Gesundheitswesen 2016; 78(11): 686-688
DOI: 10.1055/s-0042-116192
Stellungnahme
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Public Health – mehr Gesundheit für alle

Ziele setzen – Strukturen schaffen – Gesundheit verbessernPublic Health: Setting Goals, Establishing Structures and Improving Health for All
N. Dragano
1   Institut für Medizinische Soziologie, Weiterbildungsstudiengang MSc Public Health, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
,
A. Gerhardus
2   Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen
,
B.-M. Kurth
3   Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin
,
T. Kurth
4   Institute of Public Health, Charité-Universitätsmedizin Berlin
,
O. Razum
5   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld
,
A. Stang
6   Zentrum für Klinische Epidemiologie, Universitätsklinikum Essen
,
U. Teichert
7   Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Düsseldorf
,
L. H. Wieler
3   Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin
,
M. Wildner
8   Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Erlangen/Oberschleißheim
,
H. Zeeb
9   Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie, Bremen
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Dr. rer. nat. Bärbel-Maria Kurth
Abteilung für Epidemiologie undGesundheitsmonitoring
Robert Koch-Institut
General-Pape-Straße 62–66
12101 Berlin

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Oktober 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Der bevölkerungs- bzw. systembezogene Ansatz von Public Health ist ein kritisches Element für die nachhaltige Weiterentwicklung eines Gesundheitswesens und zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheiten. Er ist angesichts der globalen gesundheitlichen Herausforderungen unverzichtbar. Die Bedeutung von Public Health für die Gesundheit der Menschen wird in Deutschland jedoch institutionell nur unzureichend widergespiegelt. Dies gilt für Forschung und Lehre, den Öffentlichen Gesundheitsdienst und auch für Querschnittsbereiche, in denen Public Health nicht ausreichend repräsentiert ist.

In der Vergangenheit gab es verschiedene Initiativen, um die historisch bedingten strukturellen Defizite in Deutschland aufzuarbeiten und die Rolle von Public Health zu stärken. Das hier vorgelegte White Paper soll eine Diskussion über zukünftige gesundheitspolitische Handlungsoptionen anregen. Die Autorinnen und Autoren sind in Praxis, Forschung und Lehre von Public Health in Deutschland aktiv.


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Abstract

Public health is a population- and system-based approach that is needed to improve the health of societies and to decrease health inequalities. In the face of global challenges, the public health approach is essential. In Germany, the importance of public health is only partly reflected by its institutions and institutional arrangements. This applies equally to research, teaching and training, as well as to the public health service. Furthermore, the public health perspective is not sufficiently considered in cross-sectional topics that are relevant for health.

There have been several initiatives to overcome structural deficits which can partly be traced back to historical circumstances. The White Paper presented here should encourage discussions about future policy options in public health. The authors represent public health in practice, research, and teaching in Germany.


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Sich ständig ändernde Lebensumstände beeinflussen die Gesundheit der Menschen

Daher brauchen wir eine kontinuierliche Anpassung der Strategien und Maßnahmen, die Gesundheit fördern und schützen sowie Krankheiten bekämpfen. „Public Health ist die Wissenschaft und die Praxis der Verhinderung von Krankheit, Verlängerung des Lebens und Förderung der Gesundheit durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft“ (WHO-Definition). Verantwortungsbewusste und effiziente Gesundheitspolitik kann nur mit einem kompetenten, funktionsfähigen, vielfältigen und flexiblen Public-Health-System umgesetzt werden.


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Erfolge und aktuelle Herausforderungen von Public Health in Deutschland

Das Public-Health-System Deutschlands trägt wesentlich dazu bei, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Das Gesundheitsbewusstsein der Menschen nimmt zu: Immer weniger Jugendliche rauchen, Impfungen werden überwiegend gut angenommen, Sport und Bewegung erfreuen sich steigender Beliebtheit. Seit 40 Jahren erleiden immer weniger Menschen einen Herzinfarkt, die Prävention und Behandlung von Krebserkrankungen hat sich verbessert und die Menschen leben immer länger.

Dennoch bleibt es auch in Deutschland eine große Herausforderung, die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten, kontinuierlich zu verbessern und vor neuen Gefahren zu schützen. Nach wie vor besteht ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Bildung und Gesundheit: Menschen mit niedrigem Sozialstatus haben statistisch z. B. eine 5–10 Jahre geringere Lebenserwartung und ein 2- bis 3-fach höheres Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden oder an einer Depression zu erkranken. Bluthochdruck, Diabetes und behandelbare chronische Infektionskrankheiten bleiben viel zu häufig unerkannt und damit unbehandelt. Innerhalb Deutschlands bestehen gravierende regionale Unterschiede, so etwa bei der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit. Viele Menschen werden durch ungesunde Ernährung oder mangelnde Bewegung krank; belastende Arbeitsbedingungen begünstigen psychische und physische Erkrankungen, was sich in Fehltagen und Frühberentungen niederschlägt. Dass auch die Infektionskrankheiten noch nicht besiegt sind, zeigen bereits lange bestehende oder neu auftretende große weltweite Epidemien. Durch veränderte Lebens- und Umweltbedingungen, Warenketten und Reiseverkehr drohen neue Infektionsgefahren. Durch falschen Einsatz von Antibiotika treten zunehmend antimikrobielle Resistenzen auf. Zusätzliche Herausforderungen für das Gesundheits- und Sozialsystem resultieren aus demografischen Veränderungen durch Zuwanderung und Alterung der Gesellschaft.


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Wie stellt sich Public Health in Deutschland den Herausforderungen?

Krisen erkennen und meistern

Insbesondere bei Ausbrüchen von Infektionen kommt es auf die Reaktionsgeschwindigkeit und die Flexibilität der Krisenreaktionssysteme auf allen Ebenen an. Diese kann noch weiter verbessert werden, z. B. durch Ausbau der molekularen Surveillance. Transparente und ergebnisoffene Evaluationen des Krisenmanagements – insbesondere hinsichtlich der ergriffenen Maßnahmen – ermöglichen nachhaltiges Lernen und somit angemessenes Handeln in der Zukunft.


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Gesundheit schützen

Gesundheitlich besonders gefährdete Gruppen brauchen besonderen Schutz. Es müssen wirksamere Regeln und Kontrollmaßnahmen aufgebaut werden. Die bewährten Gesundheitsschutz-Strukturen (u. a. Arbeitsschutz, Infektionsschutz, Lebensmittelüberwachung und Patientensicherheit) müssen mit anderen Public-Health-Aktivitäten in Deutschland und international verknüpft werden.


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Gesundheit fördern

Gesunde Lebensverhältnisse können nur geschaffen werden, wenn wir wissen, was die Gesundheit der Menschen fördert. Die Lebenswelten wie das Wohnumfeld, Kita, Schule oder der Arbeitsplatz sollen noch stärker gesundheitsförderlich gestaltet sein. Chancengleichheit, Partizipation und Empowerment der Menschen sind weitere Faktoren, welche die Selbstwirksamkeit der Bürger/innen erhöhen und gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen ermöglichen.


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Für die Praxis und mit der Praxis forschen

Public Health-Forschung mit klarem Bezug zur Praxis muss ausgebaut werden. Es fehlt an der konkreten Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Breite der Bevölkerung. Multi- und interdisziplinäre Forschungsvorhaben müssen Maßnahmen, Programme und komplexe Interventionen auf der Bevölkerungsebene evaluieren. Public-Health-Forschung hat das Potenzial, Antworten auf die aktuell drängenden und in Zukunft aufkommenden Fragen zur Gesundheit der Bevölkerung zu finden.

Das große Potenzial von Public Health liegt in dem synergistischen Zusammenwirken aller Akteure (wie z. B. Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD), Akteure in den Lebenswelten, ambulante und stationäre Versorgung), der Verzahnung von Forschung und Praxis sowie dem engen Austausch zwischen den verschiedenen beteiligten Politikbereichen (Gesundheit, Raumplanung, Verkehr, Umwelt, Wohnungsbau, Soziales, Sport, Jugend usw.).

Die vielfältigen Akteure auf dem Gebiet von Public Health sind mit großem Engagement angetreten, sich diesen Aufgaben zu stellen. Da, wo die Rahmenbedingungen dies erschweren, ist die Unterstützung durch die Politik erforderlich.


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Wir brauchen politische Impulse, um Public Health in Deutschland zu stärken!

Den Öffentlichen Gesundheitsdienst durch mehr Personal stärken

Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland braucht auf allen Ebenen mehr Ressourcen, um so seinen unverzichtbaren Beitrag für den effizienten und effektiven Schutz der Gesundheit der Bevölkerung leisten zu können. Es fehlt an ausreichendem Personal in vielen Disziplinen und Bereichen der öffentlichen Gesundheit in Deutschland. So ist z. B. die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern in den letzten 20 Jahren um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst benötigt einen an die Erweiterung des Aufgabenspektrums gebundene Anpassung des Stellenschlüssels sowohl für ärztliche wie auch nicht-ärztliche Mitarbeiter/innen. Dies beinhaltet auch Personalressourcen im akademischen Sektor (z. B. ÖGD-Professuren, Postdoc-Stellen).


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Schools of Public Health stärken

Deutschland braucht mehr inter- und transdisziplinäre Hochschulinstitutionen, an denen Public-Health-Forschung und Lehre betrieben wird. Sie kooperieren mit medizinischen Einrichtungen, mit dem ÖGD und mit Forschungszentren, sind jedoch von diesen finanziell und organisatorisch unabhängig. Ihre Zahl muss auf 6–8 erhöht werden und eine Mindestausstattung gesichert werden.


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Gewinnung von Fachkräften für die Öffentliche Gesundheit

Neben dem Ausbau der interdisziplinär angelegten Public Health-Studiengänge müssen Public Health-Lehrinhalte stärker im Medizinstudium verankert werden. Innovative Lösungen, wie die Einrichtung von Lehrstühlen für Öffentliche Gesundheit an den medizinischen Fakultäten, sind zu fördern. Nur so können mehr Fachkräfte für Praxis und Forschung in diesem wichtigen Bereich gewonnen werden.


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Forschung fördern

Die Public-Health-Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland muss gestärkt werden. Dies muss sowohl durch eine finanzielle als auch durch eine strukturelle Förderung geschehen. Die vielfältigen Vorschläge hierfür bedürfen eines transparenten und offenen politischen Diskurses. Eine verbesserte Verzahnung des öffentlichen Gesundheitsdienstes mit akademischen Einrichtungen (Medizinische Fakultäten, Schools of Public Health u. a.) vor Ort sollte beispielsweise im Rahmen eines gesonderten BMBF-Förderprogramms („Public Health Partnership“) im Rahmen einer Anschubfinanzierung gefördert werden.


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Verlässliche Daten schaffen

Es werden verlässlichere Daten zu Gesundheit, Gesundheitsverhalten und gesundheitlicher Versorgung der Bevölkerung benötigt. Eine optimierte Nutzung der Sozial-, Versorgungs-, oder Umweltdaten ermöglicht auch lokale und regionale Auswertungen und damit spezifische, an die konkreten Bedürfnisse vor Ort angepasste Maßnahmen. Dazu benötigt Deutschland ein Forschungsdatengesetz, welches einen forschungsfreundlicheren Zugang zu existierenden Daten erlaubt.


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Gesundheitsthemen effektiv kommunizieren

Die Menschen brauchen verlässliche Informationen zur Gesundheit, um ihre Gesundheitskompetenz zu erhöhen. Insbesondere gefährdete, schwer erreichbare und benachteiligte Bevölkerungsgruppen müssen zielgruppengerecht angesprochen werden. Öffentliche Stellen und Massenmedien teilen sich diese Verantwortung mit anderen Akteuren. Für die Informationen zur Gesundheit muss eine hohe Qualität gelten – was insbesondere für Informationen im Internet eine große Herausforderung darstellt.


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Gesundheit und Wohlbefinden durch Politik verbessern: Public Health bietet umfassende und gerechte Lösungen!

Deutschland braucht eine langfristige, nationale Public-Health-Strategie! Diese sollte auf internationalen Vereinbarungen aufbauen und gemeinsam von den vielfältigen Akteuren in starker nationaler und internationaler Vernetzung umgesetzt werden. Die Etablierung konkreter politischer Routinen und Zielprogramme kann helfen, die Fortschritte in der Umsetzung kontinuierlich zu begleiten und zu bewerten.

Ein wichtiges Ziel dieser Strategie sollte dabei sein, die Chancen auf eine lange Lebenszeit in guter Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Region und sozialer Stellung zu verbessern.

Public Health identifiziert fördernde und gefährdende Einflüsse auf die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft, entwickelt daraus effektive Interventionsstrategien, implementiert und evaluiert die Maßnahmen auf Bevölkerungsebene. Erfolge werden durch gezielte Veränderungen des Verhaltens der Einzelnen bei gleichzeitiger Anpassung der gesellschaftlichen Verhältnisse erreicht. Public Health, und als dessen integraler Bestandteil der Öffentliche Gesundheitsdienst, stärken den Dialog sowohl zwischen Wissenschaft und Praxis als auch zwischen Politik und Bürger/innen. Eine Förderung von Public Health in Deutschland ist eine nachhaltige Investition in die Gesundheit unserer Bevölkerung und wird zudem der wachsenden internationalen Verantwortung Deutschlands gerecht!


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Interessenkonflikt:

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Korrespondenzadresse

Dr. rer. nat. Bärbel-Maria Kurth
Abteilung für Epidemiologie undGesundheitsmonitoring
Robert Koch-Institut
General-Pape-Straße 62–66
12101 Berlin