Populisten zählen scheinbar zu den Gewinnern unserer Zeit. Das zeigen der Brexit in
Großbritannien und zuletzt der Wahlkampf in den USA, aus dem Donald Trump als neuer
Präsident hervorging. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass die neuen Macher
des BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreports 2016 und der Vorstandschef der Kasse auf
diesen Zug aufspringen wollen. Sie präsentierten Ende Oktober den Report für 2016.
Im Vorwort betont die Kasse, dass er ein Beitrag zu mehr Transparenz sein soll.
Es werden scheinbar die Jahre herangezogen, die fÜr die Argumentation gÜnstig erscheinen.
Doch im Vergleich zum Heil- und Hilfsmittelreport 2015 sind diesmal deutlich weniger
Zahlen enthalten, einige Aussagen widersprüchlich und manche Schlussfolgerungen anhand
der vorgelegten Zahlen nicht nachvollziehbar. Pressemitteilung und Vorwort suggerieren,
es gebe durch den Report stichhaltige Argumente gegen das geplante Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz
(HHVG, ERGOPRAXIS 9/2016, S. 8).
Schwarzer Peter für die Therapeuten
Schwarzer Peter für die Therapeuten
Die BARMER GEK beklagt im ersten Satz ihrer Pressemitteilung einen massiven Ausgabenanstieg
für Heilmittel, binnen zwei Jahren um 15 Prozent auf 822 Millionen Euro. Diese Aussage
schaffte es beispielsweise in die Online-Portale von Welt.de, N-TV und Hamburger Abendblatt
und war ebenfalls in der Ärztezeitung zu lesen.
Dem Wunsch nach Transparenz kommt die BARMER GEK nicht wirklich nach, obwohl sie im
Vorwort betont, dass eine klare Analyse schon deswegen erforderlich ist, da die demografische
Entwicklung in Deutschland nicht der alleinige Hauptgrund für die gestiegenen Ausgaben
sei. „Auch andere Faktoren spielen eine Rolle, wie eine höhere Anzahl an Leistungsempfängern,
mehr Verordnungen oder verordnete Mengen. Auffällig ist beispielsweise, dass vor allem
in den Regionen zunehmend häufiger Heilmittel verordnet werden, wo es immer mehr Leistungserbringer
gibt.“
Wer auf die Angaben und Aussagen der Pressemitteilung vertraut und sich nicht die
Mühe macht, den Report genau anzuschauen, entgeht auf Seite 32 der Hinweis: „Ob hier
ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Steigerung verordneter Mengen und gleichzeitig
Steigerung der Anzahl der Anbieter besteht, soll an dieser Stelle jedoch nur mit Zurückhaltung
geäußert werden. Der Zusammenhang ist auffällig, jedoch nicht hinreichend dafür, eine
Ursache-Wirkung-Beziehung zu unterstellen.“
Gefällige Zahlenauswahl
Im Report steht auch: „Die Anzahl der Versicherten bei der BARMER GEK ist jedoch über
den beobachteten Zeitraum leicht zurückgegangen.“ Diese Aussage ist korrekt. Doch
um eine Aussage treffen zu können, ob die Menschen mit Heilmitteln „überhäuft“ werden,
ist nicht die Zahl der Versicherten an sich relevant, sondern die Zahl der Versicherten,
die Heilmittelleistungen erhielten. Und diese ist im beobachteten Zeitraum von 2013
bis 2015 um drei Prozent gestiegen. Bezieht man sich allerdings nur auf die Veränderung
von 2014 auf 2015, erhalten 0,5 Prozent weniger Versicherte Heilmittelleistungen.
Es ist also ein Unterschied, welche Jahre man vergleicht. Bei den Ausgaben nämlich
betrachteten die Autoren die Veränderung von 2013 auf 2015, die demnach um 15 Prozent
gestiegen sind. Hätten sie nur die Jahre 2014 und 2015 verglichen, hätte die Steigerung
6,1 Prozent betragen. Es werden scheinbar jene Jahre herangezogen, die für die eigene
Argumentation günstig erscheinen.
Spekulationen
In welchem Umfang ältere Menschen mehr Heilmittel brauchen und wie sich die Zahl der
älteren Versicherten über die drei Jahre verändert hat, hat der BARMER GEK Heil- und
Hilfsmittelreport 2016 nicht analysiert. Der Report von 2015 gab immerhin Informationen
zum Anteil der Versicherten und Ausgaben an Heilmitteln aufgeschlüsselt nach dem Alter.
Interessant wäre zudem, wie sich die über die Jahre rückläufige Dauer der Krankenhausaufenthalte
auf den ambulanten Bedarf an Heilmitteln auswirkt und ob die Ärzte möglicherweise
durch drohende Regresse in ihrem Verordnungsverhalten beeinflusst sind. Stattdessen
wird spekuliert. Basis dafür sind die bundesweiten Verordnungsunterschiede. In Bremen
beispielsweise betrugen die Kosten für alle Heilmittel im Jahr 2015 im Schnitt pro
BARMER-GEK-Versichertem 65,86 Euro, in Berlin 121,85 Euro. Professor Daniel Grandt,
Autor des Reports, merkt zu diesen Zahlen an: „Es wäre zu begrüßen, wenn die kassenärztlichen
Vereinigungen sich darüber austauschen, wodurch der regional so unterschiedliche Einsatz
von Heilmitteln zustande kommt und wie eine medizinisch sinnvolle und wirtschaftliche
Verordnung bundesweit erreicht werden könnte. In Bremen gelingt das offensichtlich
besonders gut.“ Rätselhaft bleibt, wie der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie
auf die Schlussfolgerung kommt, dass die Ärzte in Bremen medizinisch sinnvoller verordnen
als die in Berlin. Bedeutet günstig automatisch richtig?
Die Autoren haben sich offenbar nicht die MÜhe gemacht, nach Fakten zu recherchieren.
Blankoverordnung als Kostentreiber
Blankoverordnung als Kostentreiber
Dass eine Kasse wirtschaftlich handeln muss, steht außer Frage. Agiert eine Kasse
nur nach diesem Aspekt bzw. erzeugt neuen Versorgungsformen gegenüber kräftigen Gegenwind,
überrascht das nicht wirklich. Sie könnte jedoch Größe zeigen wie die Krankenkassen
BIG direkt gesund oder IKK Brandenburg und Berlin. Sie haben mit den Physiotherapieverbänden
IFK und VPT Modellvorhaben auf den Weg gebracht, in denen Physiotherapeuten selbst
entscheiden können, mit welchem Heilmittel sie die Patienten in welchem Umfang behandeln
können (PHYSIOPRAXIS 4/15, S. 8 UND 3/13, S. 14). Die Ergebnisse wiedersprechen den
Befürchtungen von BARMER GEK Vorstandschef Dr. Christoph Straub. Er argumentiert in
der Pressemitteilung gegen das geplante HHVG, das vorsieht, für alle Therapieberufe
die Auswirkungen von sogenannten Blankoverordnungen in Modellregionen zu testen: „Wenn
der Therapeut die Leistung und damit die Höhe seines Lohns selbst festlegen kann,
dann bedarf es keiner Glaskugel, um eine weitere Ausgabenentwicklung in diesem Bereich
vorherzusagen. Über die Blanko-Rezepte werden die Patienten aber nicht automatisch
qualitativ besser versorgt. Das gilt zumindest, solange es offensichtlich sehr unterschiedliche
regionale Kriterien zum Heilmitteleinsatz gibt.“ Er und die Autoren des Reports 2016
haben sich offenbar nicht die Mühe gemacht, nach Fakten zu recherchieren. Denn ein
Zwischenergebnis des Modellvorhabens von IFK und BIG direkt gesund ist, dass die Patienten
der Modellgruppe eine höhere Schmerzreduktion und eine bessere Funktionssteigerung
aufweisen (PHYSIOPRAXIS 3/13, S. 14).
HHVG ein Dorn im Auge?
Das geplante HHVG sorgt für einen weiteren Dorn im Auge des Vorstandschefs. Es sieht
vor, die Vergütungssteigerungen für Heilmittel für drei Jahre von der Entwicklung
der Grundlohnsumme zu entkoppeln. „Allein an dieser Stelle drohen laut BARMER GEK
in der Gesetzlichen Krankenversicherung jährliche Zusatzkosten im mittleren dreistelligen
Millionenbereich“, heißt es in der Pressemitteilung. Und man muss schon genau hinschauen,
dass dieser mittlere dreistellige Millionenbereich sich nicht auf die BARMER GEK bezieht,
die im Jahr 2015 insgesamt 822 Millionen für Heilmittel ausgab – wie sie mehrfach
betont –, sondern auf alle gesetzlichen Kassen. Die Relation ist also eine andere.
Die gesetzlichen Kassen haben 2015 laut GKV-HIS Bundesbericht insgesamt 5,6 Milliarden
Euro für Heilmittel ausgegeben.
Auch wenn es zu einem Ausgabenanstieg der Heilmittel kam, scheint das die BARMER GEK
nicht an den Rand des Ruins zu bringen, glaubt man der Pressemitteilung vom 10. November
2016. Anlass ist der Zusammenschluss von BARMER GEK und Deutscher BKK zum 1. Januar
2017: „Die derzeit positive Finanzentwicklung sowohl bei der BARMER GEK als auch bei
der Deutschen BKK ermöglicht uns auch im Jahr 2017 als vereinigte BARMER, unseren
9,4 Millionen Versicherten ein attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis anzubieten.“
Der Beitragssatz soll stabil bleiben und bei 15,7 Prozent liegen.
Elke Oldenburg