ergopraxis 2017; 10(01): 10-11
DOI: 10.1055/s-0042-118134
Gesprächsstoff
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2016 – Unglaublich

Elke Oldenburg

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Publication Date:
07 January 2017 (online)

 

Bislang galt der BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport als seriöse Quelle. Jahr für Jahr analysierte er, wie viel Logopädie, Ergo- und Physiotherapie die Versicherten erhielten, und lieferte somit häufig wichtige Erkenntnisse zu Unter-, Über- oder Fehlversorgungen. Dieses Jahr hagelte es heftige Kritik. Bei up-aktuell.de etwa ist von pseudowissenschaftlicher Propaganda die Rede.


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Populisten zählen scheinbar zu den Gewinnern unserer Zeit. Das zeigen der Brexit in Großbritannien und zuletzt der Wahlkampf in den USA, aus dem Donald Trump als neuer Präsident hervorging. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass die neuen Macher des BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreports 2016 und der Vorstandschef der Kasse auf diesen Zug aufspringen wollen. Sie präsentierten Ende Oktober den Report für 2016. Im Vorwort betont die Kasse, dass er ein Beitrag zu mehr Transparenz sein soll.

Es werden scheinbar die Jahre herangezogen, die fÜr die Argumentation gÜnstig erscheinen.

Doch im Vergleich zum Heil- und Hilfsmittelreport 2015 sind diesmal deutlich weniger Zahlen enthalten, einige Aussagen widersprüchlich und manche Schlussfolgerungen anhand der vorgelegten Zahlen nicht nachvollziehbar. Pressemitteilung und Vorwort suggerieren, es gebe durch den Report stichhaltige Argumente gegen das geplante Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG, ERGOPRAXIS 9/2016, S. 8).

Schwarzer Peter für die Therapeuten

Die BARMER GEK beklagt im ersten Satz ihrer Pressemitteilung einen massiven Ausgabenanstieg für Heilmittel, binnen zwei Jahren um 15 Prozent auf 822 Millionen Euro. Diese Aussage schaffte es beispielsweise in die Online-Portale von Welt.de, N-TV und Hamburger Abendblatt und war ebenfalls in der Ärztezeitung zu lesen.

Dem Wunsch nach Transparenz kommt die BARMER GEK nicht wirklich nach, obwohl sie im Vorwort betont, dass eine klare Analyse schon deswegen erforderlich ist, da die demografische Entwicklung in Deutschland nicht der alleinige Hauptgrund für die gestiegenen Ausgaben sei. „Auch andere Faktoren spielen eine Rolle, wie eine höhere Anzahl an Leistungsempfängern, mehr Verordnungen oder verordnete Mengen. Auffällig ist beispielsweise, dass vor allem in den Regionen zunehmend häufiger Heilmittel verordnet werden, wo es immer mehr Leistungserbringer gibt.“

Wer auf die Angaben und Aussagen der Pressemitteilung vertraut und sich nicht die Mühe macht, den Report genau anzuschauen, entgeht auf Seite 32 der Hinweis: „Ob hier ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Steigerung verordneter Mengen und gleichzeitig Steigerung der Anzahl der Anbieter besteht, soll an dieser Stelle jedoch nur mit Zurückhaltung geäußert werden. Der Zusammenhang ist auffällig, jedoch nicht hinreichend dafür, eine Ursache-Wirkung-Beziehung zu unterstellen.“


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Gefällige Zahlenauswahl

Im Report steht auch: „Die Anzahl der Versicherten bei der BARMER GEK ist jedoch über den beobachteten Zeitraum leicht zurückgegangen.“ Diese Aussage ist korrekt. Doch um eine Aussage treffen zu können, ob die Menschen mit Heilmitteln „überhäuft“ werden, ist nicht die Zahl der Versicherten an sich relevant, sondern die Zahl der Versicherten, die Heilmittelleistungen erhielten. Und diese ist im beobachteten Zeitraum von 2013 bis 2015 um drei Prozent gestiegen. Bezieht man sich allerdings nur auf die Veränderung von 2014 auf 2015, erhalten 0,5 Prozent weniger Versicherte Heilmittelleistungen. Es ist also ein Unterschied, welche Jahre man vergleicht. Bei den Ausgaben nämlich betrachteten die Autoren die Veränderung von 2013 auf 2015, die demnach um 15 Prozent gestiegen sind. Hätten sie nur die Jahre 2014 und 2015 verglichen, hätte die Steigerung 6,1 Prozent betragen. Es werden scheinbar jene Jahre herangezogen, die für die eigene Argumentation günstig erscheinen.


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Spekulationen

In welchem Umfang ältere Menschen mehr Heilmittel brauchen und wie sich die Zahl der älteren Versicherten über die drei Jahre verändert hat, hat der BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2016 nicht analysiert. Der Report von 2015 gab immerhin Informationen zum Anteil der Versicherten und Ausgaben an Heilmitteln aufgeschlüsselt nach dem Alter.

Interessant wäre zudem, wie sich die über die Jahre rückläufige Dauer der Krankenhausaufenthalte auf den ambulanten Bedarf an Heilmitteln auswirkt und ob die Ärzte möglicherweise durch drohende Regresse in ihrem Verordnungsverhalten beeinflusst sind. Stattdessen wird spekuliert. Basis dafür sind die bundesweiten Verordnungsunterschiede. In Bremen beispielsweise betrugen die Kosten für alle Heilmittel im Jahr 2015 im Schnitt pro BARMER-GEK-Versichertem 65,86 Euro, in Berlin 121,85 Euro. Professor Daniel Grandt, Autor des Reports, merkt zu diesen Zahlen an: „Es wäre zu begrüßen, wenn die kassenärztlichen Vereinigungen sich darüber austauschen, wodurch der regional so unterschiedliche Einsatz von Heilmitteln zustande kommt und wie eine medizinisch sinnvolle und wirtschaftliche Verordnung bundesweit erreicht werden könnte. In Bremen gelingt das offensichtlich besonders gut.“ Rätselhaft bleibt, wie der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie auf die Schlussfolgerung kommt, dass die Ärzte in Bremen medizinisch sinnvoller verordnen als die in Berlin. Bedeutet günstig automatisch richtig?

Die Autoren haben sich offenbar nicht die MÜhe gemacht, nach Fakten zu recherchieren.


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Blankoverordnung als Kostentreiber

Dass eine Kasse wirtschaftlich handeln muss, steht außer Frage. Agiert eine Kasse nur nach diesem Aspekt bzw. erzeugt neuen Versorgungsformen gegenüber kräftigen Gegenwind, überrascht das nicht wirklich. Sie könnte jedoch Größe zeigen wie die Krankenkassen BIG direkt gesund oder IKK Brandenburg und Berlin. Sie haben mit den Physiotherapieverbänden IFK und VPT Modellvorhaben auf den Weg gebracht, in denen Physiotherapeuten selbst entscheiden können, mit welchem Heilmittel sie die Patienten in welchem Umfang behandeln können (PHYSIOPRAXIS 4/15, S. 8 UND 3/13, S. 14). Die Ergebnisse wiedersprechen den Befürchtungen von BARMER GEK Vorstandschef Dr. Christoph Straub. Er argumentiert in der Pressemitteilung gegen das geplante HHVG, das vorsieht, für alle Therapieberufe die Auswirkungen von sogenannten Blankoverordnungen in Modellregionen zu testen: „Wenn der Therapeut die Leistung und damit die Höhe seines Lohns selbst festlegen kann, dann bedarf es keiner Glaskugel, um eine weitere Ausgabenentwicklung in diesem Bereich vorherzusagen. Über die Blanko-Rezepte werden die Patienten aber nicht automatisch qualitativ besser versorgt. Das gilt zumindest, solange es offensichtlich sehr unterschiedliche regionale Kriterien zum Heilmitteleinsatz gibt.“ Er und die Autoren des Reports 2016 haben sich offenbar nicht die Mühe gemacht, nach Fakten zu recherchieren. Denn ein Zwischenergebnis des Modellvorhabens von IFK und BIG direkt gesund ist, dass die Patienten der Modellgruppe eine höhere Schmerzreduktion und eine bessere Funktionssteigerung aufweisen (PHYSIOPRAXIS 3/13, S. 14).


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HHVG ein Dorn im Auge?

Das geplante HHVG sorgt für einen weiteren Dorn im Auge des Vorstandschefs. Es sieht vor, die Vergütungssteigerungen für Heilmittel für drei Jahre von der Entwicklung der Grundlohnsumme zu entkoppeln. „Allein an dieser Stelle drohen laut BARMER GEK in der Gesetzlichen Krankenversicherung jährliche Zusatzkosten im mittleren dreistelligen Millionenbereich“, heißt es in der Pressemitteilung. Und man muss schon genau hinschauen, dass dieser mittlere dreistellige Millionenbereich sich nicht auf die BARMER GEK bezieht, die im Jahr 2015 insgesamt 822 Millionen für Heilmittel ausgab – wie sie mehrfach betont –, sondern auf alle gesetzlichen Kassen. Die Relation ist also eine andere. Die gesetzlichen Kassen haben 2015 laut GKV-HIS Bundesbericht insgesamt 5,6 Milliarden Euro für Heilmittel ausgegeben.

Auch wenn es zu einem Ausgabenanstieg der Heilmittel kam, scheint das die BARMER GEK nicht an den Rand des Ruins zu bringen, glaubt man der Pressemitteilung vom 10. November 2016. Anlass ist der Zusammenschluss von BARMER GEK und Deutscher BKK zum 1. Januar 2017: „Die derzeit positive Finanzentwicklung sowohl bei der BARMER GEK als auch bei der Deutschen BKK ermöglicht uns auch im Jahr 2017 als vereinigte BARMER, unseren 9,4 Millionen Versicherten ein attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis anzubieten.“ Der Beitragssatz soll stabil bleiben und bei 15,7 Prozent liegen.

Elke Oldenburg


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