Weniger ist manchmal mehr – zu diesem Ergebnis kommt eine Längsschnittstudie bei Schweizer
Sechstklässlern über elterliches Engagement bei Hausaufgaben [1, 2]. Laut einer Pressemitteilung
der Universität Tübingen erweist „es sich als besonders günstig für den Lernfortschritt
der Kinder, wenn Eltern sich wenig einmischten, aber dennoch zur Unterstützung des
Lernprozesses zur Verfügung standen“. Oft ist leider das Gegenteil der Fall: Viele
Eltern mischen sich zu stark in die Hausaufgaben ein und erzeugen dadurch ein Kontrollgefühl
bei den Kindern. Dadurch entstehen Fronten, oder sie verhärten sich sogar. Wie man
eine solch verfahrene Situation wieder auflösen kann, zeigt die geglückte Umsetzung
des Wunstorfer Konzeptes nach Britta Winter bei Lukas[
*
] [3]
Zu viele Hausaufgaben und zu wenig Anerkennung
Zu viele Hausaufgaben und zu wenig Anerkennung
Lukas ist neun Jahre alt und besucht die vierte Klasse. Die Empfehlung für die weiterführende
Schule steht an. Von Seiten der Schule ist Lukas durch ein hohes Hausaufgabenpensum
und strengere Benotung wachsendem Druck ausgesetzt. Zudem findet er, dass er zu wenig
Anerkennung von der Lehrerin bekommt. In der Familie ist das Thema Hausaufgaben stark
belastet. Schon allein das Wort löst bei Lukas Verweigerungshaltungen und bei den
Eltern Anspannung aus. Es folgen Diskussionen und Streit. Ein Fall für die Ergotherapie.
Die behandelnde Ergotherapeutin arbeitet bei Lukas nach dem Wunstorfer Konzept, einem
klientenzentrierten, betätigungsorientierten und alltagsnahen Therapiekonzept. Es
kombiniert moderne ergotherapeutische Modelle wie das CMOP-E mit evidenzbasierten
Interventionen wie dem CO-OP. Anhand des COPM und im Sinne des Top-down-Ansatzes benennt,
gewichtet und bewertet der Klient selbst die für ihn bedeutsamen Betätigungen. Darauf
aufbauend erfolgen Betätigungsanalyse und Formulierung der Therapieziele.
Die gemeinsame Zielformulierung fördert die aktive Mitarbeit aller Parteien und erhöht
die Zufriedenheit
Unterschiedliche Erwartungen klären
Unterschiedliche Erwartungen klären
Die Erstgespräche finden zunächst getrennt für Eltern und Kind statt. Für Lukas nutzt
die Ergotherapeutin das COPMa-kids sowie den Selbsteinschätzungsbogen Child Occupational Self Assessment (COSA). Durch
die Trennung werden die unterschiedlichen Erwartungen und Unterschiede in der Bewertung
zwischen Eltern und Kind deutlich. Als sehr wichtig (7-10) formulieren die Eltern
im COPM:
-
→ Lukas nimmt eine Verweigerungshaltung bei Hausaufgaben ein.
-
→ Das harmonische Miteinander ist sehr belastet.
-
→ Lukas hat Versagensängste und wenig Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten. Vor Schulbeginn
klagt er oft über Bauchschmerzen, leidet unter Erschöpfung, Lustlosigkeit und Müdigkeit.
Lukas hingegen äußert:
-
→ Papa gibt mir zu viele Zusatzaufgaben, und ich habe keine Zeit mehr für meinen Freund.
-
→ Ich möchte bei den Hausaufgaben häufiger eine Pause machen. Die Performance der
daraus abgeleiteten Betätigungsprobleme liegt für Lukas und seine Eltern bei 3-5,
die Zufriedenheit bei 1-3.
Ziele gemeinsam festlegen
Ziele gemeinsam festlegen
Gemeinsam mit dem Jungen und seinen Eltern formuliert die Ergotherapeutin drei Ziele
für die nächsten 30 Einheiten. Lukas benennt das erste Therapieziel, die Eltern das
zweite und die Therapeutin das dritte. Das fördert eine aktive Mitarbeit aller Parteien
und führt in der Regel zu einer größeren Zufriedenheit im Therapieprozess:
-
Lukas besucht mindestens einmal pro Woche seinen Freund, und sein Vater gibt ihm keine
Zusatzaufgaben mehr.
-
Lukas arbeitet bei den Hausaufgaben gut mit und bleibt bei der Aufgabe, bis diese
vollständig zu Ende geführt ist.
-
Lukas führt Aufgaben selbstständig durch und kontrolliert sie eigenständig anhand
einer Checkliste.
Konflikte analysieren
Eine Videoanalyse deckt weitere wesentliche Faktoren der Konfliktsituation auf und
dient bei Lukas dazu, die aufgestellten Ziele zu verdeutlichen: Die Ergotherapeutin
filmt, wie Lukas und sein Vater eine Hausaufgabensituation in der Praxis durchspielen.
Nach der Analyse führt die Therapeutin dem Vater die Sequenz vor, um ihm sein Verhalten
und die daraus resultierenden Reaktionen zu verdeutlichen: Der Vater legt ein stark
führendes und forderndes Verhalten an den Tag, das Tempo und Struktur der Hausaufgabenbearbeitung
vorgibt. Lukas wird dadurch in eine Passivhaltung gedrängt, die alsbald in eine Totalverweigerung
mündet. Deutlich wird das sowohl durch Äußerlichkeiten – er setzt eine Kapuze auf
– als auch durch Ausbrüche totaler Resignation: „Ich mach's eh wieder falsch!“
Alle ins Boot holen
Während der folgenden Therapiesitzungen sind ein oder beide Elternteile als stille
Beobachter dabei und erhalten so „nebenbei“ Anregungen und Strategien, wie sie ihr
Kind besser unterstützen und ihm helfen können. Daneben betont diese Art der Therapieführung
die gemeinsame familiäre Verantwortung und hilft bei der Generalisierung, also der
Umsetzung der erlernten Strategien in das alltägliche Umfeld.
Der Therapieablauf erfolgt stets ritualisiert. Dadurch werden die Einheiten für das
Kind vorhersehbar und geben ihm Sicherheit. Zudem tragen die Rituale dazu bei, das
Erregungsniveau zu regulieren und so die Lern- und Handlungsvoraussetzungen des Kindes
zu verbessern. Die Therapie mit Lukas umfasst folgende Rituale:
-
Klatschritual zur Begrüßung (ABB. 1)
-
Zentrierungsübung, um die Konzentration auf den eigenen Körper zu lenken (ABB. 2)
-
Wiederholung der Regeln für die Therapiestunde
-
Alltagscheck: Reflexion über den Alltag und die bisher erarbeiteten Strategien und
Tricks
-
Trainingsphase: Anpassung/Erarbeitung neuer Strategien/Tricks
-
Reflexionsphase: Feedback zur Therapiestunde und die Einhaltung der Regeln, Fortschritte
betonen und das Übungsprogramm für die kommende Woche wiederholen
-
Elterngespräch: mit einem Selbstreflexionsbogen ermitteln, inwieweit die Umsetzung
einer Strategie geklappt hat
ABB. 1 Das Klatschritual zur Begrüßung heißt „Jetzt geht's los“.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel
ABB. 2 Sich ganz auf den Körper konzentrieren, gelingt mit dieser Übung.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel
Die Reflexionen unterstützen die Generalisierung nachhaltig, da sie die Prozesse für
den Klienten transparent machen. Die Therapiesitzung wird durch die gemeinsame Dokumentation
abgerundet, die den Klienten aktiv am Behandlungsprozess beteiligt und dessen Kooperation
positiv beeinflusst. Therapeutin und Klient blicken dann gemeinsam zurück auf die
Einheit, fassen zusammen, welches Ziel sie verfolgt und erreicht haben, und formulieren
die Hausaufgaben.
Intervention gespickt mit Tricks
Intervention gespickt mit Tricks
Das Wunstorfer Basistraining dient der Erarbeitung sogenannter Tricks, die das Kind
dabei unterstützen, seine Therapieziele zu erreichen. Es eignet sich für Kinder von
6-14 Jahren und enthält Strategien zur Verbesserung von Aufmerksamkeitsleistungen,
Selbstregulation und Handlungssteuerung. Das Ziel: im Alltag besser teilhaben können.
Bei Lukas kommen folgende Tricks zum Einsatz:
Eltern und Kind tragen die Verantwortung für einen erfolgreichen Transfer in den Alltag.
-
→ Punktepläne und Regeln, zum Beispiel „Lukas bleibt an seinem Schreibtisch sitzen,
bis die Aufgabe zu Ende ist“. Diese Regeln sind für Lukas und seinen Vater irgendwo
sichtbar angebracht, damit sich jeder an die Absprachen erinnern kann. Nach der Hausaufgabenzeit
bekommt Lukas für jede eingehaltene Regel einen Belohnungspunkt. Positives Verhalten
wird somit gestärkt und negative Erlebnisse der Vergangenheit werden abgelöst.
-
→ Checklisten oder Arbeitsschrittkarten, die eine Handlung in kleine Schritte unterteilen.
Lukas listet beispielsweise auf, welche Schritte nötig sind, um eine Aufgabe sorgfältig
und selbstständig zu kontrollieren. Ob er also eine Aufgabe noch einmal durchgelesen
und die Fehler leserlich korrigiert hat, kann er als erledigt abhaken. Das macht ihn
strukturierter, unabhängiger und nimmt ihm die Angst vor Fehlern.
-
→ Signalkarten helfen, eine Aufgabe konzentriert von Anfang bis Ende zu bearbeiten,
sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Störreize auszublenden (ABB. 3, S. 30).
Die Symbole Auge, Ohr oder Hand erinnern das Kind an Verhaltensregeln, die für eine
Aufmerksamkeit wichtig sind. Das Auge bedeutet zum Beispiel „Ich sehe gut hin“, das
Ohr steht für „Ich höre gut zu“ und die Hand heißt „Stopp, ich lasse mich nicht ablenken“.
Bezugspersonen können das Kind bei Nichteinhaltung der Regeln auf die jeweilige Regel
hinweisen, indem sie die Bedeutung der Symbole wiederholen und gleichzeitig an den
Nutzen der Regeln erinnern. In Kombination mit einem Punktesystem kann man die Motivation
durch Lob oder Punktabzüge weiter erhöhen.
ABB. 3 Die Signalkarten für Auge, Ohr und Hand erinnern an Regeln wie „Ich höre gut
zu“.
Abb.: R. Wildenmann-Henkel
Alle sind gefragt
Eltern und Kind tragen die Verantwortung für einen Transfer in den Alltag. Im konkreten
Fall setzen sie die in der Therapie erarbeiteten Regelpläne und Checklisten zu Hause
ein Anhand eines Systems kann Lukas Punkte sammeln, die später gegen ein gesetztes
Ziel oder einen Wunsch eingetauscht werden können. Für 20 Punkte darf er zum Beispiel
mit seinem Vater Eis essen gehen.
Situation heute
Nach 14 Therapieeinheiten liefert eine erneute Befragung deutliche Verbesserungen:
Die Performance liegt bei 7, die Zufriedenheit ebenfalls. Lukas zeigt dank des Punkte-/Regel-
plans deutlich seltener Verweigerungsverhalten. Die Tricks im Alltag muss er noch
generalisieren. Er besucht regelmäßig seinen Freund und hat lediglich hin und wieder
vor Klassenarbeiten Bauchschmerzen. Zudem ist das Miteinander in der Familie harmonischer
geworden. Die Hausaufgabensituation hat sich entspannt, und die Familienmitglieder
nehmen mehr Rücksicht aufeinander.
Das Wunstorfer Konzept ist durch seinen klientenzentrierten und betätigungsorientierten
Ansatz sehr alltagsnah. Dies trägt wesentlich zur Motivation der Klienten und aufgrund
vergleichsweise kurzer Behandlungszeiten auch zur Verschreibungsmotivation der Ärzte
bei. Diese schätzen die planbare Behandlungsdauer, die Einbindung aller Beteiligten
und den evidenzbasierten Therapieansatz. Das Trick-Training stellt eine umfangreiche
Materialsammlung bereit, die auf sensomotorisch-perzeptiven, kognitiven sowie lern-
und verhaltenstheoretischen Strategien basiert und differenzierte, flexible Therapien
ermöglicht.