physiopraxis 2017; 15(04): 24-29
DOI: 10.1055/s-0042-119484
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Neuroorthopädische Therapie bei Ataxie – Vom Schwanken und Schlucken

Renata Horst

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Publikationsdatum:
21. April 2017 (online)

 

Alle denken, man sei betrunken – die wohl schlimmste Angst von Patienten mit einer Ataxie. Fehlt die Koordination bei einer neurologischen Schädigung, leidet jedoch nicht nur das Gangbild. Wie Isabel werden viele Patienten steif, verlieren ihre Ausdauer und haben Probleme beim Atmen und Schlucken.


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Renata Horst

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Renata Horst ist MSc (Neuroreha) und Physiotherapeutin, OMT, und leitet ihre eigenen Weiterbildungsinstitute der N.A.P.-Akademie in Berlin und Ingelheim, wo sie auch privat praktiziert. Sie arbeitet als Dozentin für neuroorthopädische Rehabilitation im In- und Ausland und therapiert Patienten bei sich und bei Supervisionen in verschiedenen medizinischen Einrichtungen.

„Ich schäme mich, essen zu gehen. Denn um schlucken zu können, muss ich den Kopf von meinem Gesprächspartner abwenden.“

Isabel, 35, hatte vor sieben Jahren einen Schlaganfall

Die Ataxie ist eine komplexe Koordinationsstörung, die Bewegung, Haltung, Sprechen, Schlucken und das Sehen betreffen kann. Am häufigsten jedoch ist das Gehen beeinträchtigt. Die Ataxie gehört zu den Leitsymptomen zerebellärer Erkrankungen. Beim Gesunden empfängt das Kleinhirn Nervensignale vom Rückenmark, die in Zusammenhang mit Lokomotionsmustern stehen. Die absteigenden Bahnen (rubrospinal, retikulospinal und vestibulospinal) feuern im Rhythmus der Stand- und Schwungbeinphasen und bestimmen somit den Gangrhythmus [1]. Bei Patienten mit zerebellären Läsionen ist dieser Vorgang beeinträchtigt und sie sind zudem nicht in der Lage, auf Veränderungen der Unterstützungsfläche zu reagieren. Diese Fähigkeit ist jedoch essenziell, um sich in der Umwelt orientieren zu können. Sie ist abhängig davon, wie propriozeptive Kontrollschleifen verarbeitet werden, die das ZNS über Position und Lageveränderungen des Körperschwerpunkts informieren [2]. Diese spezifischen Rezeptoren befinden sich im gesamten Körper, vor allem aber in Gelenken, der Wirbelsäule, den Faszien und der Fußsohle. Ausreichende Elastizität der Bereiche, in denen sich diese Rezeptoren befinden, ermöglicht dem Körper, auf Veränderungen zu reagieren [3]. Erst hierdurch generiert sich genügend muskuläre Aktivität, um sich gegen die Schwerkraft zu behaupten.

Damit sich der Mensch auf zielorientierte Handlungen konzentrieren kann, selektiert das Gehirn essenzielle Informationen und koordiniert verschiedene motorische Synergien automatisch, um sich an die Umwelt anzupassen. Diese Verarbeitungsprozesse geschehen vor allem unbewusst [4, 5]. Wenn Patienten ihre Fähigkeit, sich automatisch gegen die Schwerkraft halten zu können, verlieren, machen sie sich steif und befinden sich im „Nicht-fallen-wollen-Programm“. Die Kokontraktion hindert sie wiederum daran, sich bewegen zu können, um mit ihrer Umwelt zu interagieren. Die Ausdauer wird daher ebenfalls erheblich beeinträchtigt. Die Patienten spannen sowohl die Arme als auch Hals- und Nackenmuskulatur an, um die Stabilität aufrechtzuerhalten. In der Folge fällt ihnen häufig Atmen und Schlucken schwer.

Auf Veränderungen der Unterstützungsfläche reagieren können, ist nötig, um sich in der Umwelt zu orientieren.

Befund kann alltagsrelevante Defizite aufdecken

Bei Gleichgewichtsstörungen ist es wichtig festzustellen, welche sensorischen Systeme beeinträchtigt sind. Hierfür kann man „Clinical Test for Sensory Interaction in Balance“ (CTSIB) nutzen (PHYSIOPRAXIS 3/15, S. 35) [6]. Wenn Patienten auf einer labilen Unterstützungsfläche mit geschlossenen Augen ihr Gleichgewicht nicht organisieren können, kann man davon ausgehen, dass die Verarbeitung des vestibulären Inputs gestört ist. In diesem Fall würde es wenig Sinn ergeben, wenn der Therapeut mit dem Patienten auf labilen Unterstützungsflächen trainiert. Hierbei würden Patienten durch unökonomische muskuläre Anspannungen nur vermehrt kompensieren, was wiederum zu Steifigkeit führt und sie in ihrer Adaptionsfähigkeit in realen Umweltkontexten hindert, zum Beispiel sich auf einem stabilen Boden fortzubewegen.

Mithilfe des Dynamic Gait Index (DGI) kann der Therapeut unterschiedliche alltagsrelevante Situationen beurteilen, etwa ob der Patient sein Gleichgewicht verliert, wenn er seinen Kopf dreht beim Gehen [7]. Sind zum Beispiel der Cervikoocular Reflex (COR) oder Vestibulocollic Reflex (VCR) gestört, verlieren Patienten ihr Gleichgewicht, wenn sie sich mit ihren Augen in der Umwelt orientieren wollen und müssen. Als Strategie halten sie deshalb ihren Kopf und Nacken starr, um zu vermeiden, dass sie ihr Gleichgewicht verlieren.


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Elastizität der Muskeln ist Voraussetzung für posturale Kontrolle

In der Behandlung von Patienten mit Ataxie sollte der Physiotherapeut auf der Körperstrukturebene und -funktionsebene die Elastizität der Muskelsynergien fördern, die beim Patienten in Schutzspannung sind. An der unteren Extremität betrifft das häufig die Hüftgelenkflexoren, -adduktoren und -innenrotatoren. Im Rumpf steht meist der lange Rückenstrecker unter konzentrischer Schutzspannung und verursacht die typische starke Rücklage des Oberkörpers. Die Knie sind oftmals überstreckt. Nur wenn diese Muskelgruppen elastisch sind, kann sich der Patient gegen die Schwerkraft aktiv aufrichten und seine Muskeln exzentrisch stabilisieren. Die kurzen Nackenextensoren und die supra- und infrahyoidalen Muskeln benötigen ebenfalls Elastizität, um die exzentrische Kontrolle für die Haltung des Kopfes zu gewährleisten.

Die Hüftgelenkextensoren sind dagegen meist schwach und müssen gekräftigt werden. Patienten mit Ataxie belasten häufig vor allem ihre Fersen. Voraussetzung für die korrekte Beckenausrichtung über dem Hüftkopf beim Stehen und Gehen ist die Vorfußstabilität, die die Mm. peroneii und die intrinsische Fußmuskulatur gewährleisten. Damit der Körper ausreichend mit Sauerstoff versorgt ist, sollte der Therapeut zudem ein kardiopulmonales Training anleiten.

Auf Aktivitäts- und Partizipationsebene sollte er den Patienten darin fördern, variable und relevante zielmotorische Handlungen mit den Extremitäten ausführen zu können. Voraussetzung hierfür ist die unbewusst gesteuerte präaktive Stabilität der proximalen Körperteile. Auch die Zunge und der Unterkiefer können nur bewegen, wenn die Stabilität des Kopfes und der Halswirbelsäule gewährleistet sind. Diese Stabilität ist zudem Voraussetzung dafür, dass sich Zungenbein und Kehlkopf beim Schluckvorgang automatisch anheben können.

Zu guter Letzt sollte das Gangtraining Teil der Therapie sein. Hier bietet sich das Gehen auf unterschiedlichen im Alltag vorkommenden Unterstützungsflächen und unter unterschiedlichen sensorischen Bedingungen mit hierfür notwendigen Hilfsmitteln an.

Werden in der Therapie realisitische und sinnvolle Aktivitäten trainiert, ist das Gehirn sehr anpassungsfähig.


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In der Therapie das propriozeptive Feedback während Willkürhandlungen fördern

Das Kleinhirn enthält schnell adaptierende Zellen, die sogenannten Purkinje-Fasern. Es ist somit das Hirnareal, das ohne bewusste Kontrolle motorisch lernen kann [8]. Vor allem exzentrische Muskelfunktionen organisiert das Kleinhirn nicht bewusst – diese sind auf Propriozeption angewiesen. Die Rezeptoren dafür befinden sich auf den Gelenkoberflächen und reagieren auf Druck. Deshalb ist die Ausrichtung und Zentrierung der Gelenke Voraussetzung dafür, dass das Gehirn die notwendige Rückmeldung erhält, um Stabilität bei zielorientierten motorischen Handlungen zu gewährleisten. Zudem befinden sich Propriozeptoren in den Muskelspindeln, die durch Zug an den Sehnen aktiviert werden. Da sich 80 Prozent der Propriozeptoren im interstitiellen Bindegewebe befinden, scheint es vor allem sinnvoll, die Faszien unter Spannung zu bringen, um dem Gehirn die entsprechende Rückmeldung für die Haltungskontrolle zu erteilen [9].

In der Therapie bietet es sich demnach an, verbale Anweisungen und visuelle Informationen in Bezug zur zielmotorischen Handlung zu bringen. Propriozeptives Feedback und somit die Automatisierung der posturalen Kontrolle kann durch eine Ausrichtung der Körpersegmente und den Einfluss der Schwerkraft gefördert werden. Die Hände des Therapeuten und aktivitätsfördernde Trainingsgeräte wie Orthesen, Langhantelstangen oder Bleigurte können dies fördern.

„Ich habe viel Lebensqualität zurückgewonnen.“

Isabel nach der Therapie

Neurotraining – auch an Geräten – ist essenziell, um Kraftausdauer und Ausdauerkraft zu steigern, und führt zu Bewegungsökonomisierung. Patienten, die eine bessere Kondition haben, haben weniger Angst zu fallen und machen sich folglich weniger steif. Hierdurch erhalten sie mehr Rückmeldung aus der Peripherie [10].

Das Kleinhirn ist das Hirnareal, das ohne bewusste Kontrolle motorisch lernen kann.


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Ist das Ziel erreicht, steigt auch die Lebensqualität

Bei Isabel ist nicht zu erwarten, dass sich das Gehen sofort erheblich verbessert. Die Therapie mit oben genanntem Fokus allerdings führte dazu, dass sie ihren Kopf nicht mehr so stark rotieren muss, um schlucken zu können. Hierdurch traut sie sich nun, mit Freunden in der Öffentlichkeit essen zu gehen. Bei Isabel zeigte sich sehr anschaulich, wie anpassungsfähig das menschliche Gehirn ist – vorausgesetzt realistische und sinnvolle Aktivitäten werden trainiert.

Renata Horst


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Fallbeispiel: Ataxie nach Kleinhirninfarkt

Isabel ist eine 35-jährige Patientin, die vor sieben Jahren einen Kleinhirninfarkt erlitt. Zuvor hatte sie internationale Betriebswirtschaft studiert und beherrscht fünf Fremdsprachen. Seit einiger Zeit arbeitet sie nun wieder und hat geheiratet. Als Hauptproblem gibt sie erhebliche Probleme mit dem Schlucken an. Diese gehen so weit, dass sie nicht in der Öffentlichkeit essen gehen will, weil sie ihren Kopf zur schwachen Seite drehen muss, um zu schlucken. Vor anderen empfindet sie es als unhöflich, den Kopf im Gespräch ständig abwenden zu müssen. Ziel der Therapie ist es daher, Isabels Gleichgewicht zu stärken, damit sie nicht mehr mit Hals- und Nackenmuskeln kompensieren muss. Aktuell lernt sie zudem, ihr Gleichgewicht im Stehen und Gehen zu organisieren, da sie bisher nur mit Rollator gehen kann. In drei Übungseinheiten absolvierte sie folgende Übungen:

Übung 1

Isabel steht im Behandlungsraum mit dem Rücken in einer Ecke, damit sie sich sicher fühlt und jederzeit die Möglichkeit hat, sich an den Wänden abzustützen. Sie soll einen großen Gegenstand, etwa einen Therapiewürfel, den sie mit beiden Händen greifen muss, vom Boden aufheben und auf die Liege neben sich stellen. Dabei soll sie darauf achten, dass sie ihre Vorfüße belastet. Zunächst kann Isabel die Bewegung nicht organisieren. Die Erfahrung, wie ihr Versuch misslingt, ermöglicht ihr beim neuen Versuch, sich selbst zu korrigieren. Nach einigen Wiederholungen gelingt ihr die Übung. Je nach Befund und Entwicklung steigert die Therapeutin die Intensität der Übung.

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Abb.: R. Horst

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Übung 2

Isabel sitzt an der Bankkante einer Behandlungsliege. Die Therapeutin fordert sie auf, eine zehn Kilogramm schwere Langhantelstange vom Boden vor sich aufzuheben und auf ihrem Schoß abzulegen. Das Gewicht zwingt sie dazu, ihre Vorfüße zu belasten. Zudem fördert die Übung die Elastizität der dorsalen Kette und die exzentrische Kontrolle dieser Muskelsynergie, bestehend aus Plantarflexoren, Hüftgelenkextensoren und Rückenstreckern.

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Abb.: R. Horst

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Übung 3

Bei der nächsten Aufgabe übt Isabel das Aufstehen und Hinsetzen mit der Langhantel. Beim Aufstehen soll sie die Stange auf ihren Schultern ablegen, um die Schwerkraftinformation zu verstärken. Beim Hinsetzen zwingt das Gewicht sie, ihren Oberkörper weit nach vorne zu neigen, was den Druck auf die Vorfüße erhöht.

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Abb.: R. Horst

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Übung 4

Isabel und ihre Therapeutin stehen sich in Schrittstellung gegenüber und legen sich die Hände auf die Schultern. Die Therapeutin appliziert bei Isabels Vorwärtsbewegung einen Druck nach unten, damit diese sich über den Großzehenballen abstoßen muss. Das Vorwärts- und Rückwärtsgehen in dieser Haltung soll die Rumpfvorlage fördern. Isabel soll ihre Hände auf den Schultern der Therapeutin nach vorne drücken, um eine Rumpfflexion zu vermeiden. Die Therapeutin zentriert die Schultergelenke, indem sie auf die ventralen Kapselstrukturen Zug appliziert und über die Sehneninsertionen der Außenrotatoren Druck in die Gelenkpfanne gibt. Hierbei gelangen auch die Faszien unter Spannung.

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Abb.: R. Horst

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Übung 5

In Rückenlage trainiert Isabel die Elastizität der infrahyoidalen und subokzipitalen Muskulatur mithilfe von verlängertem Ausatmen. Hierfür stabilisiert sie ihren Kopf mit der Zungenspitze am Gaumen hinter der oberen Zahnreihe, indem sie während der Ausatmung „L“ lautiert. Gleichzeitig hält die Therapeutin, die über ihr am Bankende sitzt, den Kopf stabil, damit er nicht in Retraktion bewegt, und appliziert einen Druck am Sternum nach kaudal. Das bewirkt einen Längszug auf die ventralen Halsstrukturen während der Ausatmung.

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Abb.: R. Horst

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