Die beiden Ergotherapiestudentinnen Andrea Draxler und Magdalena Samwald hatten in
Wien sichtlich Spaß bei der Projektarbeit mit Flüchtlingen.Abb.: A. Draxler
Eines Sonntagabends waren wir mit fünf jungen muslimischen Frauen zum Schwimmen verabredet.
Sie waren zwischen 16 und 20 Jahre alt und aus ihren Heimatländern Syrien, Somalia
und Afghanistan geflohen. Inzwischen lebten sie in Österreich – manche seit einem
halben Jahr, andere seit über fünf Jahren. Sie waren privat oder in Flüchtlingsunterkünften
in Wien untergebracht. Wir wählten einen Sonntagabend für unseren gemeinsamen Ausflug,
weil das Wiener Schwimmbad nur an einem Sonntag im Monat die Möglichkeit zum Frauenschwimmen
bietet. Während dieser Zeit ist kein Mann anwesend, auch die Bademeister sind dann
ausschließlich weiblich.
Beim Umziehen stellten wir erstaunt fest, dass es für die Mädchen nicht selbstverständlich
war, mit Badekleidung ins Wasser zu gehen. Zwei von ihnen dachten, dass T-Shirt sowie
Jogginghose ein passendes Badeoutfit wären. Kreischend und tobend ging es dann ab
ins überfüllte Becken. Da die meisten der jungen Frauen zum ersten Mal ein Schwimmbad
besuchten, klammerten sie sich zunächst sehr an uns. Mit der Zeit nahm aber ihre Angst
ab, und sie wollten auch nach einer Stunde noch nicht aus dem Wasser. Sie konnten
die gemeinsame Aktivität genießen und trauten sich im weiteren Verlauf des Abends,
das Schwimmbecken alleine zu erkunden. Der Ausflug war ein voller Erfolg, und die
Mädchen schwärmten noch die ganze restliche Woche davon.
„Projekt Schule für Alle“
„Projekt Schule für Alle“
Zur Arbeit mit Flüchtlingen kamen wir in unserem Wahlpraktikum, das wir im Rahmen
des Bachelorstudiums Ergotherapie an der Fachhochschule Wiener Neustadt im Januar
2016 absolvierten. Durch einen Fernsehbeitrag stießen wir auf das „Projekt Schule
für Alle“ (PROSA) in Wien und nahmen Kontakt mit der dortigen Schulleiterin auf. Weil
die Ergotherapie in der Arbeit mit Flüchtlingen noch nicht etabliert ist und in dieser
Einrichtung noch keine Ergotherapeutin tätig war, lief das Praktikum als „Role Emerging
Placement“, einer bewussten Erweiterung des Aufgabenspektrums von Ergotherapeuten.
PROSA bietet Asylbewerbern die Möglichkeit, ihren Pflichtschulabschluss nachzumachen.
Nachdem die Flüchtlinge den Aufnahmetest geschafft haben, können sie die PROSA-Schule
besuchen und diese innerhalb von drei Jahren abschließen. Der Schulabschluss ermöglicht
ihnen den Besuch einer weiterführenden Schule mit Hochschulreife oder den Beginn einer
Lehre. Die Flüchtlinge, welche diese Schule besuchen, müssen mindestens 16 Jahre alt
sein. Das Projekt finanziert sich durch Spendengelder und lebt durch die Unterstützung
vieler ehrenamtlicher Mitarbeiter. Für den Schulunterricht und für Beratungen nutzt
PROSA die Räumlichkeiten eines Wiener Gymnasiums. Weil am Vormittag dort der reguläre
Unterricht stattfindet, startet die PROSA-Schule erst am frühen Nachmittag und endet
um 19 Uhr.
Jugendliche empowern
Ausgangspunkt unserer ergotherapeutischen Interventionen war die PROSA-Pause, welche
am Nachmittag zwischen den Unterrichtseinheiten stattfindet. Als Pausen- und Aufenthaltsraum
dient ein ehemaliger kleiner Klassenraum. Vor unserer Intervention war die Pause sehr
unstrukturiert und chaotisch, und der Raum lud trotz des großen Tisches nicht zum
Verweilen ein. Daraus entstand die Idee, einen Raum der Begegnung zu schaffen, gemeinsame
Aktivitäten zu planen sowie einen informellen Rahmen für das Kennenlernen und den
Informationsaustausch zu finden. Deshalb begannen wir damit, Tee zu kochen, Teller
und Gebäck auf den Tisch zu stellen und die Jugendlichen zum Sitzen, Essen und Genießen
einzuladen. Im weiteren Verlauf stellten wir jedoch fest, dass wir aus der Pause mehr
machen und die Jugendlichen dafür empowern können, ihre Pause selbst zu gestalten.
Empowerment bedeutet hier für uns, Menschen zu befähigen, selbst aktiv zu werden und
Aktivitäten selbstbestimmt und ohne externer Unterstützung nachzugehen. Um das zu
erreichen, forderten wir die Jugendlichen in der Pause auf, sich einzubringen, mitzuhelfen
und selbst den Tisch und den Raum herzurichten. So wurde aus der Pause eine semistrukturierte
Intervention, die einen angenehmen Ort der Begegnung mit entspannter Atmosphäre schuf.
Der erste Schritt zur Freizeitgestaltung
Der erste Schritt zur Freizeitgestaltung
Um weitere Interventionen planen zu können, wollten wir wissen, welchen Betätigungen
die Jugendlichen neben der Schule nachgehen. Dafür boten die neu gestalteten Pausen
Raum und eine zwanglose Atmosphäre. Der Austausch fand auf Deutsch, Englisch sowie
mit Händen und Füßen statt. Zusätzlich übernahmen andere Flüchtlinge, welche schon
besser Deutsch sprachen, die Rolle eines Dolmetschers und übersetzten in ihre Muttersprache.
Entgegen unseren Erwartungen stellten wir fest, dass es nicht unbedingt die Aktivitäten
von früher waren, also aus der Zeit vor der Flucht, die sie gerne wiederaufnehmen
wollten. Im Gegenteil, die Jugendlichen waren sehr daran interessiert, die österreichische
Kultur und Aktivitäten wie traditionelle Tänze kennenzulernen, die auch von den Jugendlichen
in Österreich ausgeführt werden.
Wir haben die Jugendlichen dazu befähigt, selbst aktiv zu werden.
Die genannten Betätigungen wie Sport-machen oder Tanzen legten wir als klientenzentrierte
Gruppenziele fest und boten dazu passende Gruppen wie eine Männersportgruppe oder
eine Frauentanzgruppe an. Dabei stützten wir unser Vorgehen auf Anne Fisher, die im
Occupational Therapy Intervention Process Model (OTIPM) neben Individuen auch Klientengruppen
definierte, welche ähnliche Schwierigkeiten in der Betätigungsperformanz haben [1].
Daraufhin erarbeiteten wir gemeinsam mit den Jugendlichen einen Zeitplan für die vierwöchige
Dauer unseres Praktikums. Darin hielten wir grob fest, in welcher Woche welche Aktivität
stattfinden sollte. Die Betätigungen vereinbarten wir mit den Jugendlichen jeweils
eine Woche im Voraus und vermerkten sie anschließend im Wochenplan, der im Pausenraum
hing. Einen Tag vor der Betätigung forderten wir eine konkrete Zu- oder Absage. Durch
die Anmeldung wurde die Teilnahme verbindlicher. Hilfreich war dabei, den Jugendlichen
einen Info-Zettel mit den Eckdaten mitzugeben: Treffpunkt, Uhrzeit, Dauer. So konnten
sie sich die Termine leichter merken und den Überblick über ihren Tag behalten.
Die Studentinnen unternahmen mit den Flüchtlingen einen Ausflug ins Technische Museum.
Das war für die Jugendlichen durch den Kultur- pass ohne Kosten möglich.Abb.: A. Draxler
Die Therapeutinnen planten und veranstalteten auch eine Kochgruppe. Mit dabei: Zaker
aus Afghanistan. Er möchte in Österreich ein Restaurant eröffnen – sofern er nicht
abgeschoben wird.Abb.: A. Draxler
Was es zu beachten galt
Da die Flüchtlinge mit einem geringen Budget auskommen müssen, ist es wichtig, dass
die Aktivitäten gratis oder sehr günstig sind. Die eingangs beschriebene Schwimmgruppe
fand daher in einem Wiener Schwimmbad statt, in dem die Mädchen im Rahmen eines geförderten
Projekts nur einen kleinen Beitrag zahlen mussten. Besonders achteten wir bei der
Planung der Aktivitäten auch darauf, dass die Betätigungen in den Tagesablauf der
Jugendlichen integrierbar waren. Aus diesem Grund versuchten wir, die Aktivitäten
zum Beispiel am Vormittag anzubieten, da am Nachmittag die PROSA-Schule stattfindet.
Dabei mussten wir mitunter flexibel sein und unsere Arbeitszeiten nach den Zeiten
der Aktivitäten richten.
Von der Fachhochschule waren 30 Wochenstunden vorgegeben, wir investierten allerdings
deutlich mehr in das Projekt. Bereits drei Monate im Voraus entwickelten wir gemeinsam
mit unserem Praktikumsbetreuer Ideen zur Umsetzung des Praktikums. Diese Vorabplanung
erwies sich als sehr hilfreich, weil wir noch nicht so routiniert im Planen von ergotherapeutischen
Interventionen waren. Während des Praktikums waren wir dann meist 35 Stunden vor Ort
bzw. hatten mit der Organisation zu tun.
Man muss sich von Vorurteilen lÖsen und sich auf Neues einlassen.
Das Tanzbein schwingen
Durch die Arbeit mit den Jugendlichen lernten wir unsere eigenen stereotypen Vorstellungen
kennen. Zu Praktikumsbeginn boten wir zum Beispiel eine Frauentanzgruppe sowie eine
Männersportgruppe an – in der Annahme, dass die Frauen nicht am Sport teilnehmen würden,
wenn die Männer dabei waren. Nach wenigen Tagen wollten einige der Frauen jedoch auch
zum Sport mitkommen, und die Männer waren interessiert daran, „Ball tanzen“ zu lernen
(= Walzer tanzen). Dies veranlasste uns, unsere Vorstellungen, genderspezifische Gruppen
anbieten zu müssen, zu hinterfragen und zu modifizieren. Also boten wir eine Walzertanzgruppe
an, an der Männer und Frauen gemeinsam teilnehmen konnten. Dabei war die Herausforderung,
den Jugendlichen eine Aktivität näherzubringen, die üblicherweise eindeutig definierte
genderspezifische Rollen vorgibt und einen direkten Kontakt von Männern sowie Frauen
erforderte. Wir waren sehr gespannt, wie die Frauen reagieren würden, wenn sie den
Männern beim Tanzen die Hand geben mussten und umgekehrt. Entgegen unseren Erwartungen
war die Gruppe allerdings ein voller Erfolg, und die Anwesenheit von Männern hinderte
die Frauen nicht daran, mit Freude und Spaß in die Gruppe zu kommen. Da die Männer
zu Beginn Hemmungen hatten, ihre Klassenkolleginnen zum Tanz aufzufordern, tanzten
die Frauen miteinander und wir beide jeweils mit den Männern. Behutsam, aber bestimmt
forderten wir die Männer nach einer Übungsphase auf, auch mit den anderen Frauen zu
tanzen. Auch wenn einige Frauen nicht mit den Männern tanzen wollten, war es für andere
nach kurzer Eingewöhnungszeit ganz selbstverständlich, ihre Runden auf dem Tanzparkett
zu drehen.
Am Ende des Praktikums zeigte uns ein Mädchen aus Syrien Fotos von einem Ball in Wien,
den sie mit ihrem Bruder und ihrem Onkel besuchte und auf dem sie den neu gelernten
Walzer ausprobiert hatte.
Sich von Vorurteilen lösen
Sich von Vorurteilen lösen
Wie man am „Walzer tanzen“ und „Schwimmen gehen“ sieht, ist der Genderaspekt für jede
Gruppe individuell. Erst in Absprache mit den Jugendlichen konnten wir herausfinden,
welche Aktivitäten sich für die gemeinsame Teilnahme von Männern und Frauen eigneten
und welche nicht.
Im Sinne der Nachhaltigkeit war unser Ziel, dass die Jugendlichen nicht nur mit uns
den gewählten Aktivitäten nachgehen, sondern eigene Aktivitäten finden und durchführen.
Dafür erarbeiteten wir Strategien mit ihnen zum Beispiel im Internet nach Aktivitäten
und Ansprechpartnern zu recherchieren und diese auch anzurufen. Oft war von uns nur
ein Denkanstoß oder ein kleiner Hinweis notwendig.
Zusammenfassend können wir sagen, dass es gerade bei einem „Role Emerging Placement“,
also beim Erschließen eines neuen Arbeitsfeldes für Ergotherapeuten, von großer Bedeutung
ist, sich von eigenen Vorurteilen zu lösen und sich auf das Neue einzulassen. In unserem
Praktikum war es daher sehr wichtig, die Flüchtlinge als Experten ihres Alltags wahrzunehmen.
Es ist notwendig, die Jugendlichen zu empowern, dass sie ihren Alltag wieder selbstständig
und mit für sie bedeutungsvollen Aktivitäten gestalten können. Gerade die Ergotherapie
hat das Potenzial, diese Herausforderung zu meistern und durch den Fokus auf klientenzentrierte
Ziele und die Orientierung am Alltag einen wichtigen Beitrag zu leisten.
Magdalena Samwald, Andrea Draxler, Georg Gappmayer