Psychiatr Prax 2016; 43(05): 243-244
DOI: 10.1055/s-0042-109358
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Supported Employment – ein falsches Konzept für Deutschland? – Kontra

Supported Employment – A Wrong Policy for Germany? – Contra
Katarina Stengler
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Thomas Becker
2   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm
› Institutsangaben
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Katarina Stengler
Leiterin Psychiatrische Institutsambulanz und Ambulanz für Zwangserkrankungen, Leiterin AG Psychosoziale Forschung, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
Semmelweisstraße 10
04103 Leipzig

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. Juli 2016 (online)

 

Nein, natürlich nicht. So eindeutig lässt sich diese Frage gleich zu Beginn beantworten. Supported Employment (SE) ist der ursprünglich in den USA entwickelte Ansatz beruflicher Integration nach dem Prinzip „First place, then train“.

SE konnte seine Wirksamkeit auf das Outcome-Kriterium der beruflichen Wiedereingliederungsquote in vielen angloamerikanischen, aber auch europäischen Studien belegen – zuletzt in einer Metaanalyse sehr aktuell zusammengetragen und kommentiert [1]. Inhaltlich versteht sich der SE-Ansatz, insbesondere im Rahmen der manualisierten Form des Individual Placement and Support (IPS) als ein Modell beruflicher Integration, bei dem Menschen mit psychischen Erkrankungen rasch und unmittelbar auf den ersten Arbeitsmarkt platziert und durch eine zeitlich nicht limitierte Unterstützung (Job Coach Assistenz) am Arbeitsplatz begleitet werden. Die Platzierung berücksichtigt individuelle Präferenzen des Betroffenen und findet unter den allgemeinen Wettbewerbsbedingungen am ersten Arbeitsmarkt statt. Dies schließt ein, dass eine tarifliche Bezahlung und die Beschäftigung in einem Umfeld mit mehrheitlich nicht behinderten Arbeitsnehmer/innen erfolgt. Die hochwertige Evidenz, die in Form systematischer Reviews und Metaanalysen [2] vorliegt, verweist auf eine deutliche Überlegenheit dieses Konzepts bezüglich arbeitsbezogener Zielgrößen im Vergleich mit den vor allem in Deutschland etablierten Pre-Vocational-Training (PVT)-Ansätzen. In diesem Zusammenhang wurden die Ergebnisse der europäischen Multicenterstudie EQOLISE [3] mit besonderem Interesse aufgenommen: Aufgrund der nicht signifikanten Wiedereingliederungsergebnisse unter SE-Bedingungen in Deutschland entzündete sich eine bis heute andauernde kontroverse Diskussion hinsichtlich der Übertragbarkeit des SE-Konzepts auf deutsche Verhältnisse und es gab einen kontrovers aufgenommenen Niederschlag der internationalen SE-Evidenz in der DGPPN S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien [2]. Hier wurden beide Formen beruflicher Integration nahezu gleichberechtigt nebeneinander gestellt mit nur geringgradiger Abweichung der Stärke der Empfehlungen. Mittlerweile liegen weitere Studien mit starker Evidenz für den SE-Ansatz vor – die Gruppe um Holger Hoffmann hat jüngst in einer 5-Jahres-Katamnese beeindruckende Daten zur Überlegenheit des SE-Ansatzes gegenüber PVT vorgelegt [4].

Zudem präsentiert eine aktuell publizierte Arbeit zu Prädiktoren des Erfolgs von SE aus der Gruppe um Kawohl sehr differenziert eine Unterscheidung zwischen den beiden Formen von Arbeitsrehabilitation [5]. Demnach scheint der Erfolg von SE ganz besonders von der Einhaltung der IPS-Prinzipien, also der Modelltreue abhängig zu sein. Darüber hinaus wird sowohl der Kontinuität als auch der inhaltlichen Qualität der Beziehung zwischen Betroffenen und Job-Coach ein besonders hoher Stellenwert beigemessen. Wichtig scheint außerdem, dass sich die (Routine-)Präsenz der Angebote ganz erheblich auf deren Erfolg niederschlägt. Dies ist in Deutschland hoch relevant, wird damit doch gesagt, dass es entscheidend ist, SE zu einem Standardangebot der psychiatrisch-rehabilitativen Versorgungslandschaft auszuweiten. Die mit starker Evidenz vorgetragene Überlegenheit des SE-Ansatzes in der beruflichen Integration kann auch hierzulande nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Wohl aber erscheint, wie es Salize bereits 2012 zur Diskussion stellte [6], die wachsende Bedeutung des Evidenzkriteriums in der beruflichen Rehabilitation als potenzielle Bedrohung von etablierten Strukturen, Prozessen und Überzeugungen. Die Publikation der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien einerseits [2] und ein vor dem Hintergrund internationaler Studien gelegentlich pointiert vorgetragener „SE-Überlegenheits-Kanon“ andererseits haben möglicherweise verunsichert, die Debatte andererseits belebt und zu erheblichem Gegenwind geführt. Zu sehr wurde Position bezogen „für“ oder „gegen“ SE bzw. PVT – respektive für oder gegen das vermeintlich Bessere oder Schlechtere. Vergessen wurde die desolate Forschungs- und Datenlage beruflicher Rehabilitationsangebote in Deutschland. Wenig ist bekannt über die Nähe oder Distanz zu SE-Formaten in durchaus erfolgreichen und komplexen Rehabilitationsangeboten etwa der RPKs (Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke) oder der beruflichen Integrationsmaßnahmen in Beruflichen Trainingszentren (BTZs). Evidenz benötigen wir aber in Deutschland, um differenzierte Aussagen über erfolgreiche Umsetzung von beruflichen Teilhabebemühungen für schwer psychisch kranke Menschen treffen zu können.

Es wird darauf ankommen, das Prinzip „First place, then train“ als solches im psychiatrisch-rehabilitativen Versorgungskontext in Deutschland ankommen zu lassen. Dabei sollten weder Setting- und Sektorgrenzen, die durch das stark zergliederte Sozialrecht in Deutschland vorgegeben werden, noch vorgefasste Vorbehalte und Zweifel am SE-Prinzip eine Rolle spielen. Sehr wohl sind im regelfinanzierten Rehabilitationssystem in Deutschland berufliche Integrationsmaßnahmen nach dem SE-Prinzip umsetzbar, wie das z. B. die BAG RPK in einem Positionspapier [7] kürzlich zur Diskussion stellte. Hier wird konstruktiv auf Vor- und Nachteile, auf Für und Wider eingegangen. Selbstverständlich ist der eine Ansatz nicht durch den anderen Ansatz einfach ersetzbar, vielmehr sollen SE-Angebote eine sinnvolle, notwendige und längst überfällige Erweiterung in der beruflichen Rehabilitationslandschaft in Deutschland darstellen. Zudem: Diese hochwirksame Form beruflicher Integration darf Menschen mit psychischen Erkrankungen in unserem Lande auch mit Blick auf die Umsetzung der UN-BRK Forderung § 27 mit dem chancengleichen Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen nicht vorenthalten bleiben.

Neben dem Fokus auf regelfinanzierte klassische Rehabilitationsangebote verstehen wir das Thema Arbeit und berufliche Integration, insbesondere mit dem Blick auf forcierte Platzierung am Arbeitsmarkt auch als ein Thema der psychiatrischen Versorgung i. e. S. Die Arbeitstherapie war aufgrund ihrer gesundheitsförderlichen Aspekte zu allen Zeiten im psychiatrischen Behandlungskontext von großer Bedeutung. Arbeits- und beschäftigungsförderliche Maßnahmen sowohl im krankenhausnahen als auch im gemeindepsychiatrischen Setting sind vor diesem Hintergrund in Betrachtungen zur beruflichen Integration psychisch Kranker einzubeziehen. So bieten z. B. Psychiatrische Institutsambulanzen (§ 118 SGB V), insbesondere im Abrechnungskontext des Bayrischen (Einzel-)Vergütungssystems, eine besondere Chance. Sie halten einen multiprofessionellen, gemeindebezogenen Behandlungsansatz vor, der explizit für die Gruppe der schwer psychisch kranken Menschen bestimmt ist. Arbeit kann unmittelbar, ohne lange Trainings- und Vorbereitungsphasen, abgestimmt in einem mehrdimensionalen, diagnoseübergreifenden Behandlungsansatz prioritäre Berücksichtigung finden, wie dies in einem innovativen Ansatz mit „PIA2work“ jüngst vorgelegt wurde [8].

Im aktuellen Diskussionsprozess um SE in Deutschland stellt sich somit weniger die Frage, „ob oder ob nicht“. Vielmehr ist es an der Zeit, sich dem Auftrag der Evidenzüberprüfung bestehender Angebote konsequent zu stellen und zu überprüfen, ob die berufliche Teilhabeförderung im Rahmen integrativ angelegter Behandlungspfade als Standard im deutschen Versorgungssystem umzusetzen ist, wie dies etwa von Steinhart und Wienberg vorgeschlagen wird [9]. So gesehen schauen wir mit Spannung auf den aktuellen Prozess des Bundesteilhabegesetzes im Bemühen, strukturelle Voraussetzungen für die integrierte Teilhabeförderung in Deutschland zu schaffen. Ein inklusiver Arbeitsmarkt, der psychisch kranke Menschen frühzeitig, individuell und bedarfsorientiert aufnimmt, ist das Ziel.


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Katarina Stengler

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Thomas Becker

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  • Literatur

  • 1 Modini M, Tan L, Brinchmann B et al. Supported employment for people with severe mental illness: systematic review and meta-analysis of the international evidence. The British Journal of Psychiatry 2016; 1-9 DOI: 10.1192/bjp.bp.115.165092.
  • 2 DGPPN S3 LL DGPPN Hrsg. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Berlin, Heidelberg: Springer; 2012
  • 3 Burns T, Catty J, White S et al. EQOLISE Group. The impact of supported employment and working on clinical and social functioning: results of an international study of individual placement and support. Schizophr Bull 2009; 35: 949-58
  • 4 Hoffmann AJP, Hoffmann H, Jäckel D et al. Long-Term Effectiveness of Supported Employment: 5-Year Follow-Up of a Randomized Controlled Trial. Am J Psychiatry 2014; 171: 1183-90
  • 5 Viering S, Jäger M, Kawohl W. Welche Faktoren beeinflussen den Erfolg von Supported Employment?. Psychiat Prax 2015; 42: 299-308
  • 6 Salize HJ. Die Psychiatrische Rehabilitation wird zu einem der Zukunftsthemen der Psychiatrie – Pro & Kontra. Psychiat Prax 2012; 39: 317-8
  • 7 Positionspapier RPK. http://www.bagrpk.de/fileadmin/webseite/Vortraege/Positionspapier_BAG_RPK_zum_Supported_Employment__03.12.14_.pdf
  • 8 Stengler K, Dress L, Lehmann J, Alberti M. PIA2work – ein Pilotprojekt zur Förderung von Arbeit und Beschäftigung im Kontext einer Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA). Posterpräsentation, DGPPN Kongress; 26.11.2015
  • 9 Steinhart I, Wienberg G. Mindeststandards für Behandlung und Teilhabe. Plädoyer für ein funktionales Basismodell gemeindepsychiatrischer Versorgung schwer psychisch kranker Menschen. Sozialpsychiatrische Informationen 2015; 45: 9-15

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Leiterin Psychiatrische Institutsambulanz und Ambulanz für Zwangserkrankungen, Leiterin AG Psychosoziale Forschung, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
Semmelweisstraße 10
04103 Leipzig

  • Literatur

  • 1 Modini M, Tan L, Brinchmann B et al. Supported employment for people with severe mental illness: systematic review and meta-analysis of the international evidence. The British Journal of Psychiatry 2016; 1-9 DOI: 10.1192/bjp.bp.115.165092.
  • 2 DGPPN S3 LL DGPPN Hrsg. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Berlin, Heidelberg: Springer; 2012
  • 3 Burns T, Catty J, White S et al. EQOLISE Group. The impact of supported employment and working on clinical and social functioning: results of an international study of individual placement and support. Schizophr Bull 2009; 35: 949-58
  • 4 Hoffmann AJP, Hoffmann H, Jäckel D et al. Long-Term Effectiveness of Supported Employment: 5-Year Follow-Up of a Randomized Controlled Trial. Am J Psychiatry 2014; 171: 1183-90
  • 5 Viering S, Jäger M, Kawohl W. Welche Faktoren beeinflussen den Erfolg von Supported Employment?. Psychiat Prax 2015; 42: 299-308
  • 6 Salize HJ. Die Psychiatrische Rehabilitation wird zu einem der Zukunftsthemen der Psychiatrie – Pro & Kontra. Psychiat Prax 2012; 39: 317-8
  • 7 Positionspapier RPK. http://www.bagrpk.de/fileadmin/webseite/Vortraege/Positionspapier_BAG_RPK_zum_Supported_Employment__03.12.14_.pdf
  • 8 Stengler K, Dress L, Lehmann J, Alberti M. PIA2work – ein Pilotprojekt zur Förderung von Arbeit und Beschäftigung im Kontext einer Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA). Posterpräsentation, DGPPN Kongress; 26.11.2015
  • 9 Steinhart I, Wienberg G. Mindeststandards für Behandlung und Teilhabe. Plädoyer für ein funktionales Basismodell gemeindepsychiatrischer Versorgung schwer psychisch kranker Menschen. Sozialpsychiatrische Informationen 2015; 45: 9-15

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