Der Kampf um die Humanisierung der Psychiatrie verlangt Rückgrat. Für Besucher im
Hause Dörner gilt das wörtlich: Während der 82 Jahre alte Professor im Arbeitszimmer
der großzügigen Eppendorfer Altbauwohnung erklärt, wie er seit Jahrzehnten dickste
Bretter bohrt, versinkt man in der Tiefe des braunen Breitcord-Polstersessels, beugt
sich gebannt nach vorn und spürt irgendwann dieses Ziehen im Kreuz. Und in der
Lunge. Nach mehrstündigem Kolloquium ist die warme Luft gesättigt vom Rauch der
Pfeife. Wohl dem, der selbst qualmt.
Abb. 1 Von wegen „delete“: Ausgemustert wird das funktionstüchtige Schreibgerät …
(Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 2 ... ebenso wenig wie die eingerauchten Exemplare desselben Typs Pfeife … (Foto:
Paavo Blåfield)
Abb. 3 … oder die gut durchgearbeitete Schreibunterlage. (Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 4 Was aus dieser analogen Welt heraustransportiert wird … (Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 5 … ist so brisant und aktuell wie eh und je. (Foto: Paavo Blåfield)
Aber wer hat gesagt, dass die Begegnung mit diesem blitzwachen Gesinnungstäter bequem
und angenehm geraten müsse? So viel wusste man schon vorher: Klaus Dörner, Doktor
der Medizin und der Philosophie, Studium der Soziologie und der Geschichte,
Verfasser des Standardwerks „Bürger und Irre“, Mitautor des Psychiatrie-Bestsellers
„Irren ist menschlich“, Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie in Gütersloh
von 1981 bis zur Pensionierung 1996, unerbittlicher Gegner der Verwahrung chronisch
Kranker in Anstalten, Impulsgeber für zahlreiche Bürger- und
Nachbarschaftsinitiativen der ambulanten, kommunalen Versorgung pflegebedürftiger
Menschen, Vortragsreisender mit einem Pensum von rund 200 Auftritten pro Jahr –
dieser Mann des Geistes wie der Aktion verlangt seinen Mitmenschen das Äußerste ab
im Namen der Menschlichkeit: Die Konfrontation mit sich selbst.
Und wie könnte man ihm das verübeln, wo er doch auch sich selbst nicht schont. Schon
physisch nicht. Zu seinen Vorträgen reist er stets mit der Bahn, zweiter Klasse;
statt sich ins Taxi zu setzen, geht er zu Fuß; zwischen zwei Auftritten fährt er
lieber heim zu seiner Frau, als im schnell erreichbaren Hotel zu übernachten, er hat
ja die Bahncard 100; seinen Kaffee trinkt er schwarz, und vor einem Vortrag isst er
nichts. Würde nur belasten.
Dörnern – man verwendete dieses Verb augenzwinkernd, als Warnung vor
Übermotivation.
Zum 80. haben die drei Verlage, in denen er publiziert, diesem eigenwilligen Mann
ein
Büchlein mit 80 Dankesbriefen von Menschen geschenkt, in deren Institutionen er zu
Gast war. „Herr Dörner kommt mit dem Zug“, heißt es. Darin sind bewegende
Dankesworte zu lesen über diesen „wichtigen Wegweiser“, den „Wortzauberer“, den
„Guru der Sozialpsychiatrie“, den „Visionär“. Einer schrieb: „Anfang der 1990er gab
es das Verb ,dörnern‘ auf psychiatrischen Stationen. Man verwendete es
augenzwinkernd als Warnung vor Übermotivation.“
Nicht nur mit sich, auch mit dem Denkmal seiner selbst geht Dörner schonungslos um.
Den Besuch der PPH nutzt der fünffache Vater und zehnfache Großvater, heftig
daran zu rütteln, statt es zu polieren. Die Stunden in der Wohnung in
Hamburg-Eppendorf geraten zu einer heiteren Demythologisierung seiner selbst und
seines fundamental-kritischen Werks. „Man könnte es aber auch genau andersherum
sehen“ – wenn er das sagt, geht es ihm freilich nicht ums pure Relativieren. Er will
Horizonte öffnen, Denken als Probehandlung erproben. Und nach wie vor die Welt
verbessern. Zumindest den Teil, auf den er Einfluss hat – die Pflege und Betreuung
alter Leute und psychisch Kranker.
Langzeitpatienten als Geiseln der Heime und ihrer Träger.
„Irren ist menschlich“, der Titel erweist sich während des Besuchs als Dörners
Grundhaltung. Er rechnet mit der eigenen Fehlbarkeit. Mehr als einmal wird Dörner
an
diesem Tag betonen, was gut, aber nicht gut genug gelaufen ist, was Glück war oder
Zufall. Kein Widerspruch, dass sich das 1978 erschienene Werk 400 000 mal verkauft
hat und er gerade an der 24. Auflage sitzt. Der Erfolg hat eben mit der Methode zu
tun, die ihm zur zweiten Natur geworden ist: Das selbstkritische Erkunden der
Landschaft, in der man therapeutisch tätig wird. Wie könnte das je an ein Ende
kommen?
Generationen von psychiatrisch Tätigen und Betroffenen haben darin leicht
verständliche, herausfordernde Sätze gelesen. Im Vorwort zur aktuellen Auflage geht
es ums Ganze: „Vor allem unser Verstehensbegriff, unser Bemühen, den psychisch
Kranken als Anderen zu verstehen, uns in ihn einzufühlen, achtet nicht immer radikal
genug die Andersartigkeit, Fremdheit und damit die Würde des Anderen.“
Es sei zu fragen, ob „unser bisheriger Ansatz einer nochmaligen strengen kritischen
Prüfung standhält“. Und statt es bei abstrakten Worten zu belassen, wird tiefer
hineingebohrt in die Wunde im eigenen Fleisch: „Es spricht auch nicht gerade für
uns, dass wir bisher für die psychisch Kranken, gerade wo sie am schwächsten und
ausgegrenztesten sind, die geringste Aufmerksamkeit übrig hatten.“ Die Rede sei von
den „psychisch kranken Straftätern im Maßregelvollzug“ und von den
„Langzeitpatienten“. Die habe man bis in die heutige Zeit hinein von „Geiseln der
Landeskrankenhäuser“ zu „Geiseln der Heime und ihrer Träger“ gemacht.
Die Befreiung dieser „Geiseln“ aus Gründen der Menschlichkeit, das war Dörners
erklärtes Ziel, als er und Suse, seine zweite Frau, eine gelernte Krankenschwester,
von Hamburg nach Gütersloh gingen. Und tatsächlich war nach gut 15 Jahren auch der
letzte der 435 chronisch psychisch Kranken entlassen. In „Ende der Veranstaltung –
Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie“ haben Dörner und einige Mitstreiter
beschrieben, wie das gelang, und wie es dann mit den Patienten weiterging. Es
lieferte den Beweis: Chronisch psychisch Kranke brauchen kein stationäres
Heilsystem.
Doch jenes Buch, auf das er stolz ist, weil es Resultat der „eigenen, langjährigen
handfesten Arbeit in der Psychiatrie“ ist, kam am wenigsten an. Dörner redet nichts
schön. Er sagt: „Mangels Interesse ist es nicht gekauft worden.“ Und korrigiert sich
gleich selbst: „Es hat zu sehr gegen die gesamte Psychiatrie-Tradition
verstoßen.“
Was der gebürtige Duisburger, Sohn eines praktischen Arztes und Geburtshelfers, in
Gütersloh ins Werk gesetzt hat, das war die radikale Fortsetzung der
Psychiatrie-Enquête von 1975. Die sah Dörner als „zu sehr vom Akut-Kranken her“
gedacht. 1988 hat eine Expertenkommission der Bundesregierung zur Psychiatriereform
eine Empfehlung zugunsten einer Gemeindepsychiatrie abgegeben, die habe von den
chronisch Kranken auszugehen. Nur: Passiert ist es nicht.
Wir haben über Generationen hinweg grob fahrlässig Freiheitsberaubung
betrieben.
Dann kommt einer dieser donnernden Dörner-Sätze, in ruhigem Ton vorgebracht: „Wir
alle haben über Generationen hinweg grob fahrlässig Freiheitsberaubung betrieben.
Und uns dafür auch noch Bundesverdienstkreuze und andere Orden anstecken lassen.“
Hunderttausende wurden Dörner zufolge auf diese Weise lediglich in Heime
„umhospitalisiert“. Die Medizin liebe die Heilbaren, nicht die Unheilbaren.
Wenn es ums Wegsperren geht, wird Dörner noch schärfer – gegen sich selbst: In
„Bürger und Irre“ habe er den Gedanken schon einmal gedacht, dass die Psychiatrie
„soziale Euthanasie“ betrieben habe und die Nazis die tatsächliche Euthanasie nur
„draufgesattelt“ hätten. Doch das Verrückte: „Als ich mich selbst hinein begeben
habe in die Praxis der Psychiatrie, ist es mir wahrhaftig gelungen, diesen Gedanken
jahrzehntelang zu verdrängen. Erst als der Aachener Professor Frank Schneider 2010
als Präsident des Psychiatrischen Dachverbands DGPPN in einer historischen Rede die
Frage aufwarf, ob die Euthanasie mehr ein Naziprogramm oder mehr ein
Psychiatrieprogramm gewesen sei, habe er sich wieder an seine damaligen Gedanken
erinnert.
„Ende der Veranstaltung“, das ihm wichtigste Buch, wurde weitgehend ignoriert, aber
Dörner hat nicht resigniert. Im Gegenteil. Das hat ihn angestachelt. So hat sich der
Mann wieder an seine Rheinmetall-Schreibmaschine gesetzt, an der schon die beiden
Doktorarbeiten entstanden sind, und hat für die Neuauflage im Sommer 2015 ein neues
Vorwort geschrieben.
Bei der Inklusion darf Zeit keine Rolle spielen.
Selbstkritik auch darin: Der Erfolg der Integration wäre noch größer gewesen, hätte
man sich damals noch zwei, drei Jahre mehr Zeit gelassen. Seine Lehre für heute:
„Bei der Inklusion darf Zeit keine Rolle spielen.“ Und sie müsse auch für
Flüchtlinge gelten, die hätten auch ein Recht, in normalen Wohnungen zu leben.
Solche Sätze hackt Dörner nicht in den Computer. Er hat keinen. Und er will keinen.
Wer mit ihm korrespondieren will, erhält getippte Postkarten und kann ihn anrufen.
Er steht im Telefonbuch.
Dass der Mann beharrlich am Bewährten festhält, dass es mindestens einen Verlag gibt,
der seine radikalen Forderungen druckt, hat auch mit jenem Bild zu tun, das am
schlichten Fichtenholzschrank gleich neben dem Eingang zum Arbeitszimmer klebt. Kaum
hat man sich erkundigt, wer die altmodisch gekleideten Herren darauf seien, steht
man schon davor, und Dörner deutet auf den melancholisch dreinblickenden Herrn
links. Jakob van Hoddis. Dichter des Expressionismus, „Das Weltende“. „Dem Bürger
fliegt vom spitzen Kopf der Hut“, hebt Dörner an, „in allen Lüften hallt es wie
Geschrei …“.
Abb. 6 Vor einem Schwarz-Weiß-Faksimile am Schrank: Dörner (Jhg. 1933) erklärt
dem Gast (Jhg. 1963), was es auf sich hat mit einem der abgebildeten Herren
(Jhg. 1887). (Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 7 Der Zweite von links, das ist der expressionistische Dichter und spätere
Psychiatriepatient Jakob van Hoddis. Er wurde 1942 Opfer der Nazis. Dörner
benannte seinen selbstgegründeten Verlag nach ihm. (Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 8 Alt bewährt: Auf dieser Schreibmaschine der Marke „Rheinmetall“ entstanden
schon die beiden Doktorarbeiten in Medizin und Philosophie. Ein Computer kommt
dem Mann nicht ins Haus. (Foto: Paavo Blåfield)
Dieser van Hoddis, erklärt der Gastgeber, hatte einen dreifachen Makel: „Er war Jude,
entarteter Dichter, und psychisch krank.“ Nach langen Jahren in Nervenheilanstalten
wurde van Hoddis 1942 vermutlich in Sobibor ermordet. Er ist der Namenspatron des
Verlags, den Dörner mit seinem Gütersloher Team 1986 gründete. Darin erschienen
Dörner-Titel wie „Ende der Veranstaltung“, „Tödliches Mitleid“ oder „Überlegungen
im
Warteraum zum Gas“.
Die Konfrontation mit dem Holocaust ist ein starker Motor in Dörners Leben. Der
drehte erstmals heiß, als der junge, damals noch marxistisch orientierte
Assistenzarzt in Eppendorf auf Hans Bürger-Prinz traf. Der damalige Eppendorfer
Klinikleiter war zwar konservativ gewesen, verschaffte dem hochbegabten
Nachwuchsmediziner und Soziologen aber die Gelegenheit, Gutachten zu schreiben. Und
der nahm das Entgegenkommen dieses „Militärarschs – des heißgeliebten“ gerne an. So
konnte Dörner hunderte von Patienten-Dokumentationen aus der Nazizeit auswerten. Bis
heute ist er getrieben davon, die Verbrechen der Nazis sichtbar zu machen.
Als Dörner nach elf Jahren an der Uniklinik Hamburg nach Gütersloh ging, waren dort
nicht alle begeistert. Professor Walter Theodor Winkler, früherer Leiter der Klinik,
Vorsitzender der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) und
Mitglied der Enquête-Kommission, ließ keine Gelegenheit aus, in Dörner einen
„Totengräber der Landeskrankenhaus-Kultur“ im Allgemeinen und der Gütersloher
Anstalt im Besonderen zu sehen. Dörner frohlockt: „Und er hatte Recht.“
Er musste seinen zahlreichen Gegnern eine „ermüdende Kontinuität meiner Anwesenheit“
entgegensetzen, aber die habe sich ausgezahlt. Es wurden fast 16 Jahre ohne Urlaub,
ohne einen einzigen Fehltag wegen Krankheit. Ein paar gemeinsame Tage an der
Nordseeküste, das war alles, womit sich die fünfköpfige Familie bequemen musste.
Noch heute ist Dörner überzeugt: „Es hat die permanente Anwesenheit bei Tag und bei
Nacht gebraucht.“ Denn es war „ein Kampf gegen alle, ein Krieg“. Die betroffenen
Patienten, die Angehörigen, die Betriebsleitung, der kaufmännische Leiter, der
Pflegedienstleiter, der Personalrat, der Träger – alle hatten sie mehr oder weniger
Angst um ihre Existenz.
Abb. 9 Dörner erklärt die „dreifache Gnade der späten Geburt“: Als Kind konnte er
im „Dritten Reich“ nicht schuldig werden, als reifer Akademiker verfiel er dem
revoltierenden Eifer der 1968er nicht komplett, als längst emeritierter
Professor kann er sich die digitale Revolution ersparen. (Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 10 Herzensangelegenheiten: Der oberste Titel war ein Geschenk der drei
Verlage, in denen Dörner publiziert, zu dessen 80. Geburtstag. Darin bekunden 80
Menschen, die ihm in den letzten Jahren begegnet sind, ihre Wertschätzung. (Foto:
Paavo Blåfield)
Unbequem wurde es zunächst auch für seine Frau, eine Krankenschwester, die er in der
Eppendorfer Uniklinik kennengelernt hatte. Die heute 71-Jährige wollte nicht weg von
Hamburg in die westfälische Provinz. Doch der Charismatiker überzeugte sie. Man
vereinbarte: Wann immer sie es nicht mehr aushalten würde, würde er unmittelbar
kündigen und mit ihr zurückgehen. Dann überzeugte er alle anderen – Kostenträger,
Kollegen, Arbeitgeber, Patienten, Angehörige, Nachbarn.
Paul Dörner, 41, examinierter Krankenpfleger und tätig an der einstigen
Wirkungsstätte seines Vaters in Gütersloh, kann sich noch gut erinnern an die Zeit,
als er an Heiligabend mit dem Papa durch die gesamten Stationen spazierte. Der
stattete jedem Patienten einen Besuch ab. Manche von ihnen hatten ihn schon für
verrückt erklärt, als er sich bei seinem Einstand als Klinikleiter bei jedem einzeln
vorstellte.
Und Ende der 1980er zogen die Dörners sogar im selben Viertel um, auf dass Platz für
eine ambulante Betreuung entstehe. Paul Dörner nennt es die Zeit des
„Enthospitalisierungseifers“. Das elterliche Umfeld scheint den Kindern aber
nachhaltig gefallen zu haben: Dörners Tochter Kathrin arbeitet in der ambulanten
Nachbarschaftsinitiative „Alt und Jung Süd-West e. V.“ Bielefeld, ebenfalls als
Krankenschwester; Sohn Henry ist Arzt.
Die Entdeckung des Trialogs war ein Resultat der Not.
Klaus Dörner lehnt sich entspannt zurück, ermuntert den Gast, sich bei der bewährten
zuckerfreien Limonade zu bedienen, die er und seine Frau auf ihren mehrmonatigen
Australienreisen schätzen gelernt haben. Gleich nach der Pensionierung waren sie
dort zum ersten Mal, Dörner wollte für niemanden mehr greifbar sein und überließ es
seiner Frau, ihn auf eine Reise mitzunehmen, deren Ziel er erst am Flughafen erfuhr.
Hauptsache so weit wie möglich weg, das war seine Vorgabe. Die Nachfolger sollten
ihren eigenen Weg gehen.
Abb. 11 Entspannte Grundhaltung und doch stets blitzwach: So doziert der
Professor in seinem längst aus der Mode gekommenen tiefen Cordsessel über
unheilvolle Epochen der Psychiatrie, … (Foto: Paavo Blåfield)
Abb. 12 … immer auch mit kritischer Distanz zu sich selbst. Medizin hat er nur
dem Vater zuliebe studiert, der war praktischer Arzt und Geburtshelfer. Seinem
geisteswissenschaftlichen Erkenntnisdrang folgte er in einem zweiten Studium. (Foto:
Paavo Blåfield)
Und wieder blendet Dörner das Licht auf sein Denkmal ein wenig ab. Etwa, wenn die
Sprache auf den „Trialog“ kommt, die „Entdeckung der Angehörigen“, wie Dörner es
milde lächelnd nennt. Die war ein Resultat der Not: Gemeinsam mit seiner Co-Autorin
Ursula Plog baute er am Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Tagesklinik auf, doch
Schizophrene, Manisch-Depressive oder chronisch Suchtkranke konnte man nachmittags
nicht einfach so – statt auf die Station – nach Hause schicken. Man musste
herausfinden, wie die Angehörigen tickten. Wenn es heute heiße: Dörner hat die
Angehörigengruppen entdeckt, „dann schämt man sich heute fast dafür. Es war ja nur
zur eigenen Absicherung“.
Der Impuls war dennoch der richtige. Denn was sie da zu hören bekamen, weitete die
Sinne für die wahre Problematik: „Die Angehörigen haben damals zum ersten Mal ihr
Maul aufgemacht – und wurden gehört. Wir hatten gar keine Ahnung, wie demütigend wir
mit denen umgegangen waren, wenn wir zum Beispiel von der ,schizophrenogenen Mutter‘
sprachen.“
Oder die Nachbarschaftshilfe, der „Bürger-Profi-Mix“. Eine Zufallsentdeckung: In
Hamburg-Altona, zurückgekehrt aus dem politischen Hexenkessel Berlin der 1968er,
geschieden von der ersten Frau, einer Historikerin, und getrennt von den beiden
Töchtern, bekam der Assistenzarzt Dörner die Gelegenheit, am psychiatrischen Dienst
des Gesundheitsamts Altona zu arbeiten. Kein Mediziner hätte sich damals freiwillig
auf so eine Behörde eingelassen. Der unkonventionelle Dörner schon, er hatte aber
schlicht keine Ahnung, was es hieß, einmal pro Woche halbtags allein verantwortlich
zu sein für zig chronisch psychisch Kranke.
Doch da waren diese beiden bodenständigen Fürsorgerinnen, wie sie früher hießen. „Die
beiden waren großartig.“ Sie öffneten ihm die Augen, wie man chronisch Kranke
betreut, die in der eigenen Wohnung leben. „Ich verstand, dass das nur geht, wenn
man normale Bürger in Nachbarn verwandelt.“
Jeder braucht eine Tagesdosis Bedeutung für einen anderen.
Zum Beispiel so: Die alleinerziehende Mutter eines Zwölfjährigen muss wegen eines
depressiven Schubs schon wieder nach Ochsenzoll. Wohin mit dem Sohn? Spätestens beim
zehnten Nachbarn hat es funktioniert und der Junge wurde betreut. „Damals habe ich
erstmals von der Existenz der Rasse der Nachbarn erfahren“, scherzt Dörner, „ich
hatte gedacht, die wären im Mittelalter ausgestorben“. Mehr denn je ist er
inzwischen davon überzeugt, dass jeder Mensch „eine Tagesdosis Bedeutung für einen
anderen braucht“, die Menschen wollen sich in den Dienst anderer stellen – mit der
nötigen professionellen Unterstützung.
Beim Verabschieden kommt der schwarz-weiße Kater aus der Wohnküche und gibt noch
einmal Anlass zu einem letzten Akt Dörner‘scher Selbstkundgabe. Zorro heißt er, wie
der Rächer der Armen im Abenteuerroman. Als Zorro den Gästen um die Beine streicht
und schnurrt, fragen wir, ob es nicht artgerecht wäre, der liebesbedürftigen Seele
eine Partnerin zu verschaffen. Da lacht Dörner. Sie hatten früher zwei Hunde, zwei
Katzen und einen Papagei. Jetzt nochmal ein junges Tier? Das wäre doch unfair dem
Tier gegenüber, wenn es dann allein wäre. – „Dann“? – Kann man beiläufiger über das
eigene Ende reden?