Schlüsselwörter
Hepatitis E - neuralgische Amyotrophie - extrahepatische Manifestation
Keywords
Hepatitis E - neuralgic amyotrophy - extrahepatic manifestation
Die neuralgische Schulteramyotrophie ist durch akute starke neuropathische Schmerzen
im Schulter-Arm-Bereich gekennzeichnet. Nachfolgend entwickeln sich multifokale Paresen
und Atrophien im Versorgungsgebiet einzelner oder mehrerer Arm-Nerven. In seltenen
Fällen kann diesem Krankheitsbild eine Hepatitis E zugrunde liegen – wie im diesem
Fall eines 46-jährigen Patienten.
Schmerzen in den Schultern | Ein 46 Jahre alter Mann (keine Vorerkrankungen bis auf arterielle Hypertonie, Nichtraucher,
gelegentlicher Alkoholkonsum) wird in einer Notaufnahme vorstellig, weil er unter
stärksten Schmerzen beidseits in den Schultern leidet. Die Schmerzen sind nachts aufgetreten
und haben einen brennend stechenden Charakter. Nach 3–4 Tagen habe die Intensität
nachgelassen. In der Folge habe er eine unscharf begrenzte Hypalgesie und Hypästhesie
im Bereich des rechten Unteram entwickelt und Myalgien im Bereich des M. biceps brachii,
M. brachioradialis rechts und M. biceps brachii links. Höhergradige Paresen seien
subjektiv nicht aufgefallen, allerdings habe er den Arm schmerzbedingt geschont.
Blutwerte | Im Rahmen der Blutentnahme in der Notaufnahme zeigen sich deutlich erhöhte Werte
für AST (max. 495 U / l) und ALT (max. 1152 U / l) (▸ [
Abb. 1
]). Die weitere Diagnostik schließt eine Virushepatitis A–C aus, doch serologisch
kann eine Hepatitis E diagnostiziert werden (Mikrogen-Assays, Mikrogen, Neuried Deutschland).
Die Viruslast ist zu diesem Zeitpunkt jedoch ungewiss, da nicht per PCR auf HEV getestet
wird. Es erfolgt eine analgetische Behandlung mit Ibuprofen.
Abb. 1 Verlauf der GPT bei einem Patienten mit Hepatitis E und amyotropher Neuralgie.
Persistierende Schmerzen | Der Hausarzt vermutet einen Zusammenhang zwischen Hepatitis E und den starken Schulterschmerzen
und stellt den Patienten daraufhin bei uns vor, da unsere Abteilung aufgrund der Behandlung
zahlreicher Hepatitis-E-Fälle über Expertise auf diesem Gebiet verfügt. Auch 16 Tage
nach initialer Vorstellung in der Notaufnahme bestehen weiterhin starke Schulterschmerzen.
Neurologische Untersuchung | Im neurologischen Befund stellten sich bei der Vorstellung 4 / 5 (MRC-Skala) schlaffe
Paresen im Bereich der rechten Schulter- und proximalen Oberarmmuskulatur dar (Schulter-Abduktion
und -Elevation; Ellenbogen-Beuger und -Strecker). Im Bereich der Hand und der Finger
fanden sich rechts volle Kraftgrade. Links war isoliert eine schlaffe Parese des M.
opponens pollicis feststellbar. Der Tricepssehenreflex war beidseits erloschen, der
Bicepssehenreflex war rechts schwach unter Bahnung, links erloschen und der Radiusperiostreflex
war beidseits erloschen. Die Muskeleigenreflexe im Bereich der unteren Extremitäten
waren symmetrisch lebhaft auslösbar. Muskelatrophien stellten sich nicht dar und die
Sensibilität war unauffällig.
Elektrophysiologische Diagnostik | In der elektrophysiologischen Diagnostik fanden sich in der motorischen Neurografie
des N. ulnaris normale distal motorische Latenzen, motorische Amplituden (MSAP) und
Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG). Die F-Wellen des N. ulnaris rechts hatten eine
normale Latenz und Persistenz, links war die Latenz normal und die Persistenz mit
10 / 20 reduziert. Leitungsblöcke stellen sich in den untersuchten Abschnitten nicht
dar.
Motorische Teilschädigung | In der sensiblen Neurografie waren die sensiblen Amplituden (SNAP) und die NLG ebenfalls
des N. ulnaris bds. unauffällig. In der ergänzenden Elektromyografie stellten sich
rechts im M. deltoideus, M. biceps brachii, M. brachioradialis und M. interosseus
dorsalis manus I die Potenziale muskulärer Einheiten (PME) mit einer erhöhten Polyphasierate
bei unauffälligen Amplitude und unauffälliger Dauer dar. Es fand sich keine pathologische
Spontanaktivität und die Rekrutierung war unauffällig. Zusammenfassend war der elektrophysiologische
Befund vereinbar mit Zeichen einer dezenten chronisch neurogenen aktuell rein motorischen
Teilschädigung betont im Bereich des Plexus cervicobrachialis rechts unter Einbeziehung
aller Faszikel ohne Hinweise auf eine floride Denervierung (▸ [
Abb. 2
]).
Abb. 2 (A) Sensible Neurografie des N. ulnaris rechts mit normaler distal motorischer Latenz,
normalen Amplituden und normaler Nervenleitgeschwindigkeit. (B) Motorische Neurografie
des N. ulnaris rechts mit normalen Amplituden und normaler Nervenleitgeschwindigkeit.
(C) F-Wellen des N. ulnaris rechts mit unauffälliger Latenz und Persistenz. (D) Elektromyografie
(EMG) des rechten M. brachioradialis ohne Hinweise auf pathologische Spontanaktivität,
mit (E; markiert mit Kasten) überwiegend polyphasischen Potenzialen motorischer Einheiten
und (F) einer dichten Interferenz bei unauffälliger Entladungsfrequenz bei maximaler
Willkürinnervation. Entfg: Entfernung; NLG: Nervenleitgeschwindigekeit; Temp: Temperatur;
kNLG: temperaturkorrigierte Nervenleitgeschwindigkeit
Antivirale Therapie | Vor dem Hintergrund der Anamnese, des klinischen Befunds und der elektrophysiologischen
Befunde diagnostizieren wir eine neuralgische Plexusamyotrophie, werten diese als
assoziiert mit der HEV-Infektion und erwägen, eine antivirale Therapie mit Ribavirin
einzuleiten. Da die Transamiansen mittlerweile schon deutlich gefallen sind (▸ [
Abb. 1
]), gehen wir von einer baldigen Ausheilung der Hepatitis E aus und initialisieren
nicht unmittelbar eine Ribavirin-Medikation, sondern warten das PCR-Ergebnis ab. Dieses
zeigt eine nur sehr niedrige HEV-Kopienzahl (200 kop / ml, ▸ [
Abb. 1
]). Wir verordneten Pregabalin als zusätzliche Schmerzmedikation.
Weiterer Verlauf | Eine Woche später haben sich in einer Verlaufskontrolle die Beschwerden deutlich
gebessert, das Ergebnis der HEV-PCR ist negativ. Die Schmerzmedikation kann beendet
werden.
Diskussion
Charakteristik | Die neuralgische Schulteramyotrophie (NA) wurde erstmals 1943 von Spillane anhand
einer Serie von 46 Patienten mit einer „lokalen Neuritis des Schultergürtels“ beschrieben
[1]. Gekennzeichnet ist die neuralgische Schulteramyotrophie durch akute starke neuropathische
Schmerzen im Schulter-Arm-Bereich mit nachfolgender Entwicklung multifokaler Paresen
und Atrophien im Versorgungsgebiet einzelner oder mehrerer Arm-Nerven [2]. Sie betrifft meist die oberen Extremitäten und die Erholung dauert Monate bis Jahre.
Der rechte Arm ist häufiger betroffen und eine oft subklinische bilaterale Beteiligung
kommt in ca. 33 % der Fälle vor. Die Äste des oberen Armplexus bzw. des posterioren
Faszikels (N. thoracicus longus, N. axillaris, N. radialis, N. suprascapularis) werden
einzeln oder in Kombination bevorzugt einbezogen. Selten sind isolierte Paresen der
distalen Arm-Muskulatur, Affektionen des N. medianus / N. interosseus anterior, N.
phrenicus, kaudaler Hirnnerven oder des Plexus lumbosacralis.
Inzidenz | Die Inzidenz der idiopathischen NA beträgt 2–4 / 100 000 / Jahr. Männer sind im Verhältnis
3:2 häufiger betroffen und das typische Manifestationsalter liegt im 2. bis 4. Lebensjahrzehnt.
Pathophysiologie | Der exakte pathophysiologische Mechanismus der neuralgischen Schulteramyotrophie
ist unklar. Angenommen wird aktuell primär ein immunvermittelter Prozess, der sich
gegen periphere Nerven richtet. Dies basiert auf der Beobachtung, dass bei etwa der
Hälfte der betroffenen Patienten ein Ereignis, das als Trigger des Immunsystems gelten
kann, der Attacke vorausgeht. Hierzu zählen
Als weitere Faktoren, die an der Auslösung von Attacken beteiligt sind, konnten epidemiologische
Studien spezifische genetische Faktoren und eine mechanische Vulnerabilität identifizieren.
Genlokus | Bei der sehr viel selteneren hereditären neuralgischen Schulteramyotrophie konnte
in einigen betroffenen Familien ein Lokus auf Chromosom 17q25 identifiziert werden.
Jedoch unterstreicht die Tatsache, dass der Lokus in anderen Familien nicht nachweisbar
war, die genetische Heterogenität dieser Entität.
Hepatitis E | Die Hepatitis E ist eine viral bedingte Leberentzündung, ausgelöst durch das Hepatitis-E-Virus
(HEV) [3]. Während diese Infektion früher als Tropenkrankheit mit ausschließlich akutem Verlauf
galt, hat sich diese Einschätzung in den letzten 10 Jahren geändert: HEV kommt nicht
nur in den Tropen vor, sondern auch in Industrienationen und neben akuten Verläufen
kann es bei Immunsupprimierten zu chronischen Verläufen kommen [3]. In den letzten Monaten wurde die Hepatitis E in Zusammenhang mit zahlreichen neurologischen
Krankheitsbildern gebracht [4], u. a. der neuralgischen Schulteramyotrophie. Neben einzelnen Fallbeobachtungen
[5], [6], [7], [8], die eine neuralgische Schulteramyotrophie im Rahmen einer akuten Hepatitis E beobachteten,
erregte Anfang 2014 eine in Neurology publizierte Studie großes Aufsehen: In einer
Kohorte von 47 Patienten mit neuralgischer Schulteramyotrophie hatten 11 % (n = 5)
simultan eine akute Hepatitis E [9].
Assoziation nicht ausreichend bekannt | Die NA ist eine mögliche extrahepatische Manifestation der Hepatitis E (▸ [
Tab. 1
]). Während die Hepatitis E als Differenzialdiagnose von Fällen unklarer Hepatitis
den Gastroenterologen und Internisten geläufig ist, ist die Assoziation mit einer
NA noch nicht ausreichend bekannt. Der Fall zeigt, dass autochthone, d. h. in Deutschland
erworbene, HEV-Infektionen mögliche immunologische Trigger einer NA darstellen können.
Tab. 1 Fälle neuralgischer Schulteramyotrophie assoziiert mit Hepatitis E.
Publikation
|
Inhalt
|
Fong et al. [22]
|
Hepatitis E mit NA bei einem Reiserückehrer aus Equador
|
Rianthavorn et al. [8]
|
Komplette Sequenzierung eines HEV-Genotyp-3-Strangs bei einem Thailänder mit NA
|
Kamar et al. [14]
|
NA und Hepatitis E, langsame Besserung innerhalb von 18 Monaten
|
Carli et al. [15]
|
NA und Chorioretinitis bei Patient mit akuter Hepatitis E, behandelt mit Steroidbolus
|
Inghilleri et al. [16]
|
Hepatitis E mit NA, nach Verzehr einer ungegarten Schweinewurst („Figatellu“)
|
Moisset et al. [6]
|
Beidseitige NA im Rahmen einer Hepatitis E, zusätzlich Schluckstörungen
|
Peri et al. [17]
|
Spontane Ausheilug einer bilateralen, HEV-assoziierten NA, binnen 3 Monaten
|
Woolson et al. [18]
|
Von 106 Patienten mit Hepatitis E hatten 8 (7,5 %) neurologische Symptome. 3 (2,8
%) hatten eine NA.
|
Deroux et al. [19]
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Einzelfallbeschreibung: Hepatitis E und NA
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Van Eijk et al. [9]
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10,6 % (n = 5) von 47 Patienten mit NA hatten serologisch und klinisch eine akute
Hepatitis E, bei 4 davon durch PCR bestätigt
|
Decard et al. [5]
|
MRT- und Sono-morphologischer Nachweis einer Schwellung des Plexus brachialis bei
Patientem mit beidseitiger NA und Hepatitis E
|
Theochari et al. [7]
|
Komplette Remission einer HEV-assoziierten NA binnen 10 Monaten, nach Steroidbehandlung
|
Dartevel et al. [20]
|
Detaillierte Beschreibung von 5 Fällen von Hepatitis E und NA, sowie detailierte Literatur-Recherche
|
Rodriguez et al [21]
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6 Fälle von NA und Hepatitis E, 2 mit Immunglobulinen und einer mit Steroiden behandelt
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Genese | Bislang ist die Genese der neuralgischen Schulteramyotrophie bei akuter Hepatitis
E unklar. Aktuell werden neben einer direkten viralen Infektion von Strukturen des
Plexus cervicobrachialis sekundäre immunologische Mechanismen diskutiert, die zu einer
Schädigung des Plexus führen. Auch der präsentierte Fall kann den pathophysiologischen
Zusammenhang nicht klären. Auffällig und klinisch wegweisend ist allerdings die bilaterale
Beteiligung des Plexus cervicobrachialis. Während im Fall von Hepatitis E negativen
NA nur 25–30 % der Fälle eine bilaterale Beteiligung aufweisen, sind die Mehrzahl
der Fälle mit Hepatitis E assoziierter NA bilateral [9].
Parallelen zum Guillain-Barré-Syndrom | Die bilaterale Beteiligung des Plexus wiederum stellt einen Zusammenhang zu einer
weiteren neurologischen Komplikation einer Hepatitis-E-Infektion dar – dem Guillain-Barré-Syndrom
(GBS). Vergleichbar mit einer bilateralen Plexusbeteiligung bei der Hepatitis-E-assoziierten
NA verläuft auch das GBS bilateral. Außerdem sind bei beiden Erkrankungen primär Männer
betroffen und die Häufigkeit einer akuten Hepatitis-E-Infektion ist ähnlich hoch (8–10
% bei der NA und 5 % beim GBS) [9], [10]. Wie von van Eijk und Kollegen bereits diskutiert, kann es sich bei der Hepatitis-E-assoziierten
NA und dem Hepatitis-E-assoziierten GBS somit um zwei klinisch verschiedene Syndrome
handeln, die beide Ausdruck des Spektrums von viral getriggerten Entzündungsprozessen
des peripheren Nervensystems sind [9], [10].
Kryoglobulinämie | Klassische immunologisch vermittelte Ursachen wie die Kryoglobulinämie konnten in
diesem Fall zusätzlich ausgeschlossen werden, während zuvor ein Zusammenhang zwischen
Kryoglobulinämie und HEV-Infektion aufgezeigt wurde [11], [12]. Bald nach Verschwinden der HEV-Virämie sistierten bei dem hier präsentierten Patienten
auch die Schmerzen und die Hypästhesie. Dies ist ein Indiz dafür, dass das Virus selber
und nicht dadurch initiierte immunologische Prozesse pathophysiologisch ursächlich
für die neuralgische Schulteramyotrophie sind.
Therapie mit Ribavirin | Jüngst zeigte eine retrospektive Fallserie an vier Patienten mit Hepatitis E und
NA einen interessanten Aspekt hinsichtlich der möglichen Therapie der Hepatitis E
mit Ribavirin auf. Während zwei dieser Patienten nicht behandelt worden waren, erhielten
zwei Ribavirin und im weiteren Verlauf intravenöse Immunglobuline. Drei der dargestellten
Patienten wiesen in Follow-Up Untersuchungen (16–126 Wochen später, Median 71 Wochen)
weiterhin eine deutliche Schwäche auf. Während nur bei einem Patienten, der Ribavirin
und intravenöse Immunglobuline erhielt, die Symptomatik komplett zurück gebildet war
[13]. Somit ist der Stellenwert von Ribavirin weiterhin unklar. Da es sich bei dieser
Therapie um Off-label-Medikation handelt, sollte dies nur in Einzelfällen und von
Zentren mit ausreichender Erfahrung bzgl. Hepatitis-E-Therapie mit Ribavirin durchgeführt
werden.
Konsequenz für Klinik und Praxis
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Die neuralgische Schulteramyotrophie (NA) kann in 8–10 % der Fälle mit einer akuten
Hepatitis E assoziiert sein, so dass eine Testung auf HEV unbedingt ratsam ist.
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Der pathophysiologische Zusammenhang zwischen NA und Hepatitis E ist noch ungeklärt.
Das Phänomen kann jedoch unabhängig von den klassischen Antikörpern auftreten.
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Um den Zusammenhang zwischen Hepatitis E und der NA besser zu verstehen, sammeln wir
betroffene Patienten in einem Register und freuen uns, wenn man uns diese meldet.