrisikogruppe gilt die Kombination von Aderlässen und ASS
als
Therapie der Wahl. Bei Patienten mit primär hohem Risiko besteht primär die
Indikation zur zusätzlichen Einleitung einer zytoreduktiven Therapie, ggf. zunächst
unter Fortsetzung der Aderlasstherapie bis zur Stabilisierung des Hämatokritwertes.
Auch die im Verlauf zunehmende Krankheitsaktivität (Steigerung der
Myeloproliferation mit zunehmender Aderlassfrequenz, Anstieg von Thrombozyten und
Leukozyten und Zunahme der Splenomegalie, verstärktes Auftreten von
konstitutionellen Symptomen u. a.) ist in der Regel eine Indikation zur Einleitung
einer zytoreduktiven Therapie. Liegen zusätzlich kardiovaskulärer Risikofaktoren vor
– bei ansonsten niedrigem Thromboserisiko – kann ebenfalls eine zytoreduktive
Therapie indiziert sein. Genau definierte verbindliche Kriterien, wann eine
zytoreduktive Therapie eingeleitet werden sollte, liegen allerdings nicht vor,
sodass diese Entscheidung individuell getroffen werden muss. Die sehr begrenzt
verfügbaren Resultate von Langzeitanalysen zeigten, dass der Anteil von Patienten,
die über große Zeiträume mit einer alleinigen Aderlassbehandlung ausreichend
therapierbar waren, unter 10 % lagen [38].
Aufgrund des leukämogenen Effektes verschiedener in der Vergangenheit eingesetzter
Substanzen (Alkylanzien, hier insbesondere Chlorambucil, sowie Radiophosphor) sind
die verbliebenen zytoreduktiven Therapiemöglichkeiten bei der PV relativ begrenzt
[39]. Hydroxyurea (HU) ist die aktuelle
Standardtherapie zur Reduktion der Myeloproliferation. Auch für HU wurde primär ein
leukämogenes Potenzial angenommen. Allerdings wurde dieser Effekt in prospektiven
Studien nie eindeutig belegt, sodass er inzwischen, wenn überhaupt vorhanden, als
sehr gering eingeschätzt wird [12]
[32]
[40]. Da Richtlinien für einen
einheitlichen Gebrauch von HU fehlten, wurden im Rahmen des Europäischen
Leukämienetzes Kriterien für Resistenz und Intoleranz gegenüber HU definiert
(Tab.
[
3
]) [41]. In einer retrospektiven Anwendung dieser Kriterien auf ein Kollektiv
von 261 PV-Patienten ergab sich, dass 12 % der Patienten primär resistent und 13 %
intolerant waren. Etwa 40 % verloren das Ansprechen während des Therapieverlaufes.
Zum Teil wurde die HU-Therapie trotz unbefriedigenden Ansprechens beibehalten, was
am ehesten auf den Mangel an therapeutischen Alternativen zurückgeführt werden kann.
Es ist hervorzuheben, dass die Resistenz gegen HU mit einer schlechteren
Überlebensprognose und einer höheren Transformationsrate in eine akute Leukämie
verbunden war [42].
Tab. 3
ELN-Definition der Resistenz oder Intoleranz gegenüber Hydroxyurea
(HU) bei Polycythaemia vera [41].
|
1. Aderlassbedürftigkeit nach 3-monatiger Therapie mit mindestens
2 g HU / Tag, um den Hämatokrit unter 45 % zu halten
oder
|
|
2. Unkontrollierte Myeloproliferation (d. h. Thrombozyten
> 400 000 /µl oder Leukozyten > 10 000 /µl) nach 3 Monaten
Therapie mit mindestens 2 g HU / Tag oder
|
|
3. Milzgrößenreduktion unter 50 % bei massiver[1] Splenomegalie (Beurteilung durch
Palpation) oder unvollständiges Verschwinden von durch die
Splenomegalie bedingten Symptomen nach 3-monatiger Therapie mit
mindestens 2 g HU / Tag oder
|
|
4. Absolute Neutrophilenzahl < 1000 /µl oder
Thrombozytenzahl < 100 000 /µl oder Hämoglobin
< 10 g / dl mit der niedrigsten Dosis von HU, die
erforderlich ist, um ein komplettes[2] oder partielles[3]
klinisch-hämatologisches Ansprechen zu erzielen oder
|
|
5. Ulzera an den Beinen oder andere unakzeptable HU-bedingte
nicht-hämatologische Toxizitäten, wie andere Manifestationen an
Haut oder Schleimhäuten, gastrointestinale Symptome, Pneumonitis
oder Fieber unabhängig von der Dosierung von HU.
|
1 Milz > 10 cm unter dem Rippenbogen
2 Hämatokrit < 45 % ohne Aderlasstherapie, Thrombozyten
≤ 400 000 /µl, Leukozyten, ≤ 10 000 /µl und keine
krankheitsbedingten Symptome
3 Hämatokrit < 45 % ohne Aderlasstherapie oder Ansprechen von mehr
als drei anderen Kriterien
Interferon alpha (IFN) ist in herkömmlicher und in pegylierter Form verfügbar, jedoch
für die bcr-abl-negative MPN nicht zugelassen. Die Gesamtansprechrate bei PV beträgt
etwa 80 %, die Rate an Aderlassfreiheit etwa 60 %. IFN ist nicht leukämogen und gilt
deshalb als Therapie der Wahl bei jüngeren PV-Patienten. IFN kann bei einem
nennenswerten Anteil von Patienten den JAK2V617F-positiven Klon bis unterhalb der
Nachweisgrenze reduzieren [43]
[44]
[45]. Man geht deshalb davon aus, dass IFN
auch die Entwicklung der Spätstadien (Myelofibrose und akute Leukämie) entweder ganz
verhindern oder zumindest stark reduzieren kann.
Busulfan ist eine weitere Therapiemöglichkeit bei PV . Es wurde in früheren
Therapiestudien eingesetzt, erwies sich als wenig toxisch und ist auch bei Patienten
mit PV hochwirksam, die gegenüber mehreren anderen Substanzen therapierefraktär
waren. Der leukämogene Effekt wird als gering eingeschätzt [46]. Busulfan stellt vor allem für ältere Patienten eine
Therapiemöglichkeit dar, wenn andere Alternativen ausgeschöpft sind [47]. Die bislang einzige kurative Therapieoption, die
allogene Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation, ist aufgrund der zumeist guten
Prognose der PV in der Regel nur bei Übergang in eine Post-PV MF indiziert.
Neue Therapieoptionen
Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) stellen eine neue Substanzgruppe zur Therapie von MPN
dar. In den letzten Jahren wurden verschiedene Inhibitoren der Janus-Kinase (JAK)
entwickelt [48]. Die JAK-Inhibitoren blockieren die
ATP-Bindungsstelle der Tyrosinkinasedomäne und verhindern auf diese Weise die
Phosphorylierung und damit Aktivierung der Kinase und der nachfolgenden
Signalkaskaden (u. a. von STAT-Molekülen, welche als Transkriptionsfaktoren die
Zellproliferation induzieren). Auf diese Weise wird die durch die JAK2V617F-Mutation
induzierte konstitutionelle Aktivierung des JAK-STAT-Signalweges blockiert. Die
bisher entwickelten JAK-Inhibitoren sind nicht ausschließlich auf die mutierte
JAK2-Tyrosinkinase ausgerichtet, sondern hemmen auch den JAK2-Wildtyp und zumeist
noch weitere Kinasen (z. B. JAK1, JAK3, TYK u. a) [17]
[18].
Die Wirksamkeit des selektiven JAK1 /JAK2-Inhibitors Ruxolitinib wurde zunächst bei
Myelofibrose untersucht und zeigte hier eine eindrucksvolle Rückbildung der oft
exzessiven Splenomegalie und der konstitutionellen Symptome, was zur Zulassung der
Substanz bei der MF führte [49]
[50]. Seit Kurzem sind auch Resultate einer Phase-III-Studie bei PV
verfügbar. In dieser Studie wurde der TKI mit der besten verfügbaren Therapie („best
available therapy“ – BAT) verglichen. Eingeschlossen wurden PV-Patienten, die (nach
den modifizierten ELN-Kriterien [41]) resistent oder
intolerant gegenüber HU waren (Tab.
[
3
]).
Weitere Voraussetzungen waren Aderlassbedürftigkeit und Splenomegalie. Die Therapie
mit Ruxolitinib (n = 110) erwies sich hinsichtlich der Kontrolle der hämatologischen
Parameter und der Besserung der klinischen Symptome der BAT (n = 112) als eindeutig
überlegen und belegte somit die Wirksamkeit dieser Substanz auch bei der PV [51].
Die Hauptresultate der Studie sind in Tab.
[
4
] dargestellt. Die Überlegenheit des Ruxolitinib-Armes betraf das
Erreichen des primären Endpunktes (20,9 % vs. 0,9 %; p < 0,001), definiert als
Hämatokritkontrolle und Reduktion des Milzvolumens (geforderte Abnahme ≥ 35 % im
MRT) in Woche 32 nach Therapiebeginn. Hämatokritkontrolle lag vor, wenn maximal ein
Aderlass bis Woche 8 und kein Aderlass zwischen Woche 8 und 32 notwendig war. Noch
eindrucksvoller waren die Vorteile von Ruxolitinib gegenüber BAT bei der
Einzelauswertung der beiden Parameter (Hämatokritkontrolle: 60 % vs, 19,6 %;
Milzvolumen: 38,2 % vs. 0,9 %). Ein komplettes hämatologisches Ansprechen hatten
23,6 % der Patienten der Ruxolitinib-Gruppe vs. 8,9 % der BAT-Gruppe (p = 0,003).
Weitere Vorteile für Ruxolitinib ergaben sich im Hinblick auf den Rückgang der
Allel-Last und der niedrigeren Rate an thromboembolischen Komplikationen [51].
Tab. 4
Auswahl wichtiger Resultate mit Ruxolitinib im Vergleich zu bester
verfügbarer Therapie [51].
|
Therapieergebnis in Woche 32
|
Ruxolitinib (n = 110)
|
beste verfügbare Therapie (n = 112)
|
|
Hämatologisches Ansprechen
|
|
|
21 %
|
1 %
|
|
|
60 %
|
20 %
|
|
|
38 %
|
1 %
|
|
|
24 %
|
9 %
|
|
Symptomkontrolle
|
|
|
49 %
|
5 %
|
|
Mediane Zu- oder Abnahme im Symptom-Score (Therapiebeginn bis
Woche 32)
|
|
|
minus 50 %
|
minus 4 %
|
|
|
minus 95 %
|
minus 2 %
|
|
|
minus 100 %
|
plus 4 %
|
|
|
minus 80 %
|
plus 8 %
|
|
|
minus 44 %
|
plus 17 %
|
|
|
minus 94 %
|
plus / minus 0 %
|
|
|
minus 66 %
|
plus 1 %
|
1 Kombinierter Endpunkt: Hämatokritkontrolle (nicht mehr als ein
Aderlass zwischen Therapiebeginn und Woche 8, keine
Aderlassbedürftigkeit zwischen Woche 8 und 32) und Reduktion des
Milzvolumens ≥ 35 %
2 Komplettes hämatologisches Ansprechen: Hämatokritkontrolle,
Thrombozytenzahl ≤ 400 000 /µl, Leukozytenzahl ≤ 10 000 /µl
3 p = 0,003
4 verwendete Symptom-Scores siehe Originalpublikation [51]
Die Therapie mit Ruxolitinib war auch mit einer eindrucksvollen Besserung der
klinischen Symptome verbunden (Tab.
[
4
]).
Besonders hervorzuheben ist die hohe Rückbildungsrate des oft therapierefraktären
Pruritus. Die Daten weisen außerdem auf die Nachhaltigkeit der Effekte von
Ruxolitinib hin, da 84,5 % der Patienten nach einem medianen Follow up von 81 Wochen
weiterhin Ruxolitinib einnahmen, während 96,4 % der Patienten aus dem BAT-Arm auf
Ruxolitinib gewechselt waren. Das schlechtere Abschneiden des BAT-Armes ist
allerdings nicht ganz unerwartet, da 59 % der Patienten im BAT-Arm HU erhielten, auf
welches sie als resistent oder intolerant eingestuft worden waren [49]. Wie bereits bei der Myelofibrose gezeigt, hat
Ruxolitinib eine geringe Toxizität (Tab.
[
5
]). Zu erwähnen ist die etwas höhere Rate an Infektionen im
Ruxolitinib-Arm, möglicherweise als Ausdruck immunsuppressiver und
antiinflammatorischer Effekte [51].
Tab. 5
Auswahl relevanter unerwünschter Effekte unter Ruxolitinib im
Vergleich zu bester verfügbarer Therapie [51].
|
Unerwünschte Effekte bis Woche 32
|
Ruxolitinib (n = 110) [n]
|
BAT (n = 112) [n]
|
|
Thromboembolien
[*]
|
1
|
6
|
|
Diarrhoe
[*]
|
16
|
8
|
|
Muskelkrämpfe
[*]
|
13
|
5
|
|
Dyspnoe
|
11
|
2
|
|
Dyspnoe Grad 3 oder 4
|
3
|
0
|
|
Infektionen gesamt
|
46
|
41
|
|
Infektionen Grad 3 oder4
|
4
|
3
|
|
Herpes Zoster
|
7
|
0
|
|
Myelofibrose
|
3
|
1
|
|
AML
|
1
|
0
|
* Unerwünschte Effekte Grad 3 oder 4 nur in ganz vereinzelten
Fällen.
Von einer weiteren in Auswertung befindlichen Studie (RELIEF-Studie), wird eine noch
bessere Einschätzung des Einflusses von Ruxolitinib auf die konstitutionellen
Symptome erwartet. Eine aktuell in Deutschland aktive Studie vergleicht Ruxolitinib
mit BAT bei PV und ET (Ruxo-BEAT-Studie, EudraCT 2013–002132–25) und schließt auch
nicht vorbehandelte Patienten ein.
Weitere TKI (CYT387-Momelotinib, LY2784544) wurden in klinischen
Phase-I- / -II-Studien untersucht (NCT1998828 bzw. NCT01134120). Klinische Studien
wurden bei MPN auch mit Histon-Deacetylase-Inhibitoren durchgeführt. Bei Patienten
(n = 44), die gegenüber HU alleine resistent waren, wurde die Kombination von HU und
Givinostat im Rahmen eine Phase-II-Studie untersucht. In etwa der Hälfte der
Patienten wurde eine komplette oder partielle Remission erzielt, was die Wirksamkeit
dieser Substanz bei der PV belegt [52]. In weiteren
laufenden Studien wird IFN mit HU in der Primärtherapie verglichen (NCT01259856 und
NCT01949805). Erste Beobachtungen lassen positive Effekte der Kombination von
Ruxolitinib mit niedrig dosiertem IFN erkennen [53].
Der JAK1 /2-Tyrosinkinaseinhibitor Ruxolitinib zeigte in einer klinischen Studie
eine gute Kontrolle der gesteigerten Myeloproliferation und der vielfältigen
klinischen Symptome und ist für die Behandlung von Patienten mit PV, die
gegenüber Hydroxyurea intolerant oder resistent sind, zugelassen.
Ausblick
Im vergangenen Jahrzehnt wurden eindrucksvolle Fortschritte hinsichtlich des
Verständnisses der Pathogenese, der Diagnostik und der Entwicklung von neuen
zielgerichteten Therapien bei der PV und anderen MPN gemacht. Mit Ruxolitinib steht
erstmals ein TKI für die Behandlung einer Subgruppe von Patienten mit PV zur
Verfügung. Weitere Daten werden benötigt, die es erlauben die Wirksamkeit von
Ruxolitinib bei der Gesamtheit der PV-Patienten einzuschätzen und die
Langzeiteffekte zu bewerten. IFN ist bei PV hochwirksam und stellt derzeit die
einzige Substanz dar, welche den malignen Klon signifikant reduzieren kann, was
positive Effekte auf die Spätfolgen der PV erwarten läßt. Trotz dieser Fortschritte
sind weitere Anstrengungen zur Therapieoptimierung der PV auch in Zukunft dringend
erforderlich.
Der Beitrag wurde gemäß folgendem Erratum korrigiert:
Der englische Titel des Beitrags
„Diagnostik und Therapie der Polycythaemia vera im Jahre
2015“
(Dtsch
Med Wochenschr 2015; 140: 1501–1506)
lautet:
Diagnosis and treatment of polycythemia vera in the year 2015