Einleitung
Auf dem Weg zur Diagnose einer Erkrankung wird in der Regel aus den gewonnenen Informationen
eine Arbeitshypothese gebildet, die dann durch konfirmatorische Tests bestätigt bzw.
zugunsten von Differenzialdiagnosen widerlegt werden kann. Insofern ist die finale
Diagnose ein konduktiver Prozess. Dieser beginnt mit Informationen aus dem Auftreten
und der Haltung des Patienten beim Vortragen des Anliegens sowie der Beschwerden und
generiert eine oder mehrere hypothetische Diagnose(n). Diese werden beständig mit
den durch die Anamnese, Tests und bildgebenden Verfahren gewonnenen Informationen
und entsprechend dem Wissen und den Erfahrungen des Untersuchers korrigiert bzw. präzisiert.
Dieser Prozess erfolgt in der Regel so lange, bis relevante Differenzialdiagnosen
ausgeschlossen und die Diagnose mit hinreichend genauer Wahrscheinlichkeit bestätigt
wurde.
Merke
Die Diagnose ist dann mit hinreichend genauer Wahrscheinlichkeit gefunden, wenn eine
weitere Subdifferenzierung keine Änderung des therapeutischen Vorgehens bewirkt.
Die Grenze der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist dabei abhängig davon, ob eine
weitere Subdifferenzierung eine Änderung des therapeutischen Vorgehens bewirken würde
und wie invasiv die angestrebte Therapie ist. Idealerweise ist dieser diagnostische
Prozess einfach und eine präzise Diagnose mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich. Insbesondere
im Bereich der kraniomandibulären Dysfunktionen ist der diagnostische Prozess leider
selten simpel. Es gibt eine Vielzahl klinischer und instrumenteller Verfahren, die
hier den Untersucher bei der Diagnosefindung unterstützen sollen. Doch wie können
die verfügbaren Techniken dabei helfen, eine Diagnose zu stellen, und welche Anforderungen
müssen diese Verfahren hierbei erfüllen?
Anforderungen an ein diagnostisches Instrument
Ein ideales diagnostisches Instrument würde unabhängig von der durchführenden Person
oder Situation immer das gleiche Ergebnis liefern. Es hätte demzufolge eine perfekte
Wiederholgenauigkeit, die in der wissenschaftlichen Literatur als Reliabilität bezeichnet wird. Dies bedeutet dabei aber nicht, dass es auch den wahren Wert erfasst.
Hierfür steht die Validität. Diese beschreibt, dass der wahre Wert im Mittel getroffen ist. Da bekanntlich knapp
daneben auch vorbei ist, kann demzufolge ein valides Instrument im individuellen Fall
erhebliche Ungenauigkeiten beinhalten, wenngleich es im Mittel misst, was es messen
soll. Insofern wird bei der Individualdiagnostik ein sowohl hinreichend reliables
als auch valides Instrument benötigt ([Abb. 1]).
Abb. 1 Zusammenhang zwischen Reliabilität und Validität.
Dies bedeutet immer noch nicht, dass der mit diesem reliablen und validen Instrument
erfasste Parameter Erkrankte von Gesunden perfekt abgrenzen kann. Wünschenswert wäre
demzufolge ein Instrument, das jede erkrankte Person als erkrankt markiert (perfekte
Sensitivität bzw. keine falsch negativen Personen) und dabei keine gesunde Person als erkrankt
markiert (perfekte Spezifität bzw. keine falsch positiven Personen). Für die Sensitivität und Spezifität wird hierbei
prozentual angegeben, wie viele erkrankte bzw. nicht erkrankte Personen richtig erkannt
wurden. Im Idealfall lägen die Werte für Sensitivität und Spezifität demzufolge bei
100 %. Da es solche idealen Instrumente für die Diagnostik kraniomandibulärer Dysfunktionen
– wie auch in den meisten anderen Bereichen der Medizin – nicht gibt, wird empfohlen,
dass die verwendeten Instrumente mindestens eine Sensitivität und Spezifität von jeweils
70 % aufweisen [1].
Merke
Diagnostische Verfahren für kraniomandibuläre Dysfunktionen sollten eine hohe Reliabilität
und Validität, klar definierte Messvorgänge und eine Sensitivität sowie Spezifität
von ≥ 70 % aufweisen.
Weiterhin gibt es zur Beschreibung der Güte von diagnostischen Instrumenten bzw. Testverfahren
den Vorhersagewert eines Instruments ([Tab. 1]). Dieser bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass ein Erkrankter als krank markiert
(= positiver Vorhersagewert) bzw. ein nicht Erkrankter als nicht krank markiert wird
(= negativer Vorhersagewert). Im Gegensatz zu Spezifität und Sensitivität wird hier
zusätzlich berücksichtigt, wie häufig eine Erkrankung in der untersuchten Personengruppe
vorliegt (Prävalenz). Dies wird umso wichtiger, je seltener die Erkrankung in dieser Personengruppe vorkommt.
Tab. 1 Gütekriterien diagnostischer Instrumente.
Kriterium
|
Beschreibung
|
Reliabilität
|
Beschreibt die Zuverlässigkeit. Unter gleichen Rahmenbedingungen müssen immer die
gleichen Ergebnisse erzeugt werden.
|
Validität
|
beschreibt, ob das Testverfahren im Mittel den Parameter des Interesses korrekt erfasst
|
Sensitivität
|
gibt den Prozentsatz erkrankter Patienten an, bei denen die jeweilige Krankheit durch
die Anwendung des Tests tatsächlich erkannt wird
|
Spezifität
|
gibt den Prozentsatz nicht erkrankter Personen an, die im Test auch als nicht erkrankt
erkannt werden
|
Vorhersagewert
|
dient der Einschätzung der Aussagekraft von medizinischen Testverfahren unter Verwendung
der Sensitivität und Spezifität und zusätzlicher Berücksichtigung, wie viele Personen
in der jeweiligen Population tatsächlich erkrankt sind (Prävalenz)
|
Leider ist zur Diagnostik kraniomandibulärer Dysfunktionen kein ideales Instrument
vorhanden. Alle bisher verfügbaren und dahingehend untersuchten diagnostischen Verfahren
haben einen mehr oder weniger stark fehlerbehafteten prädiktiven Wert. Zugegebenermaßen ist diese Vielzahl an Parametern verwirrend. Es ist jedoch wichtig,
zu erkennen, dass ein z. B. als reliabel beworbenes Instrument nicht zu der Annahme
verleiten sollte, dass dieses zuverlässig erkrankte von nicht erkrankten Personen
unterscheiden kann. Die Angabe der Sensitivität und Spezifität von Testverfahren für
die jeweilige Erkrankung ist demzufolge sehr wichtig, um die Testqualität einschätzen
zu können.
Die Angabe dieser Gütekriterien ist im Bereich der Zahnmedizin im Allgemeinen, aber
insbesondere bei Verfahren zur Diagnostik kraniomandibulärer Dysfunktionen, leider
noch eine Rarität. Oftmals wird eminenzbasiert eine Meinung oder ein Verfahren postuliert,
ohne nachzuweisen, dass dieses Verfahren Erkrankte von Gesunden bzw. behandlungsbedürftige
von nicht behandlungsbedürftigen Personen unterscheiden kann.
Aufgrund einer hohen Vielfalt an Testverfahren zur Diagnostik kraniomandibulärer Dysfunktionen
(Palpation, Auskultation, diverse klinische Tests, instrumentelle Verfahren, Fragebögen)
ist es ad hoc schwer überschaubar, welche sinnvoll und wichtig, welche ergänzend einsetzbar
und welche im besten Fall nutzlos bzw., bedingt durch einen erhöhten Anteil falsch
positiver Vorhersagen einer Behandlungsbedürftigkeit, sogar schädigend sind.
Leider ist festzustellen, dass für viele Testverfahren im Bereich der kraniomandibulären
Dysfunktionen (CMD) Gütekriterien für deren diagnostischen Wert fehlen. Über den Wert
dieser Verfahren kann deshalb oft nur kontrovers spekuliert werden.
Im Jahr 2006 veröffentlichte der Interdisziplinäre Arbeitskreis für Mund- und Gesichtsschmerzen der Deutschen Schmerzgesellschaft
e. V. (DGSS) aktualisierte Empfehlungen zur Diagnostik von Patienten mit Schmerzen im Bereich
der Kaumuskulatur und/oder Kiefergelenke [2]. Diese Empfehlungen untergliedern sich in eine Standard- und eine erweiterte Diagnostik
([Abb. 2]). Da der zeitliche Zusatzaufwand der Standarddiagnostik gegenüber der Mindestdiagnostik
minimal ist, sollte heutzutage bei Patienten mit Verdacht auf CMD generell die Standarddiagnostik
Anwendung finden. Dies beugt auch dem Problem vor, dass der Patient erst nach dem
Versagen einer therapeutischen Intervention hinsichtlich psychologischer Variablen
befragt wird und dies als „Abschieben in die Psychoecke“ wahrnimmt.
Abb. 2 Diagnostisches Stufenschema der DGSS für Patienten mit Kaumuskel- und Kieferschmerzen.
Die Achsen der CMD-Diagnostik
Während viele Befunderhebungssysteme vor allem eine strukturierte Sammlung physischer
Befunde darstellen (gemäß DC/TMD als Achse-I-Befunde bezeichnet) wurde mittlerweile in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen, dass psychosoziale
Befunde (als Achse-II-Befunde bezeichnet) einen erheblichen Einfluss auf den Therapieerfolg, aber auch die Ausprägung
der Beeinträchtigung und damit das Gesamterscheinungsbild beim Individuum haben ([Abb. 3]).
Abb. 3 Achsen der CMD-Diagnostik. Patienten mit physisch sehr ausgeprägten Befunden können
eine nur geringe Beeinträchtigung zeigen, während andere mit physisch geringen Auffälligkeiten
eine hohe Beeinträchtigung aufweisen (Sterne).
In den letzten Jahren ist zu diesen beiden Achsen noch eine 3. hinzugekommen, die
sich mit genetischer Prädisposition, Hirnaktivitäten und hormonellen Einflüssen beschäftigt.
Bei den Befunden der „Achse III“ hat sich zwar in den letzten Jahren das Wissen erheblich
erweitert und das Verständnis für die interindividuell unterschiedliche Ausprägung
von Erkrankungen verbessert, für einen routinemäßigen Einsatz mit daraus folgenden
therapeutischen Konsequenzen sind diese Informationen aber derzeit noch nicht geeignet
[3].
Hintergrund der Einteilung in die verschiedenen Achsen ist, dass einerseits Patienten
mit physisch sehr ausgeprägten Befunden eine geringe Beeinträchtigung zeigen können,
während andere mit physisch geringen Auffälligkeiten eine hohe Beeinträchtigung aufweisen.
Diese Diskrepanz kann durch unterschiedliche Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung
erklärt werden, die auf zentralnervöser Ebene stattfinden.
Merke
Für die Diagnose bei kraniomandibulären Dysfunktionen ist sowohl die Erhebung physischer
als auch psychosozialer Befunde obligat. Physische Befunde werden auch als „Achse-I-Befunde“
und psychosoziale Befunde als „Achse-II-Befunde“ bezeichnet. Die Befunde der „Achse
III“ sind im klinischen Einsatz am Individuum noch nicht sinnvoll integrierbar und
dienen derzeit primär Forschungszwecken.
Vorsorgeuntersuchung (Screening)
Da vor umfangreichen prothetischen Maßnahmen im Rahmen der Voruntersuchung auch der
Ausschluss des Vorliegens kraniomandibulärer Dysfunktionen (CMD) obligat ist, sollte
sowohl anamnestisch als auch klinisch ein Screening erfolgen.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist es hierbei vollkommen ausreichend, folgende Frage
zu stellen: „Haben Sie Schmerzen in der rechten Gesichtshälfte, in der linken oder
in beiden?“. Mit einer Sensitivität von 98 % bzw. Spezifität von 97 % kann diese Frage
nachweislich hervorragend schmerzhafte und damit behandlungsbedürftige CMD von nicht
behandlungsbedürftigen unterscheiden [4]. Allerdings werden dabei Personen mit schmerzfreien Funktionseinschränkungen (z. B.
tumorbedingte Mundöffnungseinschränkung bzw. Änderungen der Okklusion) und asymptomatische
Personen nicht erfasst, was vor umfangreichen zahnärztlichen Rehabilitationen die
Ergänzung um grundlegende klinische Befunde (asymmetrische Mundöffnung, Kiefergelenkgeräusche,
druckschmerzhafte Muskulatur, Mundöffnungskapazität) notwendig macht.
Im klinischen Alltag findet in Deutschland der CMD-Check von Ahlers und Jakstat häufig Anwendung, der auf klinisch erhobenen Daten beruht (asymmetrische Mundöffnung,
Kiefergelenkgeräusche, druckschmerzhafte Muskulatur, Mundöffnungskapazität, Okklusionsgeräusche,
traumatische exzentrische Okklusion). Diese Kriterien wurden auf Basis von Expertenmeinungen
festgelegt. Der Screeningindex weist bei einem Grenzwert von ≥ 2 eine Sensitivität
von 92 % und Spezifität von 79 % auf [5]. Die Reliabilität und Validität der Kriterien „Okklusionsgeräusche“ und „traumatische
exzentrische Okklusion“ erscheinen allerdings fraglich.
Es existieren noch viele weitere proprietäre Screeninginstrumente, für die aber in
der Regel keine Gütekriterien bekannt sind bzw. publiziert wurden.
Erst durch Dokumentation grundlegender Befunde kann gemäß dem Sorgfaltsprinzip aktuell
von einer rechtssicher ausreichenden Voruntersuchung zum Ausschluss von behandlungsbedürftigen
CMD vor umfangreichen zahnärztlichen Rehabilitationsmaßnahmen ausgegangen werden.
Patienten, die aufgrund von unspezifischen Schmerzen im Gesichtsbereich, schmerzhaften
oder beeinträchtigenden Geräuschen in den Kiefergelenken, Einschränkungen in der Mundöffnungskapazität
oder Veränderungen des Bisses beim Zahnarzt vorstellig werden, sollten direkt einer
Standarddiagnostik zugeführt werden.
Standarddiagnostik
Die zur Standarddiagnostik gehörenden Instrumente verfügen über einen nachgewiesenen
allgemeinen diagnostischen Wert im Rahmen der Befunderfassung bei CMD und sind nach
heutigem Wissensstand für eine zuverlässige Diagnosebildung bzw. Differenzialdiagnostik
unerlässlich. Alle Verfahren, die zur weiteren Verfeinerung der Diagnose oder Diagnosesicherung
in speziellen Subgruppen Anwendung finden bzw. einen nicht oder unzureichend nachgewiesenen
diagnostischen Wert besitzen, sind der erweiterten Diagnostik zugeordnet.
Anamnese
Die schmerzbezogene Anamnese ist gemeinsam mit der klinischen Untersuchung der wichtigste
Baustein einer suffizienten Diagnostik. Während bis vor 20 Jahren die Diagnosestellung
bzw. Therapie primär auf physischen Befunden aufbaute, hat sich heutzutage weitgehend
die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Gespräch mit dem Patienten eine sehr wichtige
Basis darstellt. Auch in der allgemeinen Schulmedizin galten die messbaren Laborparameter
lange Zeit als das Maß aller Dinge und das Gespräch mit dem Patienten verlor immer
mehr an Bedeutung. Hintergründe lagen einerseits in einer Technikgläubigkeit, einem
fehlenden Verständnis für körperlich-seelische Zusammenhänge und in der schlechten
Honorierung der „sprechenden“ Medizin. Heutzutage hat die „sprechende“ Medizin wieder
erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Anamnese sollte
Zur allgemeinen Anamnese gehört die übliche Erfassung von Allgemeinerkrankungen, wobei hier vor allem Tumorerkrankungen,
den Kopf-Hals-Bereich betreffende Ereignisse (z. B. Schleudertrauma, Bandscheibenvorfall)
und systemische Erkrankungen (rheumatischer Formenkreis, Schuppenflechte bzw. Psoriasis,
Fibromyalgie, Arthrosen anderer Gelenke), aber auch Medikamente von Interesse sind.
Dabei können teilweise ursächliche, aber auch begünstigende Faktoren gefunden werden.
Dies geschieht in der Regel mittels der üblichen Anamnesebögen.
Zur speziellen Anamnese gehören in diesem Zusammenhang die spezifische Erfassung von
-
Mundgesundheitsproblemen,
-
Parafunktionen und oralen Habits,
-
Schmerzen.
Mundgesundheitsprobleme lassen sich am effektivsten systematisch mit entsprechenden Fragebögen erfassen.
Die einzelnen Fragen sollten die 4 Problembereiche (Funktion, Schmerz, Ästhetik und
psychosozialer Einfluss) der wahrgenommenen Mundgesundheit systematisch und unspezifisch
abdecken und können auch zur Messung des Therapieerfolgs herangezogen werden. Der
in diesem Zusammenhang am besten etablierte und untersuchte Fragebogen ist das Oral Health Impact Profile (OHIP), das mittels 14 Fragen alle zahnmedizinisch relevanten Bereiche abbildet [6]. Es gibt hierfür gute Interpretationshilfen (Normen und der kleinste relevante Unterschied)
und der Summenwert lässt sich einfach zur Verlaufsbeobachtung verwenden. Das OHIP
ist online kostenfrei verfügbar und nähere Informationen auf www.wikipedia.de abrufbar. Damit identifizierte, oft oder sehr oft auftretende Probleme können anschließend
gezielt und damit zeiteffizient mit dem Patienten verbal präzisiert werden.
Merke
Die systematische Erhebung anamnestischer Informationen mittels standardisierter Fragebögen
sorgt für eine zeiteffektive, aber trotzdem umfangreiche Erfassung potenziell relevanter
Informationen aus der allgemeinen und speziellen Anamnese. Hierdurch kann die Gesprächszeit
besser für die den Patienten beeinträchtigenden Probleme oder im Zusammenhang mit
der Erkrankung relevanten Parameter genutzt werden.
Okklusale parafunktionelle Aktivitäten (Pressen und Knirschen) können, insbesondere wenn diese tagsüber und nachts ausgeübt
werden, CMD erheblich intensivieren [7]. Eine Erfassung erfolgt üblicherweise multimodal, wobei die anamnestische Angabe
ein zentrales Kriterium darstellt. Allerdings erweisen sich Suggestivfragen hier als
problematisch. Deshalb wird empfohlen, die folgende Fragestellung zu verwenden: „Hat
Sie schon mal jemand im Schlaf knirschen gehört?“. Diese weist mit einer Sensitivität
von 78 % und einer Spezifität von 98 % sehr gute Eigenschaften auf [8]. Das anamnestische Erfassen des Pressens ist derzeit nicht zeugenbasiert möglich
und demzufolge unzuverlässig in der Aussage.
Daneben zählen klinische Anzeichen als ein wesentliches Indiz für okklusale Parafunktionen
[9]. Hierzu gehören okklusaler Zahnhartsubstanzverlust, Zahnhalsdefekte oder Zerstörungsspuren
und Gravuren des Okklusionspfads am Zahnersatz oder Aufbissbehelf. Allerdings lassen
sich aktuelle Defekte bzw. Spuren nur unzulänglich von denen aus der Vergangenheit
unterscheiden. Sie bilden also nicht zwingend die Ist-Situation ab. Auch die gegenseitige
Verstärkung von Abrasion und Erosion bietet Herausforderungen in der Diagnostik.
Eine weitere Möglichkeit der Erfassung besteht über die Elektromyografie. Diese Methode weist aber ohne zeitgleiche Erfassung der Herzfrequenz eine hohe falsch
positive Rate auf. Der einzige Beweis und damit der Goldstandard ist die Polysomnografie, die für den nicht wissenschaftlichen Bereich aber in einem unangemessenen Aufwand-Nutzen-Verhältnis
steht ([Tab. 2]).
Praxis
Aspekte der schmerzbezogenen Anamnese
-
zeitliches Auftreten, z. B. kontinuierlich, periodisch, anfallsartig
-
Zeitraum seit erstmaligem Auftreten der Beschwerden
-
Qualität, z. B. stumpf, stechend, quälend
-
Intensität, z. B. mittels visueller oder numerischer Analogskala (NAS, VAS)
-
Lokalisation und Ausstrahlung, z. B. mittels Zeichnung
-
Begleitzeichen, z. B. Rötung, Schwellung, Erwärmung
-
modifizierende Faktoren, z. B. Wärme, Kälte, Stress, Ruhe
-
provozierende Faktoren, z. B. weite Mundöffnung, festes Zubeißen
-
bisherige Behandlungsversuche und -erfolge bzw. -misserfolge
Tab. 2 Empfehlungen zur Diagnosebildung bei Bruxismus der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik
und -therapie (DGFDT).
Diagnose
|
Diagnosekriterien
|
möglicher Schlaf- oder Wachbruxismus
|
Selbstangabe oder Anamnese (+)
|
wahrscheinlicher Schlaf- oder Wachbruxismus
|
Selbstangabe (+) und klinische Untersuchung (+)
|
definitiver Schlaf- oder Wachbruxismus
|
Selbstangabe (+) und klinische Untersuchung (+) und Polysomnografie (+)
|
Einer umfassenden Schmerzanamnese sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Auch hier sollten Suggestivfragen vermieden und möglichst offene Fragen gestellt werden.
Dies erfordert ein gewisses Maß an Kommunikationstraining. Auch sollten teilweise
befremdlich anmutende Schilderungen und Kausalvorstellungen bzw. kürzere Gesprächspausen
ohne eigene Kommentare zugelassen werden.
Ganzkörperzeichnungen bieten den Vorteil, dass der Patient sich in seiner Darstellung
nicht nur auf den Kopfbereich beschränkt, sondern auch Auskunft über weitere schmerzhafte
Regionen erteilt ([Abb. 4]). Dies ist insofern wichtig, da lokale – z. B. auf den Gesichtsbereich beschränkte
– Schmerzphänomene oftmals auf lokale Therapien (Aufbissbehelfe, manuelle Therapie)
gut ansprechen, multilokale hingegen nicht [10]. Auch können über die Ausstrahlungspfade teils Hinweise auf den Ort der Schmerzentstehung
gezogen werden.
Abb. 4 Schmerzzeichnung der DGSS, Erfassung der Schmerzlokalisation und Schmerzausstrahlung.
Die Erfassung der Schmerzintensität erfolgt bevorzugt mit visuellen oder numerischen
Analogskalen ([Abb. 5]), da diese eine Verfolgung der Schmerzintensität über die Zeit erlauben und damit
zur Verlaufskontrolle verwendet werden können.
Abb. 5 Numerische Analogskala zur Erfassung der Schmerzintensität.
Als standardmäßig applizierte Minimaldiagnostik sollte der Status zur Graduierung chronischer Schmerzen (Graded Chronic Pain Scale, GCPS) Anwendung finden. Neben der Erfassung der Schmerzintensität wird hier als psychosozialer
Parameter die Schmerzbeeinträchtigung erfasst. Mittels eines Auswertungsbogens kann
eine Kategorisierung in Patienten mit funktionalem und dysfunktionalem chronischem
Schmerz vorgenommen werden, wobei letztere dringend einem genaueren psychologischen
Screening zugeführt werden sollten [11].
Als generisches Instrument, welches die strukturierte Schmerzanamnese unterstützen
kann, steht der Deutsche Schmerzfragebogen der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. (DGSS) zur Verfügung, der zuletzt 2015 aktualisiert
wurde. Dieser ist allerdings unspezifisch verfasst und auf allgemeinmedizinische Belange
fokussiert. Der Deutsche Schmerzfragebogen enthält neben einer Schmerzzeichnung auch
den Status zur Graduierung chronischer Schmerzen (GCPS). Türp und Marinello stellten
2002 einen deutschsprachigen Schmerzfragebogen für Patienten mit chronischen orofazialen Schmerzen vor, der eine auf CMD-Patienten zugeschnittene, systematische schmerzbezogene Anamnese
erlaubt und auf einer älteren Version des Deutschen Schmerzfragebogens basiert [12].
Die soziale Anamnese gibt einen Überblick über das soziale Umfeld und die damit verbundenen potenziellen
Probleme und Lebensumstände. So sind in bestimmten Berufsgruppen typische Fehlhaltungen
zu finden, die schmerzhafte CMD intensivieren können, z. B. bei Musikern oder bei
unergonomischen und einseitigen Arbeitshaltungen. Auch Stressfaktoren wie chronische
berufliche oder familiäre Überforderung sowie Mobbing und Scheidungen sind bekannte
krankheitsauslösende und -modifizierende Faktoren. Bei der sozialen Anamnese werden
oftmals Informationen gewonnen, welche die Grundlage für spätere Empfehlungen zu Verhaltensänderungen
oder Modifizierung der Lebensumstände bzw. das Annehmen von Hilfsangeboten sind.
Merke
Am Ende des anamnestischen Gesprächs sollte der Untersucher einen umfassenden Überblick
über den allgemeinen Gesundheitszustand, die allgemeinen und speziellen Probleme,
die vom Patienten empfundenen Schmerzen und Beeinträchtigungen sowie die bisherigen
misslungenen und erfolgreichen Therapieversuche haben, um sich in die Gedanken- und
Erlebniswelt des Patienten hineinversetzen zu können.
Psychologisches Screening (Achse II)
Das psychologische Screening soll helfen, Patienten mit den Therapieerfolg beeinträchtigenden
psychologischen Komorbiditäten (zusätzliche Erkrankungen) herauszufiltern und einer
adäquaten Therapie zuzuführen. Wichtig ist, zu erwähnen, dass der Zahnarzt keine dies
betreffenden Diagnosen stellen kann und darf, sondern nur Auffälligkeiten feststellen
kann, die durch einen psychologisch geschulten Arzt bestätigt werden müssen. Leider
ist eine direkte Überweisung an einen Psychologen bzw. Facharzt für psychosomatische
Medizin und Psychotherapie durch den Zahnarzt nicht möglich und erfordert den Umweg
über einen Facharzt (z. B. den Hausarzt).
Insbesondere in spezialisierten Praxen und Zentren sollte aufgrund der vorselektierten
Patienten mit einem deutlich höheren Anteil chronischer Schmerzen und vorangegangener
erfolgloser Behandlungsversuche obligat eine Erfassung wichtiger psychologischer Parameter
erfolgen. Hier kommt vor allem der Erfassung depressiver Symptome und unspezifischer
Schmerzen eine hohe Bedeutung zu.
Screening nach depressiven Symptomen
Depressionen haben im Zusammenhang mit CMD bezüglich der Ätiopathogenese keine bekannte
klinisch relevante Bedeutung. Allerdings ist das Vorliegen einer Depression generell
ein ungünstiger prognostischer Faktor bei chronischen Schmerzerkrankungen. Zum einen
verstärkt eine Depression das Schmerzerleben und andererseits verstärken anhaltende
Schmerzen eine vorhandene Depression. Dabei entsteht ein Circulus vitiosus, der durchbrochen
werden muss, um die therapeutischen Erfolgschancen zu verbessern.
Zur Erfassung einer vorliegenden Depression stehen vielfältige, gut validierte und
untersuchte Instrumente zur Verfügung. Ein klassisches Instrument zur Erfassung depressiver
Symptome ist die Allgemeine Depressionsskala (ADS-L), die recht einfach zu erfassen ist und durch die eingebauten inversen Kontrollfragen
auch erkennen lässt, ob sich der Patient mit den Fragen angemessen beschäftigt hat.
Alternativ sind kombinierte Skalen anwendbar. So ist auch die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) zur zeitgleichen Erfassung von Angst und Depression bei Patienten mit physisch oder/und
psychisch bedingten Körperbeschwerden geeignet. Ein weiteres geeignetes Kombinationsinstrument
sind die im Deutschen Schmerzfragebogen enthaltenen und kostenfrei verfügbaren Depressions-Angst-Stress-Skalen (DASS)
[13].
Die Wahl des Instruments kann sich primär daran orientieren, ob die enthaltenen Zusatzinformationen
gewünscht sind. Ein wissenschaftlicher Nachweis des Nutzens der über die Depression
hinausgehenden Informationen steht für CMD-Patienten allerdings noch aus.
Screening nach unspezifischen Symptomen
Dieses Screening ist ein Selbstbeurteilungsverfahren zur Erfassung der subjektiven
Beeinträchtigung durch unspezifische körperliche Symptome bzw. Allgemeinbeschwerden.
Ein häufig angewendetes und bewährtes Instrument ist die durch von Zerssen erstellte
und 2011 revidierte Beschwerden-Liste (B-LR). Alternativ kann die Freiburger Beschwerdenliste (FBL) oder der Gießener Beschwerdebogen (GBB) verwendet werden.
Vergleichbar mit dem in der Anamnese beschriebenen OHIP kann der Patient bei diesen
Gesundheitsbelastungsindizes markieren, wie häufig welche Beschwerden auftreten. Diese
sind z. B. innere Unruhe, Kurzatmigkeit, Grübelei, Müdigkeit und ein Kloßgefühl im
Hals. Eine Häufung dieser unspezifischen Symptome ist ein Hinweis auf eine unzureichende
Trennung von psychischen Problemen und physischen Beschwerden, was den betroffenen
Personen in der Regel nicht bewusst ist.
Eine verminderte Fähigkeit, Gefühle von körperlichen Sensationen zu unterscheiden,
sollte Anlass sein, die betroffenen Patienten an einen Facharzt für psychosomatische
Medizin und Psychotherapie zur näheren Diagnostik zu überweisen. Eine Übersicht zu
den Bezugsquellen wird in [Tab. 3] gegeben.
Klinische Funktionsanalyse
Befunderhebung
Bei der klinischen Funktionsanalyse sollen alle für die Diagnostik und die Differenzialdiagnostik
von CMD notwendigen klinischen Befunde erhoben werden. Hierzu gehört die Erfassung
der:
-
Bewegungskapazität des Unterkiefers
-
Palpationsempfindlichkeit der Kaumuskulatur
-
Palpationsempfindlichkeit der Kiefergelenke
-
Gelenkgeräusche
Bewegungskapazität des Unterkiefers
Bei der Bewegungskapazität des Unterkiefers sollten mindestens folgende Kriterien
untersucht werden:
-
maximal mögliche Mundöffnung (Schneidekantendistanz und Overbite)
-
aktiv ohne Schmerz
-
aktiv, auch wenn Schmerzen provoziert oder intensiviert werden
-
passiv, das heißt durch den Untersucher
-
die Form der Bewegungsbahn des Inzisalpunkts bei Mundöffnung (gerade, Deflexion bzw.
Deviation nach links oder rechts; s. [Abb. 6])
-
die maximale Beweglichkeit des Unterkiefers nach rechts und links (Laterotrusion)
-
die maximale Beweglichkeit des Unterkiefers nach vorne (Protrusion)
Abb. 6 a–f Deviation und Deflexion bei der Mundöffnungsbewegung. Zur Orientierung kann ein Lineal
oder ein schmaler Instrumentengriff als Hilfe für den „normalen“ Bewegungskorridor
(± 2 mm) genutzt werden (© Universitätsklinikum Leipzig AöR/Fotograf: I. Riemer).
Die Verwendung eines Lineals ist ausreichend, um diese Werte zuverlässig erfassen
zu können. Insbesondere die Mundöffnung ist auch durch unerfahrene Untersucher zuverlässig
zu beurteilen (Korrelationskoeffizient 0,90). Die Laterotrusionsbewegung ist dagegen
weniger zuverlässig, aber immer noch ausreichend genau messbar (Korrelationskoeffizient
0,65) [14].
Definition
Deflexion = Seitenabweichung des Inzisalpunkts des Unterkiefers bei maximaler aktiver Mundöffnungsbewegung
von der Mitte um mehr als 2 mm, ohne zu dieser zurückzukehren
Deviation = Seitenabweichung des Inzisalpunkts des Unterkiefers bei maximaler aktiver Mundöffnungsbewegung
von der Mitte um mehr als 2 mm, wobei dieser terminal zur Mitte zurückkehrt
Es sollten eine Mundöffnung von mindestens 40 mm (im Mittel bei Gesunden 55 mm) und
eine Bewegungskapazität in der Laterotrusion von mindestens 5 mm (im Mittel bei Gesunden
10 mm) vorliegen. Der Unterschied zwischen aktiver und passiver Mundöffnung sollte
weniger als 5 mm (im Mittel bei Gesunden 1–2 mm) betragen.
Palpationsempfindlichkeit der Kaumuskulatur
Die Prüfung der Palpationsempfindlichkeit der Kaumuskulatur sollte mindestens die
Mm. masseterici und Mm. temporales umfassen. Leider variiert gerade bei Palpationsmaßnahmen der applizierte Druck ohne
vorherige Kalibrierung sehr stark. Deshalb wird empfohlen, vorher und ggf. auch während
der Untersuchung den Palpationsdruck auf einer haushaltsüblichen Küchenwaage zu überprüfen.
Alternativ kann ein Algometer verwendet werden. Für die Kieferschließer (M. masseter
und M. temporalis) wird dabei eine Druckapplikation von 1 kg mit der flachen Fingerkuppe
für 3–5 Sekunden empfohlen. Die Finger sollten dabei etwa in einem Winkel von 45°
angesetzt werden. Submandibulär und retromandibulär sollte der Druck auf 500 g reduziert
werden.
Der Palpation unzugängliche Muskeln und Sehnen können mittels isometrischer Tests
überprüft werden.
Palpationsempfindlichkeit der Kiefergelenke
Die Palpationsempfindlichkeit der Kiefergelenke sollte von lateral mit einem Druck
von 500 g und von dorsal oder laterodorsal mit 1 kg geprüft werden. Eine Palpation
des dorsalen Bereichs kann über den äußeren Gehörgang erfolgen. Für die alternative
Möglichkeit, den Kondylus bzw. die Kapsel von laterodorsal zu palpieren, muss sich
der Unterkiefer in einer leicht protrusiven Position befinden. Hierdurch wird der
dorsolaterale Kondylenpol präaurikulär erreichbar.
Gelenkgeräusche
Gelenkgeräusche werden durch druckarme Palpation des lateralen Kondylenpols erfasst.
Dies erfolgt in der Regel während Ausführung der Grenzbewegungen (Mundöffnung, Protrusion,
Laterotrusion), wobei die Bewegung immer ausgehend von der maximalen Interkuspidation
gestartet werden sollte. Hierbei wird auf pathologische Geräusche geachtet. Diese
sind in der Regel einem Knacken oder Reiben zuordenbar. Die Verwendung von Hilfsmitteln
(Mikrofon oder Stethoskop) wird nicht empfohlen [15].
Befunderfassung
Generell ist eine Erfassung von Befunden mittels strukturierter Erhebungsbögen sinnvoll.
Dies beugt einer vorschnellen Diagnosestellung auf Basis einer 1. Verdachtsdiagnose
ohne umfassende Würdigung aller relevanten Befunde vor. Das konkrete Erhebungsprozedere
und die detaillierten Vorgehensweisen sind in den entsprechenden Manualen bzw. Büchern
beschrieben und werden in praktischen Kursen vermittelt. Diese Befundsammlungen bzw.
Erhebungsbögen sind in vielfältiger Anzahl und mit variablen Schwerpunkten verfügbar
und ermöglichen eine systematische Erfassung.
Bekannt und weitverbreitet sind der Funktionsstatus der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) und die Befundbögen von DentaConcept®. Nahezu alle in Deutschland üblichen Erhebungsbögen sind für eine systematische Befundsammlung
geeignet und enthalten die oben genannten Mindestbefunde. Als sehr angenehm für den
funktionsdiagnostisch unerfahrenen Zahnarzt sind bei DentaConcept® die digitale Erfassung
der Messwerte und Hilfestellungen zu erwähnen.
Diagnosefindung
Leider sind oftmals weder eindeutige Anweisungen zur Erhebung der Befunde vorhanden
(bzw. werden diese nur in sehr kostenintensiven Kursen vermittelt), noch bestehen
validierte Möglichkeiten, aus diesen Befunden mittels eines Entscheidungsbaums Diagnosen
zu bilden. Dieser Problematik hat sich ein internationaler Forscherverbund angenommen,
der 1992 die Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD) geschaffen hat [16]. Für die darauf basierende Befundsammlung liegen in deutscher Sprache eindeutige
Anweisungen zum verbalen und praktischen Vorgehen vor. Zusätzlich wurden für grundlegende
Diagnosen Entscheidungsbäume erstellt, die bei der Diagnosefindung unterstützen.
Diese Kriterien wurden auf Basis der inzwischen neu gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich
überarbeitet und 2014 in einer revidierten Fassung publiziert. Die durch das Entfernen
des „Research“ in DC/TMD umbenannten Kriterien stellen momentan die einzige zur Verfügung
stehende Befundsammlung mit validierter Diagnosebildung dar [17]. Derzeit erfolgt eine durch die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde geförderte Übersetzung und Validierung für den deutschsprachigen Raum und wird bald
unter www.rdc-tmdinternational.org abrufbar sein. Konkrete und detaillierte Handlungsanweisungen zum klinischen Vorgehen
und ein Video eines exemplarischen Untersuchungsablaufs sollten demnächst ebenfalls
in deutscher Sprache verfügbar sein. Leider steht derzeit nur eine papierbasierte
Erfassungsoption zur Auswahl. Eine Integration in Softwarelösungen ist entsprechend
wünschenswert.
Klinische Okklusionsanalyse
Auch wenn derzeit der Einfluss der Okklusion auf CMD kritisch bewertet wird, sollten
doch einige Basisparameter erfasst werden:
Insbesondere bei Auftreten von Anzeichen kraniomandibulärer Dysfunktionen im zeitlichen
Zusammenhang mit prothetischen Neuversorgungen sollte diesem Aspekt verstärkt Aufmerksamkeit
geschenkt und diese Analyse ggf. um eine instrumentelle Okklusionsanalyse erweitert
werden.
Panoramaschichtaufnahme
Als Standardinstrument zur bildgebenden Diagnostik bei CMD hat sich die Panoramaschichtaufnahme
(PSA), auch unter der Bezeichnung Orthopantomogramm bekannt, etabliert. Bekanntermaßen sind hierbei nur die knöchernen Anteile des Gesichtsschädels
in einer begrenzten Schicht zweidimensional beurteilbar. Dies bedeutet im Umkehrschluss,
dass muskuläre und knorpelbasierte Gewebe nicht direkt sichtbar sind. Wenn wir berücksichtigen,
dass 80 % der CMD-Patienten myofasziale Schmerzen aufweisen, stellt sich zunächst
die Frage, wozu die Anfertigung einer PSA denn dann überhaupt sinnvoll ist.
Ein direkter diagnostischer Wert für die Bestätigung von CMD-bezogenen Diagnosen besteht
nur für osteoarthrotische Veränderungen. Während initiale Veränderungen kaum erkennbar sind, können fortgeschrittene Stadien
zuverlässig diagnostiziert werden. Hierzu gehören kondyläre Formveränderungen wie
die Abflachung des Kondylus und Knochenapposition am anterioren Kondylenpol, ein Fehlen
der kortikalen Verschattung und zystische Aufhellungen im und unterhalb des Kontaktbereichs.
Bei in der PSA erkennbarem Auftreten dieser Veränderungen kann mit hoher Wahrscheinlichkeit
von einer osteoarthrotischen Veränderung im betreffenden Gelenk ausgegangen werden
(Spezifität: 99 %). Da frühe Stadien (Verdickung und zackenförmige Ausläufer der kortikalen
Verschattung) nicht sicher erkannt werden können, ist die Falsch-negativ-Rate entsprechend
hoch (Sensitivität: 26 %) [18].
Gerne wird die PSA auch verwendet, um über die Breite des sichtbaren Gelenkspalts auf Verlagerungen des Gelenkköpfchens oder Verlagerungen bzw. Verschleiß des Discus
articularis zurückzuschließen. Dies wurde vor einigen Jahrzehnten bereits erfolglos
an den mittlerweile obsoleten Aufnahmen nach Schüller bzw. Parma versucht. Die Darstellung
des Gelenkspalts ist stark abhängig vom Strahlengang. Ein verengter Gelenkspalt kann
also genauso aus einem ungünstigen Strahlengang resultieren. Eine Bewertung der Dimension
des Gelenkspalts sollte deshalb nicht auf Basis einer PSA erfolgen.
Auch kommen interindividuell erhebliche Varianzen in der Kondylenform vor. Hier ist vor allem die Seitensymmetrie ein entscheidender Anhaltspunkt und weniger
die individuelle Form. Beispiele für die hohe Formenvielfalt der Kondylen sind in
[Abb. 7] dargestellt.
Abb. 7 a–h Beispiele für die Formenvielfalt humaner Kondylen (© Universitätsklinikum Leipzig
AöR/Fotograf: I. Riemer; Bildmaterial: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie
Sachsen-Anhalt, Halle [19]).
Viel wichtiger und den Routineeinsatz rechtfertigend ist die Verwendung als differentialdiagnostisches Ausschlussverfahren. So können hier eine Dentitio difficilis, (infizierte) Zysten, auf eine Osteolyse
hindeutende Umbauvorgänge oder auch Frakturen erkannt werden ([Abb. 8]).
Abb. 8 Darstellungen unterschiedlicher Kasuistiken im Bereich der Kondylen. a Normales Kiefergelenk, b Hypoplasie, c Arthrose, d Chondromatose mit Kalzifizierungen (siehe punktuelle Aufhellungen im Bereich der
Position des Discus articularis), e Kollumfraktur.
Insbesondere in den folgenden klinischen und anamnestischen Situationen sollte eine
Anfertigung obligat erfolgen [20]:
-
erfolglose konventionelle Behandlung
-
faziale Asymmetrie, einseitig offener Biss (Tumorausschluss)
-
Trauma (Frakturausschluss)
-
stark eingeschränkte Mundöffnung
-
Ausschluss von Metastasen (Tumorerkrankung alio loco in den letzten Jahren)
-
bekannte bzw. Verdacht auf eine systemische Gelenkerkrankung (rheumatoide Arthritis,
Psoriasisarthritis, ankylosierende Spondylitis)
Erweiterte Diagnostik
Die erweiterte Diagnostik enthält Instrumente, die nur bei speziellen diagnostischen
Fragestellungen zur Diagnosesicherung benötigt werden oder keinen gesicherten diagnostischen
Wert bzw. Therapierelevanz haben. Hierzu gehören Verfahren zur Erfassung weiterer
physischer Parameter (z. B. bildgebende Verfahren, manuelle Strukturanalyse, instrumentelle
Analyseverfahren) sowie zur Evaluierung psychosozialer Parameter (z. B. Lebensqualität,
Schmerzverarbeitung, Stressaufkommen und Stressverarbeitung).
Physische Instrumente
Resilienztest nach Gerber
Dieser Test wurde bereits 1971 von Gerber vorgestellt. Ziel ist es, durch eine einseitige
Bisserhöhung mittels Zinnfolie verschiedener Stärken (0,3 mm; 0,6 mm; 0,9 mm) im Bereich
der Prämolaren eine Aussage über das Kompensationsvermögen des kontralateralen Kiefergelenks
zu erlangen ([Abb. 9]). Allerdings ist nur bei gezielter Anspannung der Adduktoren eine klinisch verwertbare
Aussage möglich.
Abb. 9 Resilienztest nach Gerber für das linke Kiefergelenk (grün: Zinnfolie; rot: Prüffolie).
Es wird hierfür folgendes Vorgehen empfohlen [21]:
-
einseitiges Aufbeißen auf eine Zinnfolie (PM-Bereich) auf der dem zu prüfenden Gelenk
gegenüberliegenden Seite
-
Anweisung: „Fest auf die dicke Folie beißen und versuchen, die Prüffolie festzuhalten.“
-
prüfen, ob kontralateral die Prüffolie (z. B. Shimstock-Folie) im hinteren Molarenbereich
gehalten wird
Hintergrund
Wertigkeit der instrumentellen Funktionsanalyse
Trotz all der auf den ersten Blick technisch interessanten Möglichkeiten wird weiterhin
empfohlen, die Diagnostik von CMD primär auf Informationen aus der Anamnese, klinischen
Untersuchung und bildgebenden Verfahren zu stützen, da Verfahren zur instrumentellen
Funktionsanalyse bisher den Standards bezüglich Sensitivität und Spezifität nicht
genügen bzw. ein derartiger Nachweis aussteht [15].
Auch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) rügte in seinem Bericht (HTA-Report 101; 2010), dass Studien fehlen, welche die instrumentelle
Funktionsanalyse zur Diagnose von kraniomandibulären Funktionsstörungen im Vergleich
zur klinischen Funktionsanalyse beurteilen.
In der aktuellen S2k-Leitlinie der DGFDT von 2015 zur instrumentellen zahnärztlichen Funktionsanalyse ist vermerkt, dass die
klinische der instrumentellen Funktionsanalyse vorausgehen sollte und die instrumentelle
Bewegungsanalyse als Screeninginstrument für intraartikuläre Störungen nicht geeignet
ist.
Je nach Kompensationsfähigkeit kann das kontralateral zur Zinnfolie liegende Gelenk
in Kompressions-, normal resilientes und Distraktionsgelenk unterschieden werden ([Tab. 4]).
Tab. 4 Diagnosezuordnung zum Ergebnis des Resilienztests nach Gerber.
Diagnose
|
Testergebnis
|
Kompressionsgelenk
|
Prüffolie wird bei 0,3 mm nicht gehalten.
|
normal resilientes Gelenk
|
Prüffolie wird bei 0,3 und 0,6 mm gehalten.
|
Distraktionsgelenk
|
Prüffolie wird bei 0,9 mm gehalten.
|
Orthopädische Testverfahren
Zur Berücksichtigung möglicher aufsteigender, CMD modifizierender, bzw. absteigender,
die Körperhaltung beeinflussender, orthopädischer Faktoren können verschiedene Testverfahren
und Messungen durchgeführt werden. Unter anderem können die Kopfhaltung, Verkrümmungen
der Wirbelsäule und Schulter- bzw. Beckenschiefstände erfasst werden. Auch orthopädische
Tests von Beinlängendifferenzen und zur Beweglichkeit der Iliosakralgelenke finden
teilweise Anwendung.
Die Prüfung eines potenziellen absteigenden Einflusses okklusaler Faktoren auf die
Position des Beckens bzw. die Körperhaltung im Allgemeinen kann mithilfe des Watterollentests nach Meersemann erfolgen [22].
Für alle diese Testverfahren wurde bislang eine therapeutische Relevanz bezüglich
der Behandlung von CMD nicht nachgewiesen [23]. In der Literatur finden sich vorwiegend Einzelfallberichte mit empirisch gewonnenen
Behauptungen. Die einzigen, wissenschaftlich fundierten Belege finden sich bislang
im Zusammenhang mit der Korrektur einer protrusiven Kopfhaltung [24]. Die Effektstärken orthopädischer Korrekturen auf schmerzhafte CMD erscheinen bislang
gering.
Physiotherapeutische Untersuchungstechniken
Die Untersuchungstechniken der Manuellen Strukturanalyse (MSA) entstammen physiotherapeutischen Verfahren und ergänzen die Palpation der Muskulatur
und Kiefergelenke durch isometrische Belastungstests. Synonym wird hierfür auch der
Begriff Manuelle Funktionsanalyse (MFA) verwendet. Hierzu gehören isometrische Belastungstests der Muskulatur (= ohne Längenänderung
des Muskels) bei Mundöffnung, Mundschluss, Laterotrusion und Protrusion. Es werden
im Gegensatz zur Palpation nicht exemplarische Muskelanteile auf Druck, sondern Muskelgruppen
auf Schmerzhaftigkeit unter Belastung geprüft. Weiterhin kann eine Abschätzung des
Trainingszustands der Muskulatur (normal, hypertroph, hypotroph) erfolgen. Darüber
hinaus ist es möglich, im Rahmen der isometrischen Muskeltests die Muskelkraft zu
eruieren. Während der Palpation kann zusätzlich der Muskeltonus bewertet werden (normal,
verhärtet).
Durch Kompression oder Distraktion der Kiefergelenke unter aktiver Funktion kann deren
Gleitverhalten hinsichtlich Veränderung der Intensität oder/und des Zeitpunkts von
Gelenkgeräuschen beurteilt werden. Durch manipulative Techniken wird die Gelenkkapsel
passiv auf entzündliche Veränderungen hin untersucht. Hierbei stehen je nach Schule
unterschiedliche, mehr oder weniger komplexe Grifftechniken zur Verfügung, um die
Gelenke nach dorsal, dorsokranial, kranial, lateral, medial und anterior zu bewegen
und auf Schmerzhaftigkeit entsprechender Gelenkareale zu testen. Durch Traktion der
Kiefergelenke kann die Elastizität der Gelenkkapsel geprüft werden. Auch können ergänzend
Informationen über aktive bzw. passive Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule
erfasst und neurodynamische Tests durchgeführt werden. Insbesondere Letzteres ist
eher dem geschulten Physiotherapeuten zu überlassen.
Instrumentelle Okklusionsanalyse
Die instrumentelle Okklusionsanalyse beschreibt die Simulation der okklusalen Verhältnisse
im Artikulator. Diese bietet gegenüber der klinischen Okklusionsanalyse Vor- und Nachteile
([Tab. 5]). Insbesondere aufgrund des Risikos von Übertragungs- und Simulationsfehlern müssen
die daraus gewonnenen Erkenntnisse immer klinisch auf Plausibilität geprüft werden.
Die Modelle werden hierfür oftmals mittels Zentrikregistrat montiert. Bei der dabei
vorgehensbedingt notwendigen Absenkung der vertikalen Kieferrelation für die Okklusionsanalyse
treten bei nicht scharnierachsengerechter Montage verstärkt Simulationsfehler auf.
Um diese Fehler zu reduzieren, wird der Oberkiefer oftmals unter Zuhilfenahme eines
Gesichtsbogens montiert. Zur Reduktion der Fehler bei der Simulation der dynamischen
Okklusion kann zusätzlich die Gelenkbahn des Artikulators individualisiert werden.
Tab. 5 Vor- und Nachteile der instrumentellen Okklusionsanalyse.
Vorteile
|
Nachteile
|
-
Beurteilung der okklusalen Interaktion von dorsal
-
keine Resilienz der Strukturen (Parodont, Gelenke)
-
bessere Reproduzierbarkeit
-
einfachere Beurteilung von Abrasions- und Erosionsspuren (insbesondere im Molarenbereich),
Zahnposition
|
|
Instrumentelle Funktionsanalyse
Unter dem Oberbegriff instrumentelle Funktionsanalyse werden im Bereich der Zahnmedizin
Untersuchungsmethoden verstanden, bei denen spezielle Geräte zum Einsatz kommen. Mithilfe
dieser Geräte können folgende Aspekte untersucht werden:
-
kinematische Bewegungen des Unterkiefers
-
Veränderungen der Kondylenposition
-
elektrische Muskelaktivität
Bewegungen des Unterkiefers
Die Bewegungsanalyse dient der Aufzeichnung und grafischen Darstellung der Unterkieferbewegungen.
Primär erfolgt eine Berechnung der Steilheit, Form und Länge der individuellen Gelenkbahn
in der sagittalen und transversalen Richtung im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang.
Im deutschsprachigen Raum bekannt sind hier vor allem das CADIAX der Firma GAMMA,
das JMA-System der Firma Zebris und das weitgehend baugleiche ARCUSdigma der Firma
KaVo [25].
Anhand der Form und Länge der Gelenkbahn können Informationen zu Bewegungsanomalien
gesammelt werden. Die darauf basierende Berechnung der Steilheit der Gelenkbahn sowie
des Gelenkspiels können zur Individualisierung von Artikulatoren verwendet werden.
Auch kann darüber die zeitliche Kongruenz von Bewegungen in beiden Kiefergelenken
erfasst werden.
Kondylenposition
Die Analyse vergleicht die Kondylenposition der Kiefergelenke bei unterschiedlichen
okklusionsnahen Positionen relativ zueinander. Dies kann z. B. zwischen zentrischer
Kondylenposition oder therapeutischer Position und der Position in habitueller Bisslage
stattfinden.
Elektrische Muskelaktivität
Eine weitere Option ist die elektromyografische Aufzeichnung von evozierten Muskelpotenzialen.
Diese bietet Möglichkeiten, die neuromuskuläre Situation des Patienten besser zu verstehen.
Auch kann mittels entsprechender Instrumente die Beißkraft der Personen erfasst werden.
Es zeigen jedoch auch gesunde Personen eine Seitendifferenz, sowohl der motorisch
evozierten Muskelpotenziale als auch der maximalen Beißkraft. Folglich sind diese
Methoden derzeit eher zur Verlaufskontrolle als zur Unterstützung der Therapieentscheidung
geeignet.
Bildgebende Verfahren
Konventionelle transkranielle Röntgenaufnahmetechniken (z. B. nach Schüller) gelten
heute für funktionsdiagnostische Zwecke als obsolet. Als einziges zweidimensionales,
röntgenbasiertes Verfahren wird derzeit die bereits in der Standarddiagnostik beschriebene
Panoramaschichtaufnahme empfohlen. Heute in der CMD-Diagnostik gebräuchliche dreidimensionale
röntgenbasierte Verfahren sind die dentale digitale Volumentomografie und die Computertomografie.
Zu den röntgenstrahlungsfreien Verfahren gehören das Magnetresonanztomogramm und die
Sonografie.
Digitale Volumentomografie (DVT)
Die dentale digitale Volumentomografie (DVT) ist inzwischen vielerorts verfügbar und
bietet die Möglichkeit der dreidimensionalen Darstellung knöcherner Strukturen. Die
Strahlenbelastung ist dabei je nach Gerät und untersuchtem Volumen zwischen der PSA
und dem CT anzusiedeln. Nachteilig bei der DVT ist die nur undifferenziert darstellbare
Situation der Weichgewebe. Bei geeigneter Auswahl des Untersuchungsvolumens, sowie
der Expositionsparameter, lässt sich in den meisten Fällen die Dosisbelastung geringer
als im CT gestalten. Zum Teil ist die Auflösung der knöchernen Strukturen im DVT etwas
besser als bei der CT.
Bedingt durch den eingeschränkten Aufnahmebereich und weitgehende Beschränkung auf
die Darstellung knöcherner Strukturen begrenzt sich die Indikation für die Anfertigung
eines DVT im funktionsdiagnostischen Bereich auf lokale knöcherne Veränderungen wie
solche der Kondylenform (Osteoarthrose, Tumoren), Ankylose, Entwicklungsanomalien
(Hypo- und Hyperplasie) oder Frakturen ([Abb. 10]). Da die individuelle Form der Kiefergelenkköpfchen sehr stark variiert, sollte
zum Vergleich das kontralaterale Gelenk ebenfalls erfasst werden.
Abb. 10 DVT des linken Kiefergelenks, Fragment einer alten Kondylusfraktur.
Entsprechend den Leitlinien der DGZMK ist die dentale DVT zur Diagnostik erosiver
kondylärer Veränderungen und degenerativer knöcherner Kiefergelenkerkrankungen der
zweidimensionalen Aufnahme deutlich überlegen und das diagnostische Hilfsmittel der
1. Wahl.
Computertomografie (CT)
Im Gegensatz zur DVT werden im Computertomogramm auch Weichgewebe differenziert dargestellt,
wenngleich eine Beurteilung der hyalinen Strukturen des Kiefergelenks (Gelenkknorpel)
und der Bänder nicht möglich ist ([Abb. 11]). Aufgrund des größeren Sichtfelds und der zusätzlichen Darstellung von Weichgewebe
eignet sich die CT sehr gut zur Ausschlussdiagnostik von raumfordernden Veränderungen
oder Frakturen.
Abb. 11 Darstellung beider Kiefergelenke in der CT in koronaler Schnittrichtung. Subkortikale
Sklerose im rechten Kondylus (man beachte die weißen Ausziehungen aus der Kortikalis
als Anzeichen einer intermediären Osteoarthrose) und verminderter Gelenkspalt im rechten
Kiefergelenk, linkes Kiefergelenk normal (gut gerundeter Kondylenkopf mit gut definiertem
kortikalem Rand).
Merke
Insofern sich die Fragestellung zur dreidimensionalen Struktur auf die knöchernen
Bestandteile der Kiefergelenke beschränkt, ist die DVT aus Gründen des Strahlenschutzes
Mittel der 1. Wahl. Aufgrund der genannten Limitationen (Strahlenbelastung, keine
Darstellung von Knorpel) kommen im Rahmen der Diagnostik von CMD sowohl CT als auch
DVT eher selten zur Anwendung.
Magnetresonanztomografie (MRT)
Die MRT, auch Kernspintomografie genannt, ist aufgrund der Freiheit von Röntgenstrahlung,
der geringen Neigung zur Artefaktbildung und der dreidimensionalen Darstellung von
Knorpel- und Weichgewebe der Goldstandard der dreidimensionalen bildgebenden Verfahren
in der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik, wenngleich das Auflösungsvermögen geringer
als bei der CT ist.
Die MRT basiert auf der Darstellung von magnetinduzierten Auslenkungseffekten des
Eigenimpulses von Wasserstoffprotonen. Wasserstoffarme Gewebe, wie die Kortikalis,
werden entsprechend signalarm (= dunkel), Fettgewebe signalreich (= hell) abgebildet.
Muskulatur und Knorpel haben eine intermediäre Signalintensität.
Um die Strukturen im Kiefergelenkbereich mit hinreichender Schärfe aufzeichnen zu
können, ist es sinnvoll, Oberflächenspulen im Bereich der Kiefergelenke während des
Aufnahmevorgangs zu platzieren.
Je nach Aufnahmeparameter können Strukturen selektiv hervorgehoben werden (Gewichtung):
-
In der T1-gewichteten Aufnahme erscheint Fett hyperintens (signalreich, hell) und damit auch fettreiche Gewebe (z. B.
Knochenmark). Diese faserbetonte Gewichtung eignet sich gut zur anatomischen Darstellung
des Discus articularis.
-
In der T2-gewichteten Aufnahme erscheinen stationäre Flüssigkeiten hyperintens, sodass flüssigkeitsgefüllte Strukturen
(z. B. Gelenkerguss, Zysten) signalreich und damit hell erscheinen.
-
Als 3., in der CMD-Diagnostik eher weniger gebräuchliche Option ist die Protonendichtewichtung (PD-Wichtung) verfügbar. Diese vermeidet die T1- und T2-bedingten Kontrastbildungen.
Jedoch nicht nur die Wichtung, sondern auch die Position des Unterkiefers ist relevant.
So ist oftmals nicht nur die Darstellung bei geschlossener Zahnreihe, sondern auch
in therapeutischer oder in maximal weit mundoffener Position hilfreich bei der Beurteilung
der artikulären Strukturen ([Tab. 6]).
Tab. 6 Empfohlene Schnittrichtungen, Kieferposition und Wichtung für die Anforderung eines
MRT zur Beurteilung der Kiefergelenkstrukturen.
Schnittrichtung
|
Mund geschlossen
|
Mund offen
|
parasagittal-oblique
|
T1 und T2
|
T1
|
koronal
|
T1 und T2
|
T1
|
Die Indikation im Bereich der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik liegt primär in der
Abklärung der Lage und Form des Discus articularis und seiner umgebenden Gewebe. Auch
die Position des Gelenkköpfchens innerhalb der Fossa articularis kann beurteilt werden.
Zur einfacheren Abgrenzung der Strukturen hat es sich als hilfreich erwiesen, Bewegungssequenzen
(Cine-MRT) anzufertigen, da hierbei die dynamischen Abläufe des Diskus-Kondylus-Komplexes
besser visualisiert werden ([Abb. 12]). Die Detaildarstellung ist bei diesen Sequenzen allerdings eingeschränkt.
Abb. 12 MRT des Kiefergelenks mit anteriorer Diskusverlagerung ohne Reposition (T1-Wichtung,
Schnittführung parasagittal-oblique) in geschlossener (a), halboffener (b) und maximal offener Mundöffnungsposition (c). Kreuz: Kondylus; Strichlinie: Diskus.
Gemäß dem Bundesmantelvertrag-Ärzte § 28 kann die Beauftragung formlos (gemäß § 13
Abs. 4 als Anspruchsnachweis ausreichend) oder auf einem Rezeptformular mit der Verdachtsdiagnose
und den geforderten Parametern erfolgen.
Sonografie
Die Ultraschalldiagnostik ist eine eingeschränkt geeignete Alternative zur bildgebenden
Darstellung des Diskus-Kondylus-Komplexes in Bewegung. Insbesondere die medialen Anteile
des Gelenkkomplexes sind durch die knochenbedingte Verschattung nicht visualisierbar.
Größter Vorteil ist die Darstellung intraartikulärer Bewegungen in Echtzeit. Auch
kann die Ultraschalldiagnostik zur Messung der Dicke und Darstellung der Struktur
der Hauptkaumuskeln bei Auffälligkeiten (z. B. unilaterale Masseterhypertrophie) eingesetzt
werden. Aufgrund der schwierigen Handhabung und Interpretierbarkeit der Bilder ist
die Anwendung und Auswertung entsprechend ausgebildeten Spezialisten vorbehalten.
Psychosoziale Messinstrumente
Neben den bereits in der Standarddiagnostik erfassten Parametern Schmerzbeeinträchtigung,
Depression und unspezifische körperliche Symptome können weitere Parameter erfasst
werden. So können Angsterkrankungen (z. B. mittels des State Trait Anxiety Inventory, STAI), Stressbelastung und Anzeichen auf eine posttraumatische Belastungsstörung abgeklärt
werden. Des Weiteren kann, um das Schmerzerleben des Patienten besser zu verstehen,
die Hamburger Schmerz-Adjektiv-Liste (HSAL) Anwendung finden. Auch die psychologische Resilienz und die Haltung zur Dankbarkeit
können bei Personen mit chronischen Schmerzen von Interesse sein [26].
Interdisziplinäre Diagnostik
Wie an der Vielzahl potenzieller Faktoren erkennbar, kann der Zahnarzt alleine oftmals
nur ein Screening leisten. Bei Hinweisen auf außerhalb seiner Expertise liegende krankheitsverursachende
oder -unterhaltende Faktoren sollte er Spezialisten anderer Fachgebiete hinzuziehen.
In einer Vielzahl der Fälle wird der Partner der Physiotherapeut sein.
Auch eine nähere Abklärung durch einen psychologisch geschulten Arzt bei erheblichen
Auffälligkeiten im psychologischen Screening ist oftmals sinnvoll, wenngleich dem
Patienten nicht einfach zu vermitteln. Die Kunst besteht hierbei, den Patienten auf
seiner somatischen Wahrnehmungsebene abzuholen [27].
Darüber hinaus gibt es Möglichkeiten, bei orthopädischen Auffälligkeiten die gesamtstatische
körperliche Situation durch einen Orthopäden beurteilen zu lassen. Bei Verdacht auf
systemische Erkrankungen ist die Einbeziehung eines Internisten zur weiteren Abklärung
dringend zu empfehlen. Auch andere Fachärzte wie Neurologe, Augenarzt, Hals-Nasen-Ohren-Arzt
und Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurg können je nach abzuklärender Fragestellung konsultiert
werden.
Diagnosebildung
Kraniomandibuläre Dysfunktionen sind eine heterogene Gruppe von Erkrankungen der Kiefergelenke
und der Kaumuskulatur. Die übergeordnete Diagnose „kraniomandibuläre Dysfunktion“
ist demzufolge therapeutisch wenig hilfreich. Eine weitere Subklassifizierung ist
zur Wahl der Therapie sinnvoll.
Eine Übersicht über die heute im Rahmen kraniomandibulärer Dysfunktionen möglichen
Diagnosen gibt die erweiterte Taxonomie der DC/TMD ([Tab. 7]) [28]. Allerdings ist eine der größten Herausforderungen die Bildung jener Diagnosen aus
den gewonnenen Informationen. Wie auch andere Versuche der taxonomischen Erfassung
setzen diese Übersichten auf Vollständigkeit der Erfassung pathologischer Veränderungen.
Hierbei bleiben deren Häufigkeit, diagnostische Abgrenzbarkeit und therapeutische
Relevanz unberücksichtigt. Dadurch leidet die Übersichtlichkeit erheblich, weshalb
diese Übersichten für den täglichen Gebrauch nur bedingt geeignet sind.
Tab. 7 Erweiterte physische Taxonomie der DC/TMD nach Peck [28].
Kiefergelenkserkrankungen
|
Gelenkschmerz
|
|
Gelenkstörungen
|
-
Diskusverlagerung (DV):
-
mit Reposition
-
mit Reposition mit intermittierender Blockade
-
ohne Reposition mit eingeschränkter Mundöffnung
-
ohne Reposition ohne eingeschränkte Mundöffnung
|
Hypomobilitätsstörungen außer Diskusstörungen
|
|
Hypermobilitätsstörungen
|
|
degenerative Gelenkerkrankungen
|
|
Frakturen
|
–
|
kongenitale Entwicklungsstörungen
|
-
Aplasie
-
Hypoplasie
-
Hyperplasie
|
Kaumuskelerkrankungen
|
Muskelschmerzen
|
|
Kontraktion
|
–
|
Hypertrophie
|
–
|
Neoplasie
|
–
|
Bewegungsstörungen
|
-
orofaziale Dyskinesie
-
oromandibuläre Dystonie
|
systemisch/zentral bedingte Schmerzen der Kaumuskulatur
|
-
Fibromyalgie
-
Widespread Pain
|
Kopfschmerzen
|
CMD-assoziierter Kopfschmerz (s. a. ICHD-3)
|
–
|
assoziierte Strukturen
|
koronoidale Hyperplasie
|
–
|
Dem stehen Taxonomien gegenüber, die sich auf Pathologien mit relevanter Häufigkeit
beschränken. Hierzu zählt im deutschsprachigen Raum die 1991 erstmals publizierte
und 2006 aktualisierte Nomenklatur der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT), die sich an der Grundstruktur der Internationalen Kopfschmerz-Klassifikation der International Headache Society (IHS) orientiert ([Tab. 8]).
Tab. 8 Diagnosen gemäß der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie
[31].
Okklusopathien
|
gestörte statische Okklusion
|
gestörte dynamische Okklusion
|
Pressen
|
Knirschen
|
Myopathien
|
Druckdolenz einer oder mehrerer funktioneller Muskelgruppen
|
Arthropathien
|
Diskusverlagerung
|
-
mit Reposition
-
ohne Reposition
|
Arthrose
|
|
Kapsulitis
|
Kondylusverlagerung
|
|
Kondylushypermobilität
|
Kondylusluxation
|
Bis jetzt ist es hierfür allerdings noch nicht gelungen, einen nachgewiesen zuverlässigen
diagnostischen Pfad von den einzelnen Befunden zur konkreten Diagnose zu bilden. Ahlers
und Jakstat versuchten, mittels typischen, wahrscheinlichen und begleitenden Befunden
bzw. Symptomen und einem Diagnosepiloten, diese Problematik anzugehen. Die Operationalisierung
– und damit eine von der individuellen Meinung und Erfahrung weitgehend unabhängige,
von subjektiver Bewertung losgelöste Diagnosestellung – gelang ihnen aber nicht [5]. Damit bieten sie einen Mehrwert gegenüber der überwiegenden Mehrzahl der in Deutschland
verfügbaren Befunderhebungssysteme, die oftmals nur eine strukturierte Erfassung relevanter
Daten, aber nicht deren operationalisierte Wandlung in Diagnosen unterstützen. Die
Bildung einer konkreten Diagnose unterliegt jedoch weiterhin dem Ermessen des individuellen
Zahnarztes und ist hierdurch erheblich von dessen bisheriger Erfahrung und seinem
Wissen abhängig.
In Kenntnis dieses Problems wurden vor über 20 Jahren von diversen internationalen
Fachgesellschaften, darunter auch der European Academy of Craniomandibular Disorders, Anstrengungen unternommen, für die häufigsten Diagnosen reliable Kriterien zu schaffen.
Dies resultierte in den Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD), die 1992 publiziert wurden [16]. Diese Kriterien waren primär zur Erlangung einer besseren Vergleichbarkeit der
Forschungsergebnisse gedacht und haben sich zum De-facto-Standard in der internationalen
CMD-Forschung entwickelt.
Im Jahr 2014 wurde nach langem Ringen die Nachfolgeversion, die um das „Research“
gekürzten DC/TMD, publiziert [17]. Diese Version befindet sich derzeit in Übersetzung in die deutsche Sprache und
kann nach erfolgreicher Validierung unter www.rdc-tmdinternational.com kostenfrei bezogen werden.
Grundsätzlich stellen die DC/TMD ebenfalls eine strukturierte Erfassung spezifischer
Befunde dar, bieten aber 2 derzeit einzigartige Vorteile: Es bestehen einerseits präzise
Anweisungen, wie, wo und mit welcher Kraft die Untersuchungen erfolgen sollen. Andererseits
existieren operationalisierte Diagnosekriterien, die eine nach dem aktuellen Wissensstand
möglichst zuverlässige Bildung der häufigsten Diagnosen ermöglichen ([Tab. 9]). Eine detaillierte Darstellung der Diagnosealgorithmen wurde bereits in deutscher
Sprache publiziert [29], [30].
Tab. 9 Kriterien für Diagnosen der Achse I gemäß den DC/TMD [17].
Diagnose
|
Anamnese
|
Befunde
|
Schmerzhafte Diagnosen
|
Myalgie (Sensitivität: 90 %; Spezifität: 99 %)
|
Schmerzen im Kausystem, die sich durch Kieferbewegungen, unter Belastung oder bei
parafunktionellen Aktivitäten beeinflussen lassen
|
Angabe von bekannten Schmerzen im Bereich der Mm. temporales oder masseterici bei
|
myofaszialer Schmerz mit übertragenem Schmerz (Sensitivität: 86 %; Spezifität: 98 %)
|
siehe Myalgie
|
Angabe von bekannten Schmerzen auf Palpation im Bereich der Mm. temporales oder masseterici. Angabe von Schmerzen außerhalb der anatomischen Grenzen des palpierten
Muskels (z. B. übertragen zu einem Zahn)
|
Arthralgie (Sensitivität: 89 %; Spezifität: 87 %)
|
siehe Myalgie
|
Angabe von bekannten Schmerzen im Kiefergelenk bei
-
Palpation der Kiefergelenke
-
maximaler aktiver oder passiver Mundöffnung, Seitwärts- oder Protrusionsbewegung
|
CMD-assoziierter Kopfschmerz (Sensitivität: 89 %; Spezifität: 87 %)
|
Kopfschmerzen im Temporalisbereich, die sich durch Kieferbewegungen, unter Belastung
oder bei parafunktionellen Aktivitäten beeinflussen lassen
|
Angabe von bekannten Kopfschmerzen im Bereich der Schläfen bei
-
Palpation der Mm. temporales
-
maximaler aktiver oder passiver Mundöffnung, Seitwärts- oder Protrusionsbewegung
Anmerkung: Zusätzlich muss eine weitere schmerzhafte CMD-Diagnose vorliegen.
|
Schmerzfreie Diagnosen
|
Diskusverlagerung mit Reposition (Sensitivität: 34 %; Spezifität: 92 %)
|
Geräusche in den Kiefergelenken
|
knackende Geräusche bei
|
Diskusverlagerung mit Reposition und intermittierender Mundöffnungseinschränkung (Sensitivität:
38 %; Spezifität: 98 %)
|
Geräusche in den Kiefergelenken und temporäre Mundöffnungsbehinderung
|
knackende Geräusche bei
|
Diskusverlagerung ohne Reposition und mit Mundöffnungseinschränkung (Sensitivität: 80 %; Spezifität: 97 %)
|
Mundöffnungseinschränkung mit aktueller oder früherer Behinderung der Fähigkeit zu
essen
|
maximale passive Mundöffnung unter 40 mm
|
Diskusverlagerung ohne Reposition und ohne Mundöffnungseinschränkung (Sensitivität: 54 %; Spezifität: 79 %)
|
Mundöffnungseinschränkung mit aktueller oder früherer Behinderung der Fähigkeit zu
essen
|
maximale passive Mundöffnung 40 mm oder mehr
|
degenerative Gelenkerkrankung (Sensitivität: 55 %; Spezifität: 61 %)
|
vorhandene Geräusche in den Kiefergelenken
|
Reiben während der maximalen aktiven Mundöffnung, Seitwärts- oder Protrusionsbewegung
|
Subluxation (Sensitivität: 98 %; Spezifität: 100 %)
|
Mundschlussbehinderung in weit geöffneter Position, die sich durch Manipulation lösen
lässt
|
Bei klinischem Vorliegen der Störung ist ein Manöver zur Deblockade notwendig.
|
Insbesondere die Algorithmen sind ein Meilenstein bei der Diagnosebildung von CMD.
Dabei sollte aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass neben diesen häufigen und abgrenzbaren
Diagnosen viele Differenzialdiagnosen bestehen, deren Abgrenzung mittels operationalisierter
diagnostischer Kriterien noch nicht gelungen ist. Deshalb kann auf diese Diagnosekriterien
nicht blind vertraut werden, da eine Sensitivität und Spezifität von nahezu 100 %
bei vielen der Diagnosen noch nicht erreicht wurden. Die individuelle klinische Erfahrung
wird deshalb weiterhin eine erhebliche Rolle spielen.
Leider lehnen einige Meinungsbildner eine Standardisierung der Diagnosebildung mit
der Begründung der Individualität des Patienten vehement ab. Ohne Standardisierung
der Diagnosebildung sind jedoch der Vergleich von Therapieerfolgen und die Wahl der
passenden Therapie erheblich erschwert.
Merke
Durch die Operationalisierung der Diagnosebildung wird eine vom individuellen Behandler
weitgehend unabhängige und damit interindividuell vergleichbare Diagnose mit bekannten
Gütekriterien erlangt.
Abrechnung
Entsprechend § 28 Abs. 2 Sozialgesetzbuch V dürfen die gesetzlichen Krankenkassen
die Kosten für funktionsanalytische Leistungen (Analyse der Kiefergelenke, der Kaumuskulatur
und umgebender Strukturen) nicht übernehmen. Eine Diagnose ist für die Veranlassung
einer Therapie aber eine Conditio sine qua non. Damit eine medizinisch sinnvolle Diagnostik,
insbesondere eine umfassende Anamnese, erfolgen kann, ist aus wirtschaftlicher Sicht
eine Privatliquidation dieser Leistungen unumgänglich. Die Berechnung dieser Leistungen
erfolgt aus diesem Grund auch für GKV-Versicherte nach der Gebührenordnung für Zahnärzte
(GOZ, Stand: 2012).
In der Regel werden bei der Erstvorstellung eines Patienten mit Verdacht auf CMD eine
Kontrolluntersuchung, Aufklärung, Kosteninformation sowie die Anfertigung einer Panoramaschichtaufnahme
erfolgen, Leistungen, die auch im Rahmen der GKV liquidiert werden können. In einer
nachfolgenden Sitzung erfolgen dann eine ausführliche Anamnese und eine Ergänzung
der bereits erhobenen Befunde zur Komplettierung der Standarddiagnostik.
Für die klinische Funktionsanalyse inklusive Dokumentation ist die Position GOZ 8000 vorgesehen. Die Leistung nach GOZ 8000 umfasst die prophylaktische, prothetische, parodontologische und okklusale Befunderhebung,
funktionsdiagnostische Auswertung von Röntgenaufnahmen des Schädels und der Halswirbelsäule
sowie klinische Reaktionstests (z. B. Resilienztest, Provokationstest), wobei die
BZÄK in ihrem Kommentar zur GOZ eine formgebundene Dokumentation (z. B. mittels der
bereits erwähnten Erhebungsbögen) empfiehlt.
Eine CMD-Vorsorgeuntersuchung (Screening) erfüllt nicht die Anforderungen an die GOZ 8000. Eine Übersicht zu zusätzlich berechnungsfähigen
Leistungen ist in [Tab. 10] dargestellt. Diese ist nicht konform mit der Auffassung des Verbands der privaten
Krankenversicherung, der ein psychosomatisches Screening und das Screening des kraniozervikalen
Systems als Bestandteile der klinischen Funktionsanalyse und damit der GOZ 8000 ansieht. Das CMD-Screening wird vonseiten des Verbands als Bestandteil der GOZ 0010 betrachtet (Stand: April 2016).
Tab. 10 Gemäß dem Kommentar der BZÄK (Stand: Juli 2016) zusätzlich zur GOZ 8000 berechnungsfähige
Leistungen.
Leistungen
|
Abrechnungsziffer
|
eingehende Untersuchung
|
GOZ 0010, alternativ GOÄ 6
|
Beratung
|
GOÄ 1
|
symptombezogene Untersuchung
|
GOÄ 5
|
Röntgenuntersuchungen
|
GOÄ 5000 ff
|
Abformung für Situationsmodelle
|
GOZ 0060
|
Vitalitätsprüfung
|
GOZ 0070
|
Parodontalstatus
|
GOZ 4000
|
manuelle Strukturanalyse
|
GOZ § 6 Abs. 1
|
Tests zur Aufdeckung orthopädischer Cofaktoren
|
GOZ § 6 Abs. 1
|
Tests zur Aufdeckung psychosomatischer Cofaktoren
|
GOZ § 6 Abs. 1
|
CMD-Screening zur Überprüfung des Vorhandenseins spezifischer Symptome kraniomandibulärer
Dysfunktionen
|
GOZ § 6 Abs. 1
|
Für weiterführende Maßnahmen zur klinischen Funktionsanalyse (z. B. manuelle Strukturanalyse)
wird vom Verband der privaten Krankenversicherungen zur analogen Verwendung die Position
8000 empfohlen.
Je nach Komplexität der Krankengeschichte sollte für die Standarddiagnostik inklusive
Aufklärungsgespräch 60 (schmerzfreies Knacken) bis 90 Minuten (multiple Vorbehandlungen,
psychosomatisch auffällige Personen) eingeplant werden. Um den Zeitaufwand planbarer
zu gestalten, ist es ratsam, dem Patienten bei der Erstvorstellung bereits die Fragebögen
zur Anamnese und psychosozialen Diagnostik auszuhändigen, die dieser aber erst einen
Tag vor dem Untersuchungstermin komplettieren und dann zum Termin mitbringen soll.
Dies erlaubt sowohl eine strukturierte und zeiteffektive Anamnese als auch eine objektivierte
Bewertung der psychosozialen Parameter.
Fazit
Diagnostische Instrumente bzw. Verfahren zur Diagnosebildung sollten zum Wohl des
Patienten eine zuverlässige Diagnosebildung ermöglichen. Die Diagnose sollte daher
primär auf den Informationen aus der Standarddiagnostik basieren. Dazu zählen eine
umfassende schmerzbezogene Anamnese, eine psychosoziale Diagnostik, eine klinische
Funktionsanalyse, eine klinische Okklusionsanalyse und eine Panoramaschichtaufnahme.
Die Untersuchungsmethoden der erweiterten Diagnostik eignen sich derzeit mangels ungeklärter
Fragen hinsichtlich ihrer Gütekriterien bzw. der therapeutischen Relevanz nicht für
den Routineeinsatz und sollten spezifischen Fragestellungen bzw. in der Funktionsdiagnostik
sehr erfahrenen Personen vorbehalten bleiben, da ansonsten das Risiko einer Fehlversorgung
besteht. Auch die Diagnosebildung sollte, insofern derzeit möglich, auf Algorithmen
basieren, die bekannte Gütekriterien aufweisen.
Nichtsdestotrotz ist das Wissen des Untersuchers zur differenzialdiagnostischen Abklärung
und Prüfung der Plausibilität im Einzelfall unverzichtbar. Insbesondere die differenzialdiagnostische
Abklärung bzw. die Suche nach auslösenden und unterhaltenden Faktoren erfordert oftmals
eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und viel Fingerspitzengefühl bei der ausführlichen
Anamnese.
Danksagung
Ich danke Herrn Ingolf Riemer für die Unterstützung bei der Anfertigung und Bearbeitung
der fotografischen Aufnahmen.