Urotherapeutische Beratung für Eltern erforderlich!
In der vorliegenden Studie aus Brasilien wird berichtet, dass fast alle Kinder mit
Enuresis im untersuchten Kollektiv auf unterschiedliche Weise für das Einnässen bestraft
werden; 41,4 % in dieser Studie erlitten körperliche Gewalt. Erstaunlicherweise wird
Gewalt besonders häufig in Familien beobachtet, in denen bereits Eltern an einer Enuresis
litten. Bestrafungen werden häufig von Müttern ausgeübt.
Es ist bekannt, dass Eltern, vor allem die Mütter, durch die Enuresis belastet sind.
Studien zur Lebensqualität zeigen deutliche Hinweise auf eine erhebliche Beeinträchtigung
[1]
[2]. Egemen et al. [3] zeigten einen höheren Depressionsscore bei betroffenen Müttern und Naitoh et al.
[4] berichteten, dass nicht nur die Lebensqualität vermindert, sondern auch ein höheres
Maß an Ängstlichkeit (jedoch keine erhöhte Depressivität) nachweisbar war. Erfreulicherweise
besserten sich beide Parameter nach erfolgreicher Behandlung.
Gut informierte Eltern unterstützen ihre Kinder häufig in positiver Weise bei der
Behandlung einer Enuresis. Aber viele Eltern reagieren auch heute noch auf das nächtliche
Einnässen mit Tadeln, dem Verweigern von kindlichen Wünschen (z. B. Fernsehen), demütigenden
Bemerkungen, aber auch harten Bestrafungen bis hin zu körperlicher Gewalt. Die Bandbreite
elterlicher Gefühle schwankt zwischen Wut und Aggressivität auf der einen Seite und
Schuldgefühlen und Selbstzweifeln auf der anderen Seite, verbunden mit dem Gefühl,
schwerwiegende Erziehungsfehler gemacht zu haben. Ein ungünstiger Sozial- und Bildungsstatus,
aber auch kulturelle Aspekte begünstigen elterliche Intoleranz. Manche Eltern sind
davon überzeugt, dass Bestrafungen zur Behandlung des Einnässens durchaus sinnvoll
sind.
In den aktuell empfohlenen und verwendeten standardisierten Anamnesefragebögen sind
Screeningfragen zu möglicher psychologischer / psychiatrischer Komorbidität einer
Harninkontinenz enthalten [5]. Reaktionen der Eltern auf das Einnässen und ihr Verhalten gegenüber den Kindern
werden jedoch nicht detailliert erfragt. Üblich ist die Frage nach dem Leidensdruck,
den Eltern und Kinder auf einer Skala bewerten können.
Die Studie weist auf eine wichtige Problematik hin
Dem Anamnesegespräch kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Erfasst werden sollte,
in welchem Ausmaß unangenehme Gefühle wie Scham oder Schuld mit dem Einnässproblem
verknüpft sind und welche Vorstellungen die Eltern von „normaler“ Kontinenzentwicklung
und von einem „Sauberkeitstraining“ haben. Bedeutsam ist die Frage an die Eltern,
welche Vorstellung sie über die Ursache des Einnässens haben, ob eine „psychische
Ursache“ angenommen wird oder ob eine Absicht des Kindes unterstellt wird. Milde Formen
von Bestrafung werden häufig zugegeben, aber härtere Strafen bleiben meist ein Familiengeheimnis.
Die vorliegende Arbeit weist eindrücklich auf diese Problematik hin.
Elterliche Unkenntnis und Hilflosigkeit führen zur Intoleranz gegenüber dem Problem.
Die Autoren betonen daher zu Recht, dass Eltern im Umgang mit ihrem einnässenden Kind
Hilfe benötigen.
Die aktuelle AWMF-Leitlinie empfiehlt zu Beginn einer Behandlung einer Enuresis urotherapeutische
Maßnahmen [5]. Im Vordergrund der Beratung während und nach Abschluss der Diagnostik steht die
Entlastung von Kind und Eltern und die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie und
Motivation für die weitere Behandlung.
Eltern sollten darüber informiert werden, dass es sich bei der Enuresis nur extrem
selten um eine organische oder psychische Erkrankung handelt, sondern um eine Reifungsverzögerung
der nächtlichen Blasenkontrolle, die einer bewussten Kontrolle nicht zugänglich ist
(„Information“) und deren Behandlung Zeit und Geduld erfordert. Das Einnässen ist
kein Symptom unzureichender oder falscher Erziehung und kein bewusster Akt des Kindes
(„Entmystifizierung“). Informationen zur normalen Blasenkontrolle am Tag und in der
Nacht und Kenntnisse über die Ätiologie der Enuresis sollten verständlich vermittelt
werden. Reaktionsmuster der Eltern, familiäre Konflikte und Bestrafungen in Zusammenhang
mit der Enuresis sind, wenn möglich, anzusprechen.
Fazit
Eine ausreichende Kenntnis über ätiologische und therapeutische Aspekte einer Enuresis
ist für die Unterstützung der Kinder, für elterliche Toleranz, Motivation, Vermeidung
von Bestrafung und somit für den gewünschten Behandlungserfolg von großer Bedeutung.
Dr. Eberhard Kuwertz-Bröking, Münster