ergopraxis 2017; 10(01): 18-24
DOI: 10.1055/s-0042-118131
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Ergotherapie bei Burnout – Den Energietank auffüllen

Regina Roth

Verantwortlicher Herausgeber dieser Rubrik:
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Januar 2017 (online)

 

Immer mehr Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens ein Burnout. Ergotherapie kann Betroffenen helfen, gesundheitsschädigende oder hemmende Muster zu durchbrechen, damit sie in ihrem Alltag wieder gut zurechtkommen. Erfahren Sie, welche Therapieansätze hilfreich sein können, das Ausgebranntsein hinter sich zu lassen.


#

Regina Roth

Zoom Image

Regina Roth, Ergotherapeutin BcOT, Master of Medical Education MMEbe, Master NLP, gibt seit 2003 Seminare unter anderem zum Thema „Ergotherapie bei Burnout-Syndrom“. Nach knapp 20 Jahren im Klinikbereich (Akut, Reha, Ambulant) in der Neurologie, Handtherapie, Geriatrie und Psychiatrie ist sie seit 2015 in eigener Praxis in Lyss (Schweiz) tätig. Kontakt: kontakt@regina-roth.com

Lernziele

  • Sie kennen den aktuellen Stand der diagnostischen Einordnung des Burnout-Syndroms.

  • Sie lernen unterschiedliche ergotherapeutische Behandlungsansätze bei Burnout kennen

  • Sie erhalten Einblick in den Ablauf einer exemplarischen ergotherapeutischen Behandlung bei Burnout.

Christian Löfflers[*] Frau hat ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder es ändert sich etwas oder sie ist weg. Sie hat ihn gezwungen, zum Arzt zu gehen. Dieser hat den 33-Jährigen zu uns in die ambulante Ergotherapie überwiesen. Auf seiner Verordnung steht „Erschöpfungsdepression/Burnout-Syndrom“.


#

Burnout – Diagnose oder nicht?

Es gibt bisher noch keine anerkannte Definition des Burnout-Syndroms, da objektive Krankheitsmarker und eine einheitliche Definition der Symptome fehlen.

Dr. Dietmar Hansch, Psychotherapeut und Facharzt für Innere Medizin, betrachtet „fortgeschrittene Burnout-Prozesse auch als eine Untergruppe der depressiven Erkrankung, deren Ursachenschwerpunkt in einer langjährigen, erschöpfenden Auseinandersetzung mit Umweltstressoren liegt, vor allem im beruflichen Bereich“ [1, 2]. Für einen weit fortgeschrittenen Burnout-Prozess finden sich in der Regel nach Dr. Manfred Nelting, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, folgende Befunde [3]:

  • Vollbild einer schweren Depression

  • Einschränkungen der Herzratenvariabilität

  • Blutdruckregulationsstörungen

  • vegetative Regulationsstörungen (z. B. Reizmagen)

  • Störung im Bereich der Stresshormone

  • gestörte Immunparameter

  • gehäufte wiederkehrende Infekte

  • körperliche und emotionale Erschöpfung mit Kraftlosigkeit

  • hochgradig eingeschränktes Durchhaltevermögen

  • betäubte Empfindungen in sinnlicher/emotionaler Wahrnehmung


#

ICD und Burnout

Die ICD-10 klassifiziert das Burnout-Syndrom bisher nicht als eine eigenständige Diagnose [4]. Somit ist es keine anerkannte somatische oder psychiatrische Erkrankung. Es wird jedoch unter „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ in Kapitel XXI (Z73) der ICD-10 aufgezählt – als Faktor, der die Gesundheit negativ beeinflussen kann ([TAB. 1]).

TAB. 1 Burnout in der ICD-10 [4]

Einordnung des Burnout-Syndroms in der ICD-10

Kapitel XXI (Z00–Z99):

Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen

Gruppe Z70–Z76:

Personen, die das Gesundheitswesen aus sonstigen Gründen in Anspruch nehmen

  • Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung

  • Akzentuierung von Persönlichkeitszügen

  • Ausgebranntsein [Burnout] Z73

  • Einschränkung von Aktivitäten durch Behinderung, körperliche oder psychische Belastung o.n.A.

  • Mangel an Entspannung oder Freizeit

  • sozialer Rollenkonflikt, anderenorts nicht klassifiziert

  • Stress, anderenorts nicht klassifiziert

  • unzulängliche soziale Fähigkeiten, anderenorts nicht klassifiziert

  • Zustand der totalen Erschöpfung

In ihrem Positionspapier von 2012 verweist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) darauf, dass es bisher noch keine verifizierten diagnostischen Messinstrumente für das Burnout-Syndrom gibt, die den Anspruch der diagnostischen Gültigkeit erfüllen [5]. Demnach liegt es gegenwärtig im ärztlichen Ermessen, Burnout festzustellen und eine geeignete Therapie zusammenzustellen und durchzuführen [5]. Dies ist der Grund, warum das Burnout-Syndrom derzeit nicht oder nur zusammen mit anerkannten ICD-Diagnosen wie der Erschöpfungsdepression auf einer ergotherapeutischen Verordnung steht.


#

Ausgangslage: fehlende Krankheitseinsicht

Viele Klienten wurden in der Akutphase von Angehörigen, Freunden oder Arbeitskollegen in die Notaufnahme gebracht, meist in Folge eines Zusammenbruchs. Einigen fehlt auch noch zu Beginn der ambulanten Ergotherapie die Krankheitseinsicht. Sie erscheinen lediglich, weil sie sonst Sanktionen seitens des Umfeldes fürchten, dass beispielsweise der Arbeitgeber das Projekt weitergibt oder die Tochter den Kontakt abbricht. Die fehlende Krankheitseinsicht liegt oft daran, dass die Betroffenen über einen langen Zeitraum ihre Bedürfnisse permanent negieren. Sie haben verlernt, ihre Körpersignale wahrzunehmen. Sie merken nicht, wie es ihnen wirklich geht.


#

Motivation für die Ergotherapie

Als ich Christian Löffler kennenlerne, ist er unruhig und gereizt. Sein Tonus ist dauerhaft erhöht. Er hat dunkle Augenringe, bedingt durch seine Schlafprobleme. Der 33-Jährige ist seit drei Jahren selbstständig und hat immer volle Auftragsbücher. Als Landschaftsgärtner ist der Klient auf Themengärten spezialisiert. Finanziell gibt es Probleme, da er den administrativen Bereich meidet. Ihm ist alles andere wichtiger, als Rechnungen zu schreiben. Er hat keine betriebswirtschaftliche Ausbildung. Zwei Angestellten hat er wieder gekündigt, da sie ihm nicht akkurat genug gearbeitet haben. Er macht lieber alles allein.

Bisweilen gibt es noch keine objektiven Krankheitsmarker des Burnout-Syndroms.

Familie Löffler ist in der Endphase des Hausbaus. Das Ehepaar hat zwei Kinder von zwei und vier Jahren. Der Klient erzählt, dass sein großer Sohn ihm am Sonntag voller Freude entgegengerannt kam und ihn stürmisch umarmte. Er selbst bemerkte dabei, dass er keine emotionale Reaktion auf diese liebevolle Umarmung verspürte. Das macht ihm Angst, weil er weiß, dass es anders sein sollte und es auch einmal anders war.

Zwei Dinge motivieren Herrn Löffler, die Ergotherapie in Anspruch zu nehmen: Er möchte seine Ehe retten und er möchte seine Kinder spüren. Momentan nimmt der Klient sie wie unter einer Käseglocke wahr. Seiner Frau zuliebe begleitet er sie neuerdings zu einem Paartherapeuten. Für sich selbst zu einem Psychologen oder Psychiater zu gehen, lehnt er ab.


#

Besonderheit: Leistungsanspruch herunterschrauben

Bevor wir Ergotherapeuten mit dieser Klientel arbeiten, müssen wir uns darüber bewusst sein, dass das Erreichen des vorhergehenden Arbeits- beziehungsweise Leistungspensums von über 100 Prozent nicht das Ziel des Klienten sein darf. Das erarbeite ich gerne an einem Flipchart. Zum besseren Verständnis stellen wir die Zeit- und Leistungsachse in einer Grafik dar. Dann erfrage ich, wie viel Prozent an Leistung der Klient vorher erbracht hat, zum Beispiel zwischen 130–140 Prozent. Das trage ich auf der Leistungsachse ein. Dann kam der Zusammenbruch des Klienten ([ABB. 1]). Wir notieren den Klinikaufenthalt und den Punkt auf der Zeitachse, der das „Jetzt“ präsentiert. Anschließend schauen wir, bei wie viel Prozent Leistung der Klient bei den jeweiligen Zeitpunkten liegt ([ABB. 2]). Ich unterstütze ihn zu verstehen, dass das anvisierte Ziel maximal bis 100 Prozent gehen sollte. Den Bereich darüber kennzeichne ich als Gefahrenbereich ([ABB. 3]). Gelangt der Klient wieder hierher, besteht die Gefahr eines zweiten Burnouts.

Zoom Image
ABB. 1 Ergotherapeutin und Klient stellen die Leistungs- und Zeitachse an einem Flipchart dar und notieren das vorige Leistungspensum von 130–140 %. Dann vermerken sie den Zusammenbruch des Klienten.Abb.: R. Roth; Neyro/fotolia.com
Zoom Image
ABB. 2 Als Nächstes folgen der Zeitpunkt des Klinikaufenthalts des Klienten sowie das „Jetzt“.Abb.: R. Roth; Neyro/fotolia.com
Zoom Image
ABB. 3 Gemeinsam erarbeiten Therapeutin und Klient den „Gefahrenbereich“: Das Leistungspensum überschreitet 100 % und lässt den Klienten ausbrennen. Ziel ist es, 100 % Leistung nicht zu überschreiten.Abb.: R. Roth; Neyro/fotolia.com

#

Handlungsebenen in der ergotherapeutischen Behandlung

Ergotherapeutische Ziele und damit der Fokus der Therapie finden meist in zwei Bereichen statt – der Partizipations-Aktivitätsebene (z. B. Selbstversorgung und Freizeit wiederaufbauen) und der Funktionsebene (z. B. Emotionen spüren sowie Erholungsstrategien erarbeiten). Je nach Schwerpunkt kann man verschiedene Verlaufsmessinstrumente einsetzen: das COPM [6], das Energiediagramm nach Braun [7], die Interessen- und die Rollencheckliste [8].

In der Befunderhebungsphase sind die Klienten beispielsweise sehr erstaunt, dass sie von den 24 Interessen, die sie gern machen, momentan nur drei ausüben (Interessencheckliste). Oder sie stellen fest, dass sie gern wieder mit der Wandergruppe unterwegs sein wollen, sich jedoch schämen, den Kontakt wiederherzustellen, weil sie sich seit fünf Jahren nicht gemeldet haben (COPM). Es kann auch passieren, dass Klienten wahrnehmen, wie viel wunderbare Energie sie von ihren Kindern bekommen, jedoch nur wenig zurückgeben (Energiediagramm).


#

Behandlungsansätze für Klienten mit Burnout

In einer der ersten Therapieeinheiten erarbeite ich mit den Klienten eine Antwort auf die Frage: „Wie viel ist ein gesundes Arbeitspensum?“ Danach gibt es verschiedene mögliche Maßnahmen, um die Energiereserven wieder aufzufüllen: das Zusammenstellen eines Wohlfühlkoffers, Achtsamkeitstraining sowie Energie- und Ressourcenmanagement (z. B. Aktivitätsinseln) [9–13]. Auch der Fokus auf die Körperwahrnehmung spielt eine Rolle. Dafür bieten sich unter anderem Feldenkrais, Yoga, Pilates, Qi-Gong, Klettern und Spiraldynamik an. Ergotherapeuten können auch mit Affirmationen arbeiten. Das sind selbstbejahende Sätze, die wir uns wieder und wieder sagen, um unsere Gedanken umzuprogrammieren [14].

Es ist ein gutes Zeichen, wenn der Klient bei einer Aktivität das ZeitgefÜhl verliert.


#

Das Energiemanagement

Als ein Beispiel für einen Ansatz möchte ich das Energiemanagement beschreiben. Dabei ermitteln Ergotherapeuten in einem ersten Schritt die individuelle Energiekurve ihrer Klienten. Herr Löffler ist morgens am leistungsfähigsten und nach dem Mittagessen sehr müde. Somit könnte er sich angewöhnen, wichtige Aktivitäten auf den Vormittag zu legen [15].

Das Zeit- und das Ressourcenmanagement ergänzen die erarbeitete Energiekurve. Unter Zeitmanagement versteht man mehrere Vorgehensweisen, die dabei helfen sollen, anstehende Aufgaben und Termine innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraums abzuarbeiten. Ressourcenmanagement als Teil des Projektmanagements dient dazu, alle Projektbeteiligten (Ressourcen) möglichst effizient einzusetzen. Auf Klienten angepasst heißt dies, dass man Familienangehörige und Freunde entsprechend ihrer Möglichkeiten einsetzt und die Umwelt an die Klienten und Ressourcen (Finanzen, Invalidenversicherung, Selbsthilfegruppen, Hilfsmittel, Umbauten etc.) anpasst [11, 12].


#

Wochenpläne reflektieren

In der Ergotherapie erarbeiten die Klienten zunächst ihre bisherigen Wochenpläne, reflektieren diese und beginnen sie zu verändern. Ergotherapeuten unterstützen sie dabei zum Beispiel im Prioritätensetzen: Was ist mir wichtiger? Das Chorsingen oder Jagdhornspielen im Orchester? Gebe ich das Putzen der Wohnung an eine Reinigungsfachfrau ab und habe damit mehr Zeit für meine kleine Tochter?

Außerdem erfolgt eine Umfeldanalyse. So kann man Betätigungen im Ablauf optimieren. Hier erkläre ich den Klienten, was Aktivitätsinseln sind: Eine Aktivitätsinsel einzurichten bedeutet, Strategie und Technik an einem stationären Arbeitsplatz zu kombinieren (privat oder beruflich) [13]. Dann helfe ich ihnen, eine Aktivitätsinsel zu implementieren. Das ist ein fester Platz beziehungsweise Bereich, den wir strategisch so anpassen, dass er den Klienten nicht mehr überfordert.


#

Energiedefizite erkennen

Beim Erstellen des Energiediagramms nach Braun zeigt sich bei Herrn Löffler ein prozentuales Energiedefizit von -30 Prozent [7]. Plötzlich ist der Klient stark betroffen: Er erkennt, dass eine mögliche Trennung von seiner Frau und seinen Kindern ein Energiedefizit von -130 Prozent ergeben würde. Energiequellen hat er nur mit der Familie und dem Beruf verbunden. Der Betätigungsbereich Freizeit/Erholung ist nicht vertreten. Das, was Herr Löffler beruflich zu viel investiert, vernachlässigt er auf der persönlichen und privaten Seite. Bei der Interessencheckliste zeigt sich, dass er von 32 Interessen, denen er gerne nachgeht, momentan nur sieben umsetzt.

In der Formulierung seiner Ziele ist eine weitere Problematik versteckt: Herr Löffler sieht sich nicht als eine gleichberechtigte Variable in seinem System. Daraus leiten wir die ergotherapeutische Problemidentifikation ab: Alle Ziele dienen lediglich dazu, die Situation für andere zu verbessern. Er selbst hat keine Freizeitaktivitäten, bei denen er auftanken kann ([TAB. 2, S. 22]).

TAB. 2 Herr Löfflers erste Ziele im COPM

Erste Ziele

Wichtigkeit

Durchführung

Zufriedenheit

Partner für seine Ehefrau sein

10

3

1

Die Familie mit seiner Selbständigkeit ausreichend finanzieren

10

2

1

Regelmäßig Zeit mit seinen Kindern verbringen

10

1

1


#

Erste ergotherapeutische Schritte

Wir informieren den zuständigen Arzt und Paartherapeuten über das erste ergotherapeutische Ziel: Herr Löffler nimmt sich als Ressource im System wahr und ist sich bewusst, dass seine Akkus aufgefüllt werden müssen – ein interdisziplinäres Ziel, an dem Paartherapeut und Hausarzt mitarbeiten können. Währenddessen arbeiten wir in der Ergotherapie weiter mit dem Energiediagramm, der Balance der Betätigungsbereiche, der Körperwahrnehmung sowie der Interessen- und der Rollencheckliste [11, 12]. Mit Herrn Löffler führe ich eine Entspannungsübung durch. Ziel ist es, dass der Klient über eine Übungsabfolge verfügt, die ihn zur Ruhe bringt und entspannt.

Durch ein Rückführen zur eigenen Körperwahrnehmung erreiche ich, dass Herr Löffler sich selbst bewusst und regelmäßig spürt. Der 33-jährige Klient steht den gängigen Entspannungstechniken wie autogenem Training, Yoga und Pilates kritisch gegenüber. Das sei nichts für ihn. Daher wählen wir eine klar sportlich orientierte Übung mit einem Ball aus der Spiraldynamik, die sehr schnell ein Ergebnis zeigt. Herr Löffler führt diese Übung am Abend vor dem Schlafengehen durch und hat das Gefühl, er könne etwas besser und länger schlafen. Mithilfe der Rollencheckliste kann Herr Löffler ichbezogene Ziele setzen ([TAB. 3]).

TAB. 3 Herr Löfflers überarbeitete Ziele und Zielüberprüfung im COPM am Ende der ergotherapeutischen Behandlung

Überarbeitete Ziele

Wichtigkeit

Durchführung zu Beginn der Therapie

Durchführung am Ende der Therapie

Zufriedenheit zu Beginn der Therapie

Zufriedenheit am Ende der Therapie

Ich lebe meine Rolle als Partner gleichberechtigt mit allen Rechten und Pflichten

10

3

8

1

8

Ich lebe die Rolle des Vaters mit allen Rechten und Pflichten

10

3

7

1

8

Ich lebe die Rolle des Ernährers der Familie mit allen Rechten und Pflichten

10

1

7

1

9

Ich finde für mich 3 Orte und/oder Aktivitäten, bei denen ich auftanken kann

10

1

8

1

8

Der Schritt, den Herr Löffler hier getan hat, war sehr groß für ihn. Für die ersten drei Ziele hat er in der Therapie messbare Teilschritte erarbeitet, damit er weiß, wann die Ziele erreicht sind. Messbare Teilziele für „Ich lebe die Rolle des Vaters mit allen Rechten und Pflichten“ sind beispielsweise:

  • Ich genieße den regelmäßigen Papa-Nachmittag mit meinen Kindern.

  • Ich genieße das Zu-Bett-geh-Ritual mit meinen Kindern.

  • Ich lasse bewusst die vertrauensvolle Nähe zu meinen Kindern zu und merke, dass es mir Energie gibt.


#

Sich wieder spüren lernen

Herr Löffler ist im Zuge der Erkrankung emotional abgeflacht. Er fühlt sich wie unter einer Käseglocke. Ein Teilziel ist es, dass er bewusst die vertrauensvolle Nähe zu den Kindern zulässt und merkt, dass sie ihm Energie geben.

Es gibt verschiedene Ansätze, um sich zu spüren und in die Emotion zu gehen. Während eines Hausbesuches in der alten Wohnung von Familie Löffler ist mir ein leicht verstaubtes, großes CD-Regal aufgefallen. Das sei seine CD-Sammlung, erklärt mir Herr Löffler. Er habe früher sehr viel Musik gehört, ohne dabei etwas anderes zu tun. Dafür habe er jedoch seit Jahren keine Zeit mehr gehabt.

Der Klient selbst hat keine Idee, wie er aus der Käseglocke herauskommt. Daher schlage ich vor, dass wir gemeinsam Musik hören. In diesem Fall Annett Louisan: „Die Katze“. Das Gefühl, das sich in diesem Liedtext widerspiegelt, kann man als gesunden Egoismus und Selbstachtung interpretieren. Wir hören das Lied mehrfach und diskutieren darüber. Da uns niemand sieht, bewegen wir uns zu dem Lied, der Intellekt wird kurzzeitig vor die Tür gestellt, um der Bewegung und der Musik Raum zu geben.

Herr Löffler fühlt sich wohl. Ich gebe ihm die Aufgabe, zu jeder Therapieeinheit ein Lied herauszusuchen, das ein positives Gefühl bei ihm hervorruft. So nimmt sich der 33-Jährige, ausgelöst durch die Hausaufgabe, Zeit, um in seinem CD-Regal zu stöbern (Alltagstransfer). Teilweise verliert er dabei das Zeitgefühl – ein gutes Zeichen dafür, dass er sich in einer Erholungsphase befindet.


#

Mit einem Kalender arbeiten

Ein weiteres Ziel ist es, dass Herr Löffler die Rolle des Ernährers der Familie mit allen Rechten und Pflichten ausfüllt. Dazu gehört auch, Projekte in Zeit, Arbeitsaufwand und Kosten realistisch zu planen. Helfen soll dabei das Arbeiten mit seinem Kalender.

Im Gespräch reflektiert der Klient seine Pausenzeiten, seine Familienzeit, Arbeitszeit und Freizeit sowie seine privaten Verpflichtungen (er ist Vorstandsvorsitzender im Gärtnerverein). Das Ehepaar hat sich in der Paartherapie auf einen Partnerabend geeinigt sowie darauf, dass Herr Löffler einen Kindernachmittag hat: Er übernimmt die Aufsicht seiner Kinder und unternimmt mit ihnen etwas.


#

Die Administration organisieren

Ein Blick ins Büro zeigt viele Papierstapel. Ordner liegen geöffnet dazwischen. Die Schreibtischplatte ist nicht zu sehen. Herr Löffler folgt mit seinen bisher gestellten Rechnungen keinem Ablagesystem. Einzig das Bücherregal mit vielen Gartenbüchern ist ordentlich nach Themen sortiert.

Zunächst unterstütze ich den Klienten dabei, einen kleinen Platz Ordnung zu haben und nach und nach die Ordnung auf das Büro auszuweiten. Herr Löffler weiß, was Aktivitätsinseln sind: Er kennt selbst einige aus seiner gärtnerischen Tätigkeit und transferiert sein Wissen nun in das Büro. Wichtig ist, dass er die aktuellen Sachen wie Post und Materialrechnungen öffnet und in einem System ablegt. So kann der Berg an liegengebliebener Arbeit nicht noch weiter wachsen. Herr Löffler plant jede Woche 90 Minuten für das Rechnungenschreiben fix in seinen Terminplaner ein und schreibt innerhalb von sieben Tagen nach dem erledigten Auftrag die Rechnung. Somit kommt regelmäßig Geld auf das Geschäftskonto.

Herr Löffler hat eine sehr gute Auftragslage (eher zu viel). Wir diskutieren die Möglichkeit, jemanden für den administrativen Teil als Unterstützung dazuzuholen. Diese könnte einen Teil der Büroarbeit übernehmen. Herr Löffler hat Glück: Im gleichen Dorf findet sich eine Frau mit kaufmännischer Ausbildung, die fortan für drei halbe Tage in der Woche die Bürotätigkeiten macht.


#

Konsequenzen aus dem Energiediagramm

Das beim Befund erstellte Energiediagramm hatte Herrn Löffler überrascht und betroffen gemacht. Daraufhin konnte er mit der Unterstützung seiner Ehefrau, dem Paartherapeuten und dem Hausarzt einiges verändern.

So war absehbar, dass er vom Hausbauer zum Hausbewohner wechseln wird, da der Hausbau abgeschlossen ist. Die Gartengestaltung des Hauses wird Herr Löffler erst nächstes Jahr angehen – als gemeinsames Projekt mit seiner Frau. Die Vorstandstätigkeit bei dem Gärtnerverein hat der Klient nach zehn aktiven Jahren aufgegeben. Er hört regelmäßig in der neuen Musikecke seine Lieblingsstücke und trifft sich einmal die Woche mit drei alten Freunden zum Sport. In der Analyse der Gärtnertätigkeiten hat Herr Löffler mit seiner Sachbearbeiterin herausgefunden, dass sich Privatgärten für ihn mehr rentieren. Also wird er die Großgartenprojekte reduzieren.

Das Erreichen des vorhergehenden Leistungspensums von Über 100 % darf nicht Ziel des Klienten sein.


#

Ergebnis nach neun Monaten

Beim erneuten Durchführen des Energiediagramms zeigt sich nun, dass Herr Löffler ein Plus von gefühlten 110 Prozent hat. Gleichzeitig sieht er deutlich, was sich alles innerhalb der letzten neun Monate verändert hat: Der Klient greift inzwischen auf Energiequellen im Freizeitbereich zurück. In der Interessencheckliste ist sichtbar, dass er von 32 Interessen, denen er gern nachgeht, momentan nun 15 Aktivitäten umsetzt. Neu sind unter anderem Fußball, Schwimmen, Radfahren oder Wohnunggestalten.

Herr Löffler reflektiert, dass er den Unterschied zwischen einem ruhigen und einem angespannten Zustand bemerkt. Sobald der Klient wahrnimmt, dass er angespannt ist, ergreift er Maßnahmen, die sich als positiv für ihn herausgestellt haben (z. B. mit Freunden zum Sport verabreden). Sein Energielevel ist noch nicht auf dem gleichen Niveau wie zu Beginn seiner Selbstständigkeit. Herr Löffler achtet darauf, dass er die Akkus langsam wieder auffüllt. Er sagt: „Wenn ich nicht selbst auf mich achte, holt sich mein Körper, worauf er lange verzichtet hat, ohne dass ich es beeinflussen kann.“

Was seine Kinder betrifft, hat Herr Löffler festgestellt, dass wenn er das „Arbeitshirn“ vor der Haustür lässt, er mehr Lust und Nerven hat, um mit ihnen zu spielen und um abschalten zu können. Herr Löffler ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Das spiegelt sich auch in der Zielüberprüfung im COPM wider ([TAB. 3]).


#

Professionell sehr gut gewappnet

Im normalen Arbeitsalltag begegnen Ergotherapeuten selten reinen Burnout-Betroffenen, da im Bereich der Burnout-Therapie auch andere Behandler unterwegs sind. Mit dem Fokus auf die Handlungsfähigkeit sind wir Ergotherapeuten jedoch professionell sehr gut gewappnet, diese Klientel zu unterstützen. Wahrscheinlicher ist es, dass wir mit Menschen in Berührung kommen, die bedingt durch eine andere Erkrankung (z. B. Multiple Sklerose) nicht mehr genauso leistungsfähig sind wie zu den Zeiten, als sie gesund waren [5]. Manche nehmen diese Veränderung nicht wahr, andere können sie nicht akzeptieren.

In meiner ergotherapeutischen Arbeit habe ich zudem einige Klienten mit rheumatischen Erkrankungen und eine Klientin mit Magersucht erlebt, die, verursacht durch ihre Erkrankung, unter einem Burnout-Syndrom litten. Bei dieser Klientel zeigt sich wieder einmal, dass sich zwei Fachbereiche (z. B. Neurologie und Psychiatrie) überlagern. So sind wir auf beiden Gebieten unterwegs, damit wir die Klienten professionell therapieren und begleiten können. Dies garantiert, dass uns unsere Arbeit immer wieder herausfordert und spannend bleibt.

Regina Roth


#
#

*Name von der Redaktion geändert




Zoom Image
Zoom Image
ABB. 1 Ergotherapeutin und Klient stellen die Leistungs- und Zeitachse an einem Flipchart dar und notieren das vorige Leistungspensum von 130–140 %. Dann vermerken sie den Zusammenbruch des Klienten.Abb.: R. Roth; Neyro/fotolia.com
Zoom Image
ABB. 2 Als Nächstes folgen der Zeitpunkt des Klinikaufenthalts des Klienten sowie das „Jetzt“.Abb.: R. Roth; Neyro/fotolia.com
Zoom Image
ABB. 3 Gemeinsam erarbeiten Therapeutin und Klient den „Gefahrenbereich“: Das Leistungspensum überschreitet 100 % und lässt den Klienten ausbrennen. Ziel ist es, 100 % Leistung nicht zu überschreiten.Abb.: R. Roth; Neyro/fotolia.com