Schlüsselwörter
Chronic Fatigue Syndrome - CFS - Myalgische Enzephalomyelitis - ME - Ätiologie - Differenzialdiagnostik
- Therapie
Key words
chronic fatigue syndrome - CFS - myalgic encephalomyelitis - ME - etiology - differential
diagnosis - therapy
Einleitung
Das chronische Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom, englisch Chronic Fatigue Syndrome
(CFS), auch als „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) bezeichnet, stellt – ähnlich wie
die „Multiple Chemical Sensitivity“ (MCS) oder das Fibromyalgie-Syndrom – nicht nur
Praktiker, sondern auch Gutachter vor erhebliche Herausforderungen. Im Standardwerk
zur Begutachtung in der Neurologie bezeichnet Widder das CFS als Befindlichkeitsstörung
und führt dazu aus: „Betroffene (…) zeigen regelmäßig über Organgrenzen hinausgehende,
multiple, wechselnde Beschwerden und sind gleichermaßen von einer körperlichen Ursache
trotz zahlreicher unauffälliger Untersuchungsbefunde überzeugt (…). Nachdem sich zusätzlich
bei der Mehrzahl der Betroffenen typische belastende Lebenssituationen und Konflikte
eruieren lassen, vermag der psychiatrisch geschulte Neurologe daher meist nur schwer
zu erkennen, warum es sich hierbei um eigenständige Krankheitsbilder und nicht um
somatoforme Störungen (…) handeln soll.“ [1].
Die vorliegende Arbeit will die vorliegende Evidenz zum CFS beleuchten und eine Handreichung
für Neurologen und Psychiater sein, die mit ihm konfrontiert sind. Dabei geht es weniger
um eine vollständige, systematische Analyse der vorhandenen Literatur, wie man es
z. B. bei einem Cochrane Review erwarten würde, sondern um eine pragmatische Sichtung
von Studien zu Epidemiologie, Ätiologie, Pathophysiologie, Diagnostik, Differenzialdiagnostik
und Therapie.
Um in die Thematik einzuführen, soll zunächst ein Fallbeispiel aus der gutachterlichen
Praxis des Autors dargestellt werden.
Fallbeispiel
Eine etwa 40-jährige Kauffrau klagt gegen ihre Versicherung auf Berufsunfähigkeit,
nachdem etwa sieben Jahre zuvor wechselnde Gelenk- und Muskelbeschwerden aufgetreten
waren, die zunächst den Verdacht auf eine Borreliose gelenkt hatten. Dieser Verdacht
bestätigt sich nicht, vielmehr wird der Klägerin bereits nach kurzem Krankheitsverlauf
mit depressiver Symptomatik, zu der auch eine erhöhte Ermüdbarkeit zählt, sowie vielgestaltigen,
wechselnden körperlichen Beschwerden die Diagnose eines CFS eröffnet. Von dieser Interpretation
der Beschwerden rücken in der Folge weder die Patientin (iatrogene Fixierung) noch
nachbehandelnde Kollegen mehr ab. Im Laufe mehrerer, auch stationärer psychiatrischer
bzw. psychosomatischer Behandlungen wird der Klägerin wiederholt eine Depression und
Somatisierungsstörung attestiert. Sie bricht aber stets eine medikamentöse antidepressive
Behandlung schon nach wenigen Tagen wegen „unerträglicher“ Nebenwirkungen und der
Überzeugung ab, dass sie an einem CFS und keiner psychiatrischen Erkrankung leide.
Mit der gleichen Begründung wird eine Psychotherapie von ihr abgelehnt.
In der neurologischen Begutachtung zeigen sich ein unauffälliger körperlicher Untersuchungsbefund,
eine normale kranielle Magnetresonanztomografie (mit Kontrastmittel) sowie regelrechte
neurophysiologische Befunde (Elektroenzephalografie, multimodal evozierte Potenziale,
Elektromyografie, Elektroneurografie). Auch eine umfassende immunologische Diagnostik
inkl. Acetylcholinrezeptor-Antikörper erbringt keinen wegweisenden pathologischen
Befund. Auf eine erneute Lumbalpunktion wird bei unauffälligen Vorbefunden ohne Hinweis
auf eine chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung verzichtet. In der psychopathologischen
Exploration zeigt sich eine allenfalls leichte depressive Symptomatik, wenngleich
die Patientin im Beck-Depressions-Inventar (BDI II, revidierte Fassung) 28 Punkte
erreicht. Neuropsychologische Tests zu Aufmerksamkeit und Gedächtnis sind unauffällig,
Hinweise für eine erhöhte Ermüdbarkeit zeigen sich bei der Durchführung der genannten
Untersuchungen nicht.
Gutachterlich werden der Patientin eine Depression und eine Somatisierungsstörung
bescheinigt, die Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeit sind jedoch nicht erfüllt.
Dafür spricht auch die in weiten Teilen objektiv unbeeinträchtigte Alltagskompetenz
der Klägerin.
Zum Gerichtstermin wird die Klägerin nicht nur von ihrem Rechtsbeistand, sondern auch
von einem ärztlichen Kollegen begleitet, der als CFS-Experte vorgestellt wird. Im
Verlauf einer mehrstündigen Befragung des Gutachters werden von dem Kollegen zahlreiche
Publikationen zitiert, die für das Vorliegen eines CFS sprächen. Gegen den Gutachter
wird ein Befangenheitsantrag gestellt, außerdem ein Obergutachten eingefordert.
Epidemiologie
Die Prävalenz des CFS wird in einer frühen Untersuchung aus den USA, bei der eine
repräsentative Stichprobe der Allgemeinbevölkerung mittels Telefoninterview befragt
wurde, mit 0,42 % angegeben [2]. In der Literatur zeigt sich jedoch eine erhebliche Streuung der Angaben, mit Prävalenzen
von bis zu 2,8 % in Nordamerika [3]. Aktuellere Studien hingegen gehen von einer deutlich geringeren Krankheitshäufigkeit
aus, mit nur 71,34/100 000 Einwohner (0,07 %) [4]. Selbst von Protagonisten des CFS wird diese erhebliche Streuung auf uneinheitliche
diagnostische Kriterien zurückgeführt [4]. In der zitierten Studie litten überraschenderweise 70 % der CFS-Patienten unter
einer Depression [4], was in den meisten diagnostischen Klassifikationen (s. u.) als Ausschlusskriterium
für die Diagnose eines CFS angesehen wird. Es waren deutlich mehr Frauen (83 %) als
Männer betroffen, außerdem gehörten nahezu alle Betroffenen der weißen Bevölkerung
an (90 %) und hatten einen hohen Bildungsstatus [4]. Das mittlere Alter bei Krankheitsbeginn lag bei 38,2 (± 10,4) Jahren [4].
Was die Prävalenz des CFS in Deutschland anbelangt, lassen sich keine zuverlässigen
Angaben machen. In der Untersuchung einer repräsentativen Stichprobe von immerhin
2412 Probanden mittels eines Fatigue-Fragebogens wird eine sehr hohe Prävalenz von
6,1 % errechnet, wobei Betroffene auch signifikant höhere Werte in einem Fragebogen
erreichten, der zur Identifizierung einer Somatisierungsstörung herangezogen wird
[5]. An diesem Beispiel zeigt sich, dass generell höhere Krankheitshäufigkeiten festgestellt
werden, wenn Symptome mittels Fragebögen [5] erfasst werden, als wenn die Diagnose ärztlich geprüft [4] wird.
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie und Pathogenese
Zur Erklärung des CFS wird immer wieder eine infektiologische oder autoimmune Hypothese
in den Raum gestellt. Als mögliche Kandidaten wurden in den letzten Dekaden Viren,
Bakterien und sogar Pilze als krankheitsverursachend angeschuldigt, im einzelnen Epstein-Barr-Virus,
Humanes Herpesvirus 6, Bornavirus, Enteroviren, Borrelia burgdorferi, Coxiella burnetii,
Mycoplasma pneumoniae und Candida albicans [6]. Große Beachtung fand auch ein weiteres Pathogen, nämlich die Gruppe der Murinen
Leukämieviren (MLV), bei denen es sich um Retroviren handelt [6]. Dass es eine Assoziation zwischen einer Infektion mit MLV und CFS geben könnte,
wurde in einer multizentrischen Untersuchung inzwischen jedoch klar widerlegt [6].
Auf alle möglichen Krankheitserreger einzugehen, würde den Rahmen dieser Übersicht
sprengen, haltbare Hinweise auf eine virale Beteiligung liegen allenfalls für das
Epstein-Barr-Virus (EBV), den Erreger der infektiösen Mononukleose, vor [7]. Zum Pfeifferschen Drüsenfieber gehört allerdings neben grippeähnlichen Symptomen
auch Müdigkeit [8]. Daher erscheint zumindest vorstellbar, dass durch die Reaktivierung einer EBV-Infektion
oder durch sie induzierte immunologische Prozesse auch Erschöpfungssymptome hervorgerufen
werden können. Es bleibt aber völlig offen, ob dies die Annahme einer eigenständigen
Krankheitsentität rechtfertigt, zumal eine erhebliche Diskrepanz zwischen Durchseuchung
mit EBV (mehr als 95 % der Bevölkerung [8]) und berichteter CFS-Prävalenz (von zumeist deutlich weniger als 1 % [4]) besteht.
Ungeklärt ist auch, ob oxidativer Stress oder autoimmune Prozesse infrage kommen,
um ein Modell zur Krankheitsentstehung zu stützen. Oxidativer Stress wird angeführt,
um eine „mitochondriale Dysfunktion“ beim CFS zu begründen [9]. Die Bedeutung des oxidativen Stresses und einer dadurch u. a. bedingten mitochondrialen
Störung spielt in der Pathophysiologie zahlreicher, v. a. neurodegenerativer Erkrankungen
wie M. Huntington [10] eine wichtige Rolle. Stoffwechselradikale können ohne Zweifel Nerven- und auch Muskelzellen
chronisch schädigen, bis hin zum Zelltod. Warum es bei CFS-Patienten dann aber „nur“
zu einer abnormen Ermüdbarkeit und nicht zu Symptomen einer Demenz, Motoneuronerkrankung
oder muskulären Degeneration kommt, ist dadurch nicht erklärt.
Auch Autoimmunprozesse werden immer wieder zur Erklärung des CFS herangezogen. In
der Tat können bei verschiedenen entzündlichen Erkrankungen auch Müdigkeitssymptome
beobachtet werden, die vermutlich durch Zytokine und andere Entzündungsmediatoren
vermittelt werden [11]. Ob dies aber auch zur Entstehung eines eigenständigen CFS führt, dafür ist die
vorhandene Evidenz äußerst schwach.
Auch aktuelle Studien, z. B. einer norwegischen Arbeitsgruppe, die eine B-Zell-Dysfunktion
anschuldigen und sogar eine B-Zell-Depletion mittels Rituximab durchgeführt haben,
können schon allein aufgrund der niedrigen Fallzahl und der bisher ausstehenden Reproduktion
der Ergebnisse nicht überzeugen [12].
Nicht selten werden auch genetische Ursachen ins Feld geführt, um ein CFS-Krankheitsentstehungsmodell
zu begründen. In einem Review aus dem Jahr 2010 werden klare genetische oder epigenetische
Marker beim CFS, schon aufgrund unklarer phänotypischer Definitionen, verneint [13].
Breiten Raum bei CFS-Befürwortern nehmen auch funktionell-bildgebende Befunde ein,
die vermeintlich spezifische Hirnfunktionsstörungen belegen. Viel zitiert wird in
diesem Zusammenhang eine Radiology-Arbeit aus 2015 [14]. Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie mittels Diffusion Tensor Imaging (DTI)
ist eine erhöhte fraktionale Anisotropie im rechten Fasciculus arcuatus von CFS-Patienten
[14]. Die fraktionale Anisotropie gibt an, wie richtungsabhängig die Diffusion ist, und
gilt als Indikator für die Unversehrtheit eines Faserbündels. Als Kritikpunkt an dieser
Studie ist zunächst die niedrige Fallzahl (n = 15) zu nennen. Auch zur Händigkeit
der Patienten bzw. Ermittlung derselben werden unklare Angaben gemacht. Es steht außer
Frage, dass die Hemisphärendominanz einen erheblichen Einfluss auf den Fasciculus
arcuatus hat, der ja motorische (Broca-Areal) und sensorische Sprachregion (Wernicke-Areal)
miteinander verbindet. Zudem ist belegt, dass auch bei Depressiven Veränderungen im
linken Fasciculus arcuatus vorliegen können [15], so dass eine erhöhte Anisotropie im Seitvergleich rechts nicht als spezifisches,
exklusives Merkmal eines CFS gelten kann.
Diagnostik und Differenzialdiagnostik
Diagnostik und Differenzialdiagnostik
Im Kapitel Epidemiologie wurde bereits darauf hingewiesen, dass es unterschiedliche
Definitionen bzw. Klassifikationssysteme zum CFS gibt. Obwohl das CFS Eingang in die
ICD-10 gefunden hat („G93.3 – Chronisches Müdigkeitssyndrom, inkl.: Benigne myalgische
Enzephalomyelitis, Chronisches Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion, Postvirales
Müdigkeitssyndrom“) [16], fehlt eine einheitliche, verbindliche Festlegung von diagnostischen Kriterien.
Im Jahr 1994 wurde eine Definition der amerikanischen Centers for Disease Control
and Prevention (CDC) publiziert, die in [Tab. 1] wiedergegeben ist [17]. Ursprünglich als „Kanada-Kriterien“ veröffentlichte CFS-Kriterien wurden im Jahr
2011 aktualisiert, als sog. „International Consensus Criteria“, [Tab. 2] [18]. Ebenfalls verwendet werden die diagnostischen Kriterien des Institute of Medicine
(IOM), [Tab. 3] [19]. Des Weiteren existieren noch Leitlinien des britischen National Institute for Health
and Care Excellence (NICE), die die Diagnose eines CFS empfehlen, wenn „andere mögliche
Diagnosen ausgeschlossen worden sind“ und die Beschwerden bei Erwachsenen mindestens
vier Monate, bei Kindern oder Jugendlichen mindestens drei Monate bestehen [20].
Tab. 1
CFS-Falldefinition nach CDC-Kriterien, frei übersetzt nach: [17].
Hauptkriterien
|
Erstmals auftretende nicht anderweitig erklärbare, persistierende oder rezidivierende
chronische Erschöpfung, die sich durch Ausruhen nicht bessert, die Lebensführung erheblich
beeinträchtigt und seit mindestens 6 Monaten andauert
|
Nebenkriterien
|
Mindestens 4 der folgenden Begleitsymptome (ebenfalls von mindestens 6-monatiger Dauer)
müssen vorliegen:
-
Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses bzw. der Konzentration
-
Halsschmerzen
-
druckschmerzhafte Lymphknoten
-
Muskelschmerzen
-
multiple Gelenkschmerzen (ohne Schwellung oder Rötung)
-
neuartige Kopfschmerzen (im Hinblick auf Art oder Schwere)
-
nicht erholsamer Schlaf
-
Unwohlsein nach körperlicher (oder geistiger) Belastung, das mehr als 24 Stunden anhält
|
Ausschlusskriterien
|
-
Medizinisch anders zu begründende Fatigue-Symptomatik, z. B. Hypothyreose, Schlafapnoe,
Narkolepsie und medikamentöse Nebenwirkungen
-
Maligne Erkrankungen, Hepatitis B oder C
-
Psychiatrische Erkrankungen: Insbesondere jede Diagnose einer früheren oder begleitenden
Major Depression; genannt werden auch bipolare Störungen, Schizophrenien, Wahnerkrankungen,
Demenzen, Anorexia nervosa oder Bulimie
-
Alkohol oder ein anderer Substanzmissbrauch zum Zeitpunkt des Symptombeginns oder
jederzeit danach
-
Schwere Fettleibigkeit (BMI ≥ 45 kg/m2)
|
Tab. 2
„Internationale Konsenskriterien“, frei übersetzt nach: [18].
Hauptkriterien
|
Entkräftung nach Belastung („Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion“): schnelle körperliche
und/oder geistige Erschöpfbarkeit als Reaktion auf Belastung, Symptomverstärkung nach
Belastung (z. B. grippeähnliche Symptome), sofortige oder verzögert auftretende Entkräftung
nach Belastung, verlängerte Erholungszeit (≥ 24 h), vermindertes Aktivitätsniveau
(verglichen mit prämorbidem Zustand)
|
Nebenkriterien
|
Jeweils mindestens ein Symptom aus jeder der folgenden Kategorien muss vorliegen:
-
neurologische Störungen: neurokognitiv (Schwierigkeiten in der Informationsverarbeitung
oder mit dem Kurzzeitgedächtnis), Schmerz (Kopfschmerz oder andere Lokalisation),
Schlafstörungen, andere Beschwerden (z. B. Phono- oder Photophobie, Muskelschwäche,
Ataxie)
-
immunologische, gastrointestinale oder urologische Störungen: grippeähnliche Beschwerden,
Infektanfälligkeit, Nausea, Reizdarmsyndrom, Dranginkontinenz, Lebensmittelunverträglichkeiten
-
„Beeinträchtigungen der Energieproduktion/des Ionenkanaltransports“: Orthostaseprobleme,
Hypotonie, Luftnot, Temperaturregulationsstörungen und „Intoleranz gegenüber extremen
Temperaturen“
|
Ausschlusskriterien
|
Primäre psychiatrische Erkrankungen, somatoforme Störungen und Drogenmissbrauch sowie
alle anderen Erkrankungen, die nach gründlicher Anamnese, körperlicher Untersuchung
oder Laborbefunden die Beschwerden erklären können
|
Tab. 3
IOM-Kriterien, frei übersetzt nach: [19].
Hauptkriterien
|
Alle drei Kriterien müssen erfüllt sein:
-
Unfähigkeit, das prämorbide Aktivitätsniveau (berufliche, soziale, schulische oder
persönliche Aktivitäten) aufrechtzuerhalten, seit mindestens 6 Monaten, von Fatigue
begleitet, keine wesentliche Besserung durch Ausruhen
-
Unwohlsein nach körperlicher oder geistiger Belastung
-
Nicht erholsamer Schlaf
|
Nebenkriterien
|
Mindestens eins der folgenden Kriterien muss erfüllt sein:
-
Kognitive Störungen
-
Orthostaseprobleme
|
Ausschlusskriterien
|
Differenzialdiagnosen nach gründlicher Anamnese und körperlicher Untersuchung
|
Die Differenzialdiagnostik ist umfangreich und sollte neben somatischen (z. B. maligne
oder hepatische Erkrankungen, Hypothyreose) v. a. psychiatrische Erkrankungen umfassen,
von denen an erster Stelle die Depression und die somatoformen Störungen genannt werden
müssen, die im Übrigen oft koexistent sind, s. [Tab. 1], [2], [3]. Eine Gegenüberstellung bzw. Differenzierung depressiver und CFS-Symptome wird in
einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2008 versucht [21]. Demnach zeigen CFS-Patienten eine Kausalattribuierung, die auf externale oder körperliche
Ursachen fokussiere, während Depressive einer Psychogenese ihrer Erkrankung gegenüber
eher aufgeschlossen seien [21]. Aus Sicht des Autors sind die weiteren Unterscheidungskriterien wenig hilfreich.
Als wichtige Differenzialdiagnose im Hinblick auf die oft vielgestaltigen körperlichen
Symptome von CFS-Patienten sei unter den somatoformen Störungen exemplarisch die Somatisierungsstörung
(F45.0) genannt, bei der die ICD-10 folgende Definition aufführt: „Charakteristisch
sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome,
die wenigstens zwei Jahre bestehen. Die meisten Patienten haben eine lange und komplizierte
Patienten-Karriere hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten
medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative
Operationen durchgeführt sein können. Die Symptome können sich auf jeden Körperteil
oder jedes System des Körpers beziehen. Der Verlauf der Störung ist chronisch und
fluktuierend und häufig mit einer langdauernden Störung des sozialen, interpersonalen
und familiären Verhaltens verbunden. Eine kurzdauernde (weniger als zwei Jahre) und
weniger auffallende Symptomatik wird besser unter F45.1 klassifiziert (undifferenzierte
Somatisierungsstörung).“ [16]. Eine solch hilfreiche Präzisierung vermisst man beim Code G93.3. Es sei an dieser
Stelle nochmals darauf verwiesen, dass es erhebliche Überlappungen zwischen CFS und
somatoformen Erkrankungen gibt [5].
Therapie
In Anbetracht der unklaren Pathophysiologie bzw. Ätiologie muss es verwundern, dass
potenziell lebensbedrohliche Immuntherapien bei CFS-Patienten eingesetzt werden. Hier
wäre die aus der bereits zitierten norwegischen Arbeitsgruppe stammende Publikation
zur Therapie mit dem aus der Behandlung von malignen Lymphomen bekannten monoklonalen
Antikörper Rituximab zu nennen [22]. Abgesehen davon, dass in die genannte Studie nur 30 Patienten (pari aufgeteilt
in Plazebo- und Rituximab-Arm) eingeschlossen wurden und der primäre Endpunkt (selbstberichtete
Fatigue-Symptomatik nach drei Monaten) negativ war, stellt sich die Frage, ob eine
deutsche Ethikkommission dieser Studie ihre Zustimmung erteilt hätte.
Aus Sicht des Autors sollten deutlich weniger aggressive Therapien bei chronischer
Fatigue-Symptomatik Anwendung finden. Dazu zählt beispielsweise Bewegungstherapie.
Ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2016 fasst dazu Daten aus acht randomisierten, kontrollierten
Studien zusammen [23]. Im Ergebnis kommen die Autoren zu dem Schluss, dass CFS-Patienten von einer Bewegungstherapie
(12 – 26 Wochen Dauer) profitieren und sich danach weniger erschöpft und gesünder
fühlen sowie besser schlafen [23]. Dieses Ergebnis widerspricht der verbreiteten Auffassung, nach der sich die Patienten
nach körperlicher Belastung – bisweilen lang anhaltend – unwohl fühlen sollen. Nicht
selten raten Ärzte CFS-Patienten sogar zu körperlicher Schonung. Der Autor erlaubt
sich den Hinweis darauf, dass Bewegungstherapie bzw. körperliches Training auch in
der Behandlung der Depression einen wichtigen Stellenwert hat. In der nationalen Versorgungsleitlinie
heißt es dazu: „Patienten mit einer depressiven Störung und ohne Kontraindikation
für körperliche Belastungen sollte die Durchführung eines strukturierten und supervidierten
körperlichen Trainings empfohlen werden.“ [24].
In Anbetracht der bereits mehrfach angesprochenen Überschneidung mit der Depression
kann es nicht überraschen, dass Antidepressiva auch bei CFS-Patienten hilfreich sind.
In einer umfangreichen Metaanalyse, die 94 Studien einschloss, zeigte sich, dass Antidepressiva
etwa um den Faktor 3,5 effektiver zur Behandlung von Schmerzen bei CFS-Patienten waren
als Plazebo [25].
Die kognitive Verhaltenstherapie als psychotherapeutische Intervention scheint v. a.
bei Kindern und Jugendlichen wirksam zu sein [26].
Was – von CFS-Patienten oft in Anspruch genommene – komplementäre Therapien anbelangt,
ist festzustellen, dass nur geringe Evidenz für einen Benefit vorliegt [27]
[28].
Diskussion
Betrachtet man die vorhandenen Publikationen zu Ätiologie und Pathophysiologie, so
lässt sich konstatieren, dass es keine schlüssigen Belege für eine einheitliche infektiologische,
immunologische, genetische oder eine anders geartete, spezifische Ursache für die
Entstehung eines CFS gibt [29]
[30]. Auch funktionell-bildgebende Befunde sind nicht geeignet, pathognostische zentralnervöse
Funktionsstörungen, z. B. des Fasciculus arcuatus [14], zu belegen. Aus Sicht des Autors scheint es daher auch nicht gerechtfertigt, von
dem Begriff einer „Myalgischen Enzephalomyelitis“ auszugehen, denn weder für eine
Neuroinflammation noch für durch sie hervorgerufene neurologische Ausfälle gibt es
eine ausreichende, belastbare Evidenz, geschweige denn objektivierbare Befunde (Bildgebung,
Liquor).
Der Autor dieser Übersicht stellt nicht infrage, dass es Patienten gibt, die von einer
chronischen Fatigue-Symptomatik mit einem erheblichen Leidensdruck betroffen sind.
Beispiele für eine organisch bedingte Fatigue im neurologischen Fachgebiet sind zahlreich,
z. B. bei der Enzephalomyelitis disseminata [31]. Auch im psychiatrischen Fach kommen zahlreiche Erkrankungen in Betracht, die zu
einer chronischen Erschöpfung führen, allen voran die Depression. Nicht von ungefähr
wird in den verwendeten diagnostischen Systemen zum CFS insbesondere die Major Depression
als Ausschlussdiagnose angesehen [17]
[18]
[19]
[20]. In den genannten Systemen selbst, v. a. den CDC-Kriterien [17], wird darüber hinaus eine große Zahl somatischer und psychiatrischer bzw. psychosomatischer
Differenzialdiagnosen angeboten, die dafür bekannt sind, dass sie mit einer chronischen
Erschöpfungssymptomatik einhergehen können.
Als besonders problematisch ist es aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten, dass
es zwar eine Vielzahl von Publikationen zum CFS gibt, diese aber auf erheblich divergierenden
Definitionen beruhen. Es finden mindestens vier verschiedene Systeme Anwendung [17]
[18]
[19]
[20], so dass die Studien z. T. kaum vergleichbar sind. Wenn es aber schon nicht möglich
ist, eine einheitliche Definition zu finden, stellt sich die Frage, ob es das CFS
tatsächlich als eigenständige Krankheitsentität gibt oder ob – der Name selbst bietet
es an – nicht vielmehr von einem Syndrom ausgegangen werden muss, das bei zahlreichen
somatischen, psychiatrischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen begleitend auftreten
kann [17]. Die Annahme einer syndromalen Diagnose lässt auch das Fehlen einer überzeugenden,
einheitlichen Ätiologie bzw. Pathogenese plausibel erscheinen, denn es gibt schlichtweg
viele verschiedene mögliche Ursachen bzw. Erkrankungen, die zu einer chronischen Fatigue-Symptomatik
führen können.
Sind somatische Ursachen ausgeschlossen, so bietet sich aus Sicht des Autors in erster
Linie an, das Vorliegen einer Depression, oft verbunden mit einer somatoformen Störung,
zu prüfen. Es gibt eine klare Evidenz dafür, dass beide erhebliche Überlappungen mit
dem CFS aufweisen [4]
[5]. Auch das Ansprechen auf Antidepressiva [25] und Psychotherapie [26] legt eine oft depressive Genese der Erschöpfungssymptomatik nahe.
Aus ärztlich-therapeutischer Sicht ist es kontraproduktiv, Patienten, die an einer
somatisch nicht erklärbaren Fatigue-Symptomatik leiden, ein pseudowissenschaftliches,
externales oder körperliches Erklärungsmodell ihrer Beschwerden anzubieten [21]. Auch aus der klinischen Erfahrung des Autors heraus führt diese iatrogene Fixierung
nicht selten dazu, dass sich depressive Patienten gegenüber wirkungsvollen medikamentösen
Therapien [25] und einer Psychotherapie [26] verschließen. Problematisch ist, dass diese Patienten auch oft von fachfremden Kollegen
behandelt werden, die die Deutungshoheit des CFS für sich beanspruchen und eine Psychogenese
der Beschwerden – auch aus mangelnder Kompetenz – von vornherein ablehnen [1].
Auch erscheint es nicht tragbar, CFS-Patienten mit lebensbedrohlichen Immuntherapien,
z. B. Rituximab, zu behandeln [22]. Bevor derart aggressive Therapien wie eine B-Zell-Depletion eingesetzt werden,
müsste zunächst eine wesentlich bessere Evidenzlage für eine neuroinflammatorische
Genese geschaffen werden.
Gutachter werden vor Gericht nicht selten in einen „Glaubensstreit“ hineingezogen,
bei dem es der Klägerseite um den angeblichen Beweis der Existenz eines CFS bzw. einer
ME geht. Dann ist es hilfreich, darauf zu verweisen, dass es nicht darum geht, einen
wissenschaftlichen Disput auszutragen, sondern z. B. die Erwerbsfähigkeit im ganz
konkreten Fall zu beurteilen. Die Frage, wie stark die berufliche oder gesellschaftliche
Teilhabe eingeschränkt ist, lässt sich auf der Basis der „International Classification
of Functioning, Disability and Health“ (ICF) [32] unabhängig von ICD-Diagnosen beantworten. Damit vermeidet man auch eine Diskussion
um die Wertigkeit der Tatsache, dass das CFS über einen eigenen ICD-Code (G93.3) verfügt.
Es steht außer Frage, dass ein Patient – z. B. aufgrund einer depressiven Erkrankung
– so energielos und schnell erschöpft sein kann, dass er in seiner Erwerbsfähigkeit
nach sozialmedizinischer Einschätzung erheblich eingeschränkt ist.
Der Gutachter wird nach aller Erfahrung dennoch immer wieder dazu gedrängt, sich pro
oder contra CFS zu bekennen. In dieser Situation kann es nicht schaden, auf die in
allen Bereichen (Ätiologie, Pathophysiologie, Diagnostik, Therapie) schwache Evidenzlage
zum CFS zu verweisen. Nimmt man eine solche Position ein, befindet man sich in guter
Gesellschaft, z. B. mit dem Robert Koch-Institut (RKI), dessen Publikation „Erkenntnisstand
zum CFS“ [29] sehr lesenswert ist.
-
Es gibt kein überzeugendes Krankheitsentstehungsmodell zum CFS.
-
Die Existenz eines CFS als eigenständige Krankheitsentität ist nicht bewiesen.
-
Die Prävalenz eines CFS ist – auch aufgrund divergierender diagnostischer Kriterien
– nicht sicher einzuschätzen, liegt aber vermutlich weit unter 1 %.
-
Es kommt auf eine gründliche Differenzialdiagnostik an, um somatische, psychiatrische
bzw. psychosomatische Ursachen für eine Fatigue-Symptomatik aufzudecken.
-
Sind somatische Ursachen ausgeschlossen, legt eine hohe Überlappung des CFS mit der
Major Depression und somatoformen Störungen eine psychiatrische bzw. psychosomatische
Ursache nahe. Therapeutisch bieten sich dann Bewegungstherapie, Antidepressiva und
eine Psychotherapie an.
Abkürzungsverzeichnis
BDI:
Beck-Depressions-Inventar
BMI:
Body Mass Index
CDC:
Centers for Disease Control and Prevention
CFS:
Chronic Fatigue Syndrome
DTI:
Diffusion Tensor Imaging
EBV:
Epstein-Barr-Virus
ICD:
International Classification of Diseases
ICF:
International Classification of Functioning, Disability and Health
IOM:
Institute of Medicine
MCS:
Multiple Chemical Sensitivity
ME:
Myalgische Enzephalomyelitis
MLV:
Murine Leukämieviren
NICE:
National Institute for Health and Care Excellence
RKI:
Robert Koch-Institut