Zwischen 1 und 2 % der deutschen Erwachsenenbevölkerung oder 500 000 bis 1 Mio. Menschen
leiden zu jedem Zeitpunkt an einer schweren psychischen Erkrankung [1]. Auch gut 40 Jahre nach Vorlage der Psychiatrie-Enquete bestehen in Deutschland
nach wie vor erhebliche Defizite in der Versorgung dieser Personengruppe [2]: Schwer psychisch kranke Menschen können zeitweise oder sogar auf Dauer vom vertragsärztlichen
System nicht ausreichend profitieren, u. a. weil sie die Regelangebote der niedergelassenen
Fachärzte und Psychotherapeuten nicht zuverlässig wahrnehmen können und weil dort
die Ressourcen für ihre aufwendigere Behandlung fehlen. Außerdem sind sie regelhaft
und erheblich von sozialer Exklusion bedroht.
Die bedarfsgerechte Behandlung und Gewährleistung umfassender Teilhabechancen für
diese Personengruppe ist gegenwärtig die zentrale Herausforderung des psychiatrisch-psychotherapeutischen
Versorgungssystems.
Die systembezogenen Empfehlungen der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren
psychischen Erkrankungen“ [3] stellen ambulante mobile multiprofessionelle gemeindepsychiatrische Teams in das
Zentrum der Versorgung. Auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
(UN-BRK) definiert klare Standards. Dies gilt für allgemeine Grundsätze wie Würde,
Autonomie, Freiheit, Nichtdiskriminierung, volle und wirksame Teilhabe, Chancengleichheit
und Zugänglichkeit (Art. 3) sowie für spezielle Rechte, wie die auf Gesundheitsversorgung
(Art. 25), Arbeit (Art. 27) sowie umfassende Habilitation und Rehabilitation (Art. 26).
Hervorzuheben ist insbesondere, das Recht auf Unabhängige Lebensführung (Art. 19),
verbunden mit Wahlmöglichkeiten wo und mit wem man leben möchte, dem Zugang zu gemeindenahen
Unterstützungsdiensten auch zu Hause und der persönlichen Assistenz zur Unterstützung
des Lebens in der Gemeinschaft.
Die gegenwärtige versorgungspolitische Diskussion in Deutschland ist stark auf das
Vergütungssystem PEPP für die (teil)stationäre Psychiatrie und Psychosomatik konzentriert,
welche das zentrale Thema der Stärkung der ambulanten Versorgung weitgehend ausklammert.
Dies gilt auch für ein Alternativmodell der Fachgesellschaften und Verbände vom September
2015 [4]. Auf der anderen Seite haben sich in den letzten Jahren in vielen Regionen sektorübergreifende
Versorgungsmodelle mit dem Ziel etabliert, die ambulante Versorgung zu stärken. Dabei
handelt es sich um Modellprojekte nach § 64b SGB V, im Wesentlichen regionale Krankenhausbudgets
[5]
[6], um Modelle der Integrierten Versorgung nach § 140 a–d SGB V oder um innovative
Modelle im Rahmen der Regelfinanzierung nach § 118 SGB V oder nach § 17 d KHG [7].
Die Grenzen der regionalen Krankenhausbudgets liegen vor allem darin, dass sie andere
Leistungssegmente bzw. -erbringer nach dem SGB V außen vor lassen und das Leistungsgeschehen
für die Leistungsträger intransparent ist. IV-Modelle kranken daran, dass vielfach
der Personenkreis schwer psychisch kranker Menschen entweder direkt oder über die
Einschreibehürde der Selektivverträge ausgeschlossen wird. Sie basieren darüber hinaus
zumeist auf kassenspezifischen Verträgen und tragen so zu einer weiteren Zersplitterung
der Versorgungslandschaft bei. Fast allen Modellen ist gemeinsam, dass sie den Bereich
der Teilhabe außen vor lassen, das heißt insbesondere Leistungen nach den SGB IX und
XII. Dabei steht gerade mit dem Bundesteilhabegesetz (BTG) in 2017ff. eine weitreichende
Neuausrichtung der Eingliederungshilfe in Aussicht, u. a. mit der Einführung einer
Beratungsleistung, der Stärkung der Personenorientierung und der ambulanten Leistungserbringung.
Vor diesem Hintergrund haben die Autoren dieses Beitrags in einem früheren Editorial
dieser Zeitschrift [8] ein funktionales Basismodell für die gemeindepsychiatrische Versorgung schwer psychisch
kranker Menschen vorgeschlagen. Dieses Modell basiert auf den Empfehlungen der S3-Leitlinie
und definiert mobile multiprofessionelle Teams als Zentrum der Behandlung, von der
aus bei Bedarf weitere ergänzende ambulante und (teil)stationäre Leistungen erschlossen
werden. Die erste Fassung des Modells beschränkte sich noch auf Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV), auf die Notwendigkeit der Einbindung weiterer Leistungen
außerhalb des SGB V wurde lediglich verwiesen. Es war als Diskussionsvorschlag gedacht
und ist inzwischen mit zahlreichen Fachkolleginnen und -kollegen diskutiert worden.
Die Rückmeldungen und Anregungen waren Ermutigung, das Modell um den Bereich der Teilhabe
zu erweitern [9] und hier eine erneut überarbeitete Fassung ([Abb. 1]) vorzulegen.
Abb. 1 Funktionales Basismodell für die gemeindepsychiatrische Versorgung schwer psychisch
kranker Menschen.
Die Kernfunktion mobile multiprofessionelle Behandlung (einschließlich Beratung, Früherkennung,
Assessment, Genesungs- bzw. Behandlungsplanung und Evaluation) wird dabei verknüpft
mit der Kernfunktion mobile multiprofessionelle psychosoziale Unterstützung (einschließlich
Beratung sowie Rehabilitations- und Teilhabeplanung). Beide Kernfunktionen integrieren
die Leistungen personenbezogen, stellen die konzeptionelle und personelle Kontinuität
sicher, erschließen bei Bedarf passgenau ergänzende Leistungen und üben damit eine
zentrale Steuerungsfunktion aus. Zum Leistungsspektrum der mobilen multiprofessionellen
Dienste gehörten auch fallunspezifische Leistungen wie Gesundheitsförderung und Prävention
sowie Netzwerkarbeit im Sozialraum. Das Modell denkt Behandlung und Unterstützung
zur Teilhabe konsequent aus der ambulanten Perspektive, weitere – auch (teil)stationäre
– Leistungen werden als Ergänzung betrachtet. Es beansprucht damit, einen Mindeststandard
für die bedarfsgerechte Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen
in der Gemeinde zu definieren. Das heißt, die aufgeführten Funktionen sind in jeder
Versorgungsregion obligatorisch sicherzustellen, unabhängig von ihrer organisatorischen
Umsetzung.
Dabei kann und muss auf die jeweils regional vorhandenen Ressourcen zurückgegriffen
werden. Denn eine On-top-Finanzierung, insbesondere der mobilen multiprofessionellen
Teams, wäre ökonomisch kaum durchsetzbar und fachlich kontraproduktiv, da sie neue
Parallelstrukturen schaffen würde. In [Tab. 1] werden die Funktionen des Basismodells in Beziehung gesetzt zu (potenziellen) Ressourcen
in einer Versorgungsregion, die diese Funktionen ausfüllen können. Dabei kann es sich
um Dienste und Einrichtungen, Personen(-Gruppen) und Technologien handeln. Letzteres
mag überraschen, aber nicht zuletzt die UN-BRK postuliert den ungehinderten Zugang
von Menschen mit Behinderungen zu Informations-, Kommunikations- und unterstützenden
Technologien (vgl. Art. 4 und 7). Bei der Zusammenschau der Ressourcen wurde auf aktuelle
Übersichtsarbeiten und Datenbestände zurückgegriffen [7]
[8]
[9]
[10]
[11]. Sie fokussiert den Bereich der Allgemeinpsychiatrie, Erweiterungen auf Gerontopsychiatrie
und Suchthilfe sind unschwer möglich.
Tab. 1
Basisfunktionen und Ressourcen in der gemeindepsychiatrischen Versorgung schwer psychisch
kranker Menschen.
|
|
Ressourcen
|
|
Funktionen
|
in zahlreichen Regionen bis flächendeckend verfügbar
|
in einer größeren Zahl von Regionen verfügbar, gut erprobt
|
nicht bis nur vereinzelt verfügbar | Modellprojekte
|
Peer-Arbeit
|
Peer-Selbsthilfe
|
Genesungsbegleiter, Peer-Berater
|
|
Krankenhausalternative
Rückzugsorte
|
|
Krisenwohnungen/-pensionen, Soteria-Milieus
|
Gastfamilien
|
Krankenhausbehandlung
|
geschlossene, offene, ggf. spezialisierte Krankenhausstationen, Tageskliniken
|
|
7-Tage-Tageskliniken, Halb-Tageskliniken
|
Akut-Psychotherapie, niedrigschwellig
|
|
PIA
|
niedergelassene Psychotherapeuten
|
Komplexe ambulante Behandlung
bei Bedarf im Lebensumfeld
bei Bedarf nachgehend intensiv
mit Krisenintervention 7 T./24 Std.
|
PIA
Sozialpsychiatrische Dienste
|
ambulante psychiatrische Pflege
ambulante Soziotherapie
psychosoziale Beratungsstellen
|
spezielle Krisendienste, niedergelassene Fachärzte
niedergelassene Psychotherapeuten
|
Berufliche Rehabilitation
|
RPK, IFD, AET, BBW/BFW, BTZ, WfbM
|
unterstützte Beschäftigung (befristet)
|
PIA ggf. plus spezialisierte (Sozial)Dienste der Kliniken
|
Teilhabe am Arbeitsleben
|
WfbM,
Tagesgestaltung mit Arbeitscharakter
|
Integrationsfirmen
Zuverdienst
|
UA auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (unbefristet)
|
Teilhabe im Wohnbereich
|
UW in eigener Wohnung, in einer Wohngruppe, in institutionellem Setting (bei Bedarf
geschlossen)
|
UW in einer Gastfamilie,
IAUW
|
technische Assistenzsysteme zur Unterstützung selbstständigen Wohnens
|
soziale Teilhabe
|
Tagesstätten,
Kontakt-/Begegnungsstätten,
Selbsthilfegruppen
|
|
|
AET = Ambulante Ergotherapie, BBW = Berufsbildungswerk, BFW = Berufsförderungswerk,
BTZ = Berufliches Trainingszentrum; IAUW = Intensiv ambulant unterstütztes Wohnen,
IFD = Integrationsfachdienst, PIA = Psychiatrische Institutsambulanz, RPK = Rehabilitationseinrichtung
für psychisch Kranke. WfbM = Werkstatt für behinderte Menschen, UA = Unterstütztes
Arbeiten, UW = Unterstütztes Wohnen.
Mit Blick auf die Kernfunktionen der multiprofessionellen mobilen ambulanten Behandlung
und psychosozialen Unterstützung wird deutlich, dass PIA und Sozialpsychiatrische
Dienste eine flächendeckend verfügbare Ressource darstellen, auf die nicht verzichtet
werden kann. Aber auch niedergelassene Fachärzte in Kooperation mit ambulanter psychiatrischer
Pflege, Soziotherapie und ambulanter Psychotherapie stellen wichtige potenzielle Ressourcen
dar. Bei den ergänzenden Behandlungsfunktionen (obere Hälfte [Tab. 1]) wird deutlich, dass die entsprechenden Ressourcen weitgehend krankenhausgebunden
sind, die Peer-Arbeit durch Genesungsbegleiter (Beteiligung an professioneller Hilfe)
und Peer-Berater ist ebenso wenig flächendeckend verfügbar wie krankenhausalternative
Milieus. Die Funktion niedrigschwellige Akut-Psychotherapie wird gegenwärtig allenfalls
von einer Teilgruppe der PIA wahrgenommen, die anstehende Novellierung des Psychotherapeutengesetzes
könnte hier eine Chance zur Verbesserung bringen.
Im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind Angebote der beruflichen
Rehabilitation recht weit, wenn auch nicht flächendeckend verbreitet. Nicht alle diese
Angebote werden jedoch den besonderen Bedarfen und Bedürfnissen schwer psychisch kranker
Menschen gerecht. Insbesondere Berufsbildungswerke (BBW) und Berufsförderwerke (BFW)
sind in der Regel gemeindeferne, stationäre Großeinrichtungen. Fast völlig fehlen
in Deutschland Angebote des unbefristet unterstützten Arbeitens, eine Funktion, für
deren Wirksamkeit es eine breite, internationale wissenschaftliche Evidenz gibt [12]. Das Standardangebot für unbefristete Arbeit sind immer noch die WfbM mit anhaltend
hohen Zuwachsraten für schwer psychisch kranke Menschen [13]. Bezüglich der Teilhabe im Bereich Wohnen gibt es in Deutschland ein flächendeckendes
Netz von Wohnheimen sowie an Diensten des unterstützten Wohnens (zumeist als betreutes
Wohnen bezeichnet). Weniger verbreitet ist das unterstützte Wohnen in Gastfamilien
sowie das intensiv ambulant unterstützte Wohnen. Hierzu gibt es z. B. in Westfalen
ein Modell, in dem bei festgestelltem stationären Unterstützungsbedarf dem Wunsch
des Klienten nach intensiver ambulanter Unterstützung entsprochen wird mit einem Budget,
das nur wenig unter dem Heim-Entgeltsatz liegt [14]. Technische Unterstützungs- und Kommunikationssysteme für ein möglichst langes selbstständiges
Leben in der eigenen Wohnung sind im Hinblick auf ihre Bedeutung für Menschen mit
psychischen Erkrankungen bisher kaum entwickelt und erprobt.
Das Basismodell formuliert einerseits Mindeststandards zur Sicherstellung der Funktionen
in einer Versorgungsregion, andererseits enthält es nur wenige Festlegungen im Hinblick
auf die strukturelle und organisatorische Umsetzung. Es ist also für jede Region auf
Basis ihrer Ressourcen zu klären, welche Akteure mit welchen Leistungsangeboten bereit
und in der Lage sind und welche Organisationsform geeignet ist, die Funktionalitäten
des Basismodells zu realisieren. Dabei geht es jedoch um mehr als um eine bloße Addition
bestehender Dienste und Einrichtungen sowie deren forcierte „Ambulantisierung“. Die
Kernfunktionen „Steuerung“ und „Mobile multiprofessionelle Behandlung/Unterstützung“
machen eine rechtsfähige Organisationsform erforderlich, wenn sie wirksam sein sollen.
Denn bei der hier intendierten Steuerung des Leistungsgeschehens geht es um eine erhebliche
Ressourcenverschiebung aus dem stationären in den ambulanten Sektor. Ohne die regionalen
Anbieter der stationären psychiatrischen Pflichtversorgung und ohne die Ressourcen
(sprich: Plätze) der Heim- und Werkstattanbieter, den damit verbundenen Budgets und
ihrem Willen, alle Funktionen mit ambulantem Kern umzusetzen, wird es nicht gehen.
Eine Umgehung der stationären Anbieter und damit der Aufbau von Parallelstrukturen
sind unrealistisch, weil nicht finanzierbar. Potente Anbieter stationärer Leistungen
werden sich allerdings auf derartige Prozesse nur einlassen, wenn sie entsprechende
Deckungsbeiträge auch mit ambulanten Leistungen generieren können.
Aus fachlich-organisatorischer Sicht wird die Umstellung auf das Basismodell für alle
beteiligten Akteure gravierend sein, weil es nicht nur eine personenzentrierte Vorgehensweise,
sondern vor allem eine primär nicht institutionelle und damit lebensweltbezogene Leistungserbringung
erfordert. Einige Funktionen wie Prävention und Sozialraumarbeit müssen – auch das
ist ungewohnt – ohne Bezug zu einem Einzelfall umgesetzt werden. Auch die Einbindung
der Kompetenz von Psychiatrieerfahrenen in Form von Peer-Beratern oder Genesungsbegleitern
erfordert neue und kreative Umsetzungsformen. Als regionale Organisationsform hat
die Expertenkommission von 1988 den Gemeindepsychiatrischen Verbund (GPV) als Standardlösung
vorgeschlagen. Die bundesweiten Erfahrungen damit zeigen bei aller Unterschiedlichkeit
der regionalen Ausgestaltung, dass diese – abgesehen von wenigen Ausnahmen – bisher
kaum über eine Bündelung der Anbieterinteressen hinausgekommen sind und nur in wenigen
Fällen eine Neuausrichtung der Leistungsangebote bewirkt haben. Ein Abgleich mit den
Anforderungen des Funktionalen Basismodells würde ein ernüchterndes Bild abgeben.
Die zur Umsetzung des Basismodells in den meisten Regionen erforderliche Umgestaltung
der Versorgungslandschaft dürfte ausschließlich in Kooperationsbezügen ohne eine entsprechende
Rechtsform nicht erreichbar sein. Zu klären ist hier auch, ob die Gebietskörperschaften
willens und fachlich wie personell in der Lage sind, die Federführung bei einem solchen
Umbauprozess zu übernehmen und wie die Beteiligung Psychiatrieerfahrener in entsprechenden
Prozessen gewährleistet werden kann.
Auch die Finanzierung eines solchen ambulant gestützten, funktional organisierten
gemeindepsychiatrischen Systems muss neu angelegt werden, nämlich sektor- und SGB-übergreifend,
ein Novum für die deutsche Versorgungslandschaft (ein Modellprojekt hat im letzten
Jahr im Kreis Dithmarschen begonnen [15]).
Es gilt also zusammengefasst,
-
die Entwicklung der Angebotsstrukturen vor Ort an den Mindeststandards des funktionalen
Basismodells auszurichten
-
SGB-übergreifende Organisations- und Finanzierungsmodelle zu generieren und
-
das GPV-Modell in rechtsfähige Strukturen zu überführen bzw. eine Alternativlösung
mit „starker“ Steuerungsfunktion zu entwickeln.
Für diese 3 essenziellen Anforderungen sollten 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete
im Rahmen von Modellprojekten, ggf. finanziert über den Innovationsfond, nach innovativen
Lösungen gesucht werden.