Schlüsselwörter
Abhängigkeit - Elternschaft - Erziehung - Familie - Kinder
Key words
substance use Disorders - parenthood - parenting - family - children
Epidemiologie
In Deutschland sind älteren Zahlen zufolge etwa 5–6 Millionen Kinder und Jugendliche
unter 20 Jahren von einer elterlichen Alkoholabhängigkeit betroffen [1]. Dies kann auf einer Exposition im Elternhaus gegenüber einem oder zwei suchtkranken
Elternteilen beruhen, wobei die Dauer dieser Exposition durchaus variiert. Neuere
Hochrechnungen zeigen, dass 22% der Elternteile, die mit mindestens einem eigenen
minderjährigen Kind im Haushalt leben, einen riskanten Alkoholkonsum aufweisen [2]. Dies bedeutet, dass in Deutschland bis zu 6,6 Millionen Kinder mit einem Elternteil
mit riskantem Alkoholkonsum zusammenleben. In Bezug auf eine elterliche Drogenabhängigkeit
besagen Schätzungen, dass etwa 60 000 Kinder von einem opiatabhängigen Elternteil
abstammen und mit diesem zusammenleben [3].
Risikofaktoren für Kinder aus suchtbelasteten Familien
Risikofaktoren für Kinder aus suchtbelasteten Familien
Pränatale Exposition
Bereits während der Schwangerschaft können Kinder im Mutterleib den toxischen Folgen
von Alkohol- und Drogenkonsum ausgesetzt sein. Generell birgt eine pränatale Exposition
von derartigen Substanzen die Gefahr eines geringen Geburtsgewichts, früher Fütterungsstörungen,
einer erhöhten Irritabilität der Neugeborenen sowie eine verzögerte kognitive oder
körperliche Entwicklung [4]. Speziell in Bezug auf eine pränatale Alkoholexposition besteht für das ungeborene
Kind außerdem die Gefahr der Entwicklung eines Fetalen Alkoholsyndroms (FAS), welches
sich durch ein geringes Geburtsgewicht, eine geringe Körpergröße bei Geburt, facialen
Auffälligkeiten und Schädigungen des Zentralen Nervensystems auszeichnet [5]. Methamphetaminmissbrauch in der Schwangerschaft ist im Allgemeinen assoziiert mit
Aborten und Frühgeburten sowie mit einer zu geringen Körpergröße gemäß Gestationsalter,
niedrigem Erregungsniveau, Bewegungseinschränkungen, erhöhtem physiologischen Stress
sowie späteren Verhaltens- und Entwicklungsdefiziten [6]. Darüber hinaus kann ein pränataler Methamphetaminmissbrauch, sowie noch stärker
ein pränataler Opioidmissbrauch, infolge der beendeten Zufuhr der Substanz im Mutterleib
nach der Geburt zu einem Neonatalen Abstinenzsyndrom (NAS) führen [4]. Probleme durch eine pränatale Exposition an Suchtmittel können sich jedoch auch
noch später manifestieren: Im Fall von Kokain bspw. in Form von Sprachentwicklungsstörungen,
emotionalen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten im späteren Kindesalter [7]. Diese pränatal erworbenen Schädigungen interagieren oft in komplexer Weise mit
weiteren ungünstigen, postnatalen Entwicklungsbedingungen (s. u.).
Psychosoziale Lebensbedingungen suchtbelasteter Familien
Sozioökonomische Benachteiligungen
Sozioökonomische Benachteiligungen gehören zu den typischen Stressoren für Kinder
aus suchtbelasteten Familien, da die materiellen und finanziellen Bedingungen in suchtbelasteten
Familien oftmals schlechter sind als in unbelasteten Familien, z. B. durch Arbeitslosigkeit
und Verschuldung als Konsequenz des Suchtproblems [8]. Der soziale Abstieg der Erwachsenen im Zuge der Suchterkrankung betrifft insofern
auch die Kinder, da diese früh von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht werden.
Auch soziale Marginalisierung, Exklusion und Stigmatisierung können auftreten.
Diskontinuität der Eltern-Kind-Beziehung
Einen weiteren Risikofaktor stellt die Diskontinuität und Instabilität der Beziehung
zwischen Eltern und Kindern in suchtbelasteten Familiensystemen dar. Durch z. B. Trennungen
und Scheidungen der Eltern oder sogar den Tod eines Elternteils sowie durch Fremdunterbringungen
der Kinder, stationäre Aufenthalte oder Inhaftierungen der Eltern entstehen wiederholt
Beziehungsabbrüche. Eine Studie zu elterlicher Methamphetaminabhängigkeit zeigte,
dass über ein Drittel der Kinder von Klienten der ambulanten Suchtberatung in Fremdunterbringung
lebte [9].
Elterliches Verhalten in Kontext von Substanzkonsum und Abhängigkeitserkrankungen
Suchtkranke Eltern können genauso wie andere Eltern funktionales wie auch dysfunktionales
Verhalten zeigen. In Bezug auf ihre Elternrolle und die resultierenden Erziehungsaufgaben
ist ein erhöhtes Risiko für dysfunktionale Verhaltensweisen festzustellen [9]
[10]. Dieses kann vor allem aus weniger Zuwendung und Wärme, mehr Aggressivität und Gewalt
sowie weniger kontinuierlichen und sicheren Bindungsverhaltensweisen bestehen. Elternkompetenz stellt die Gesamtheit aller Fähigkeiten dar, einem schutzbefohlenen Kind entwicklungsförderliche,
sichere Bedingungen und Interaktionen bereitzustellen, sodass dieses sich vor dem
Hintergrund seiner Anlagen und Fähigkeiten optimal entwickeln kann. Sie ist nicht
identisch mit dem Vermeiden von Stress und Krisen im Leben des Kindes. Nur dann kann
ein Kind auch angemessene Resilienzen und Stressbewältigungskompetenzen entwickeln.
Erziehungskompetenz basiert auf einer sicheren Rollenkompetenz der Eltern, ihrer psychischen Stabilität
und einer liebevollen, altersangemessenen Zugewandtheit zum Kind. Dabei ist es wichtig,
dass sich Freiheit und Grenzen in der Erziehung des Kindes in einer entwicklungsförderlichen,
aber auch schützenden Balance befinden. Als zentrale Bestandteile der Elternkompetenz
sind (1) Beziehungsfähigkeit, (2) Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, (3) Grenzsetzungsfähigkeit,
(4) Förder- und Verstärkungsfähigkeit, (5) Vorbildfähigkeit und (6) Alltagsmanagementfähigkeit
anzusehen [11].
Vernachlässigung
Kinder aus suchtbelasteten Familien sind neben den schwierigen sozioökonomischen Bedingungen
auch verschiedenen psychosozialen Belastungen ausgesetzt, die zunächst unabhängig
von der Art bzw. des Wirkspektrums der konsumierten Substanz sind. Hierzu gehören
z. B. die typischen, substanzübergreifenden Charakteristika einer Abhängigkeitserkrankung
wie z. B. Entzugssymptome oder eine Einengung des Elternteils auf den Substanzgebrauch
und eine daraus resultierende Vernachlässigung anderer Aktivitäten. Dies führt häufig
zu einer Vernachlässigung der Versorgung des Kindes, sowohl auf materieller als auch
emotionaler Ebene [9].
Zusätzlich bestehen differenzielle Risiken abhängig vom Wirkspektrums einer Substanz,
wie z. B. Aggressivität, Affektlabilität nach Alkoholkonsum; Apathie, Sedierung bei
Opioidintoxikation; oder Agitiertheit und „Punding“ (repetitive/stereotype Handlungen,
z. B. zwanghaft anmutendes Sortieren von Gegenständen, Mitesser ausdrücken oder Putzen)
bei Methamphetaminkonsum. Diese Intoxikationserscheinungen bestimmen das elterliche
Verhalten maßgeblich mit und erzeugen einen ungünstigen Fokus der elterlichen Aufmerksamkeit.
Eine regelmäßige Exposition an elterlichen Konsum und Intoxikation sind außerdem insofern
kritisch, als dass sie die (positiven) Wirkungserwartungen des Kindes bezüglich der
Substanz determinieren und so als ein Faktor den Weg einer familiären Transmission
der Suchterkrankung ebnen können.
Anderes problematisches Eltern- und Erziehungsverhalten
Verschiedene Studien rücken das häufig problematische Erziehungsverhalten (wie z. B.
ein unangemessen scharfer Tonfall) der Eltern in den Vordergrund [4]
[10]. Weitere Befunde zeigen, dass innerhalb suchtbelasteter Familien Konflikte oftmals
nicht nur verbal ausgetragen werden, sondern auch körperliche Gewalt beinhalten [12]. Dabei sind die Kinder entweder selbst als Opfer oder als Zeuge involviert [9].
Ein sprunghaft wechselndes Erziehungsverhalten durch die Eltern sowie eine ausgeprägte
Stimmungslabilität durch den Substanzkonsum konnte in suchtbelasteten Familien beobachtet
werden und gehört zu einer der wichtigsten Konsequenzen der Suchtstörungen auf das
familiäre Umfeld [13]. Dies kann sich z. B. in Form von übertriebener Milde oder Härte bei Bestrafung
des Kindes äußern [9], aber auch in Form eines veränderten, unpassenden Kommunikations- oder Verhaltensstils
(z. B. undeutliche oder lautere Sprache, ausgeprägtes Bedürfnis nach körperlicher
Zuneigung). Durch die fehlende Konstanz mangelt es für die Kinder an Orientierung.
Weitere Auswirkungen der elterlichen Verhaltensvolatilität zeigen sich darin, dass
Versprechungen oder Pläne durch einen übermäßigen Konsum hinfällig werden oder spontan
geändert werden müssen. Dies kann eine Störung von Familienritualen (wie z. B. gemeinsame
Mahlzeiten einzunehmen) mit sich bringen [14], welche für die Kinder eigentlich stabilisierend wirken sollten.
Da ein suchtkrankes Elternteil oftmals nicht in der Lage ist, seine alltäglichen und
familiären Verpflichtungen in einem adäquaten Maß wahrzunehmen, werden Verantwortlichkeiten
innerhalb der Familie nicht selten neu verteilt. Durch die neuen Rollenverteilungen
bekommen die Kinder häufig Aufgaben zugeschrieben, welche nicht altersadäquat sind
und geraten in altersunangemessene Muster, vor allem in Bezug auf erwachsenentypische
Verpflichtungen. Dieses Phänomen wird als Parentifizierung der Kinder bezeichnet.
Dadurch stellt sich für die weitere Entwicklung des Kindes eine Gefahr ein, da die
Kinder ihre Entwicklungsaufgaben nicht adäquat bewältigen können und chronisch überfordert
sind [15].
Insgesamt erscheinen suchtkranke Eltern wenig in der Lage zu sein, eine positive Atmosphäre
im Zusammensein mit dem Kind aufzubauen und verlässlich aufrechtzuerhalten [16], außerdem fördern sie Problemlösefähigkeiten und Durchhaltevermögen des Kindes nur
unzureichend. Sie zeigen zudem eine geringe emotionale Responsivität und Feinfühligkeit
im Umgang mit dem Kind und seinen Bedürfnissen, sodass sich häufig eine unsichere
Bindung zwischen Eltern und Kind entwickelt.
Besonderheiten von Kindern drogenabhängiger Eltern
Kinder von drogenabhängigen Eltern erleben im Gegensatz zu Kindern alkoholabhängiger
Eltern häufiger eine Abhängigkeitserkrankung bei beiden Elternteilen, da bei Drogenabhängigen
ein entsprechendes – subkulturell bedingtes – Partnerwahlverhalten üblicher ist als
bei Alkoholabhängigen [17]. Dadurch können die negativen Effekte des drogenabhängigen Elternteils nicht hinreichend
durch einen gesunden Elternteil kompensiert werden. Ein möglicher risikominimierender
Effekt („Buffering-Effect“) kann dadurch seltener bis gar nicht auftreten. Die höhere
Rate an Frühgeburten und das oftmals schwierige Temperament von Kindern drogenabhängiger
Mütter kann bei den Eltern Überforderungsgefühle und psychischen Stress auslösen und
ihre Beziehung zu den Kindern beeinträchtigen. Betroffene Kinder erleben außerdem
die typischen Bedingungen der Drogensubkultur, wie bspw. Beschaffungskriminalität,
Prostitution, Strafverfolgung o. ä. [4]. Typisch für Kinder aus Familien mit Drogenproblematik ist außerdem eine stärkere
soziale Isolation oder gar Ausgrenzung durch das soziale Umfeld als Folge einer befürchteten
oder tatsächlichen gesellschaftlichen Stigmatisierung. Dadurch lernen sie weniger
sozial förderliche Verhaltensweisen und erleben sich insgesamt in ihrem Selbstwertgefühl
als instabiler und gefährdeter [17]. Durch die vergleichsweise höhere psychische Komorbiditätsrate drogenabhängiger
Eltern laufen deren Kinder zudem Gefahr, häufiger eine schwerwiegendere Schädigung
zu erleiden. Im Bereich der illegalen Drogen fanden sich auf Elternseite zudem vermehrt
justizielle Probleme sowie daraus resultierende Inhaftierungen und damit verbunden
häufigere Trennungen von Eltern und Kind [9].
Die Komponenten dysfunktionalen Elternverhaltens infolge von Substanzkonsum und/oder
einer Abhängigkeitserkrankung sind multipel und betreffen alle relevanten Verhaltensebenen.
Elterliche Drogenabhängigkeit stellt eine Kumulierung dieser Risikovariablen dar.
[Tab. 1] fasst die Auswirkungen des elterlichen Substanzkonsums auf die Erziehungskompetenz
auf mehreren Ebenen zusammen [18].
Tab. 1 Auswirkungen des elterlichen Substanzkonsums auf die Erziehungskompetenz.
Kontextbezogene Risken
|
Selbstbezogene Kompetenzen der Eltern
|
Kindbezogene Kompetenzen der Eltern
|
Handlungsbezogene Kompetenzen der Eltern
|
Prekäre Soziodemografische Bedingungen Instabilität und Diskontinuität in der Eltern Kind-Beziehung Trennung von der Familie Exposition an ungünstige Lebensbedingungen der Drogensubkultur
|
Sprunghafte Veränderung von Stimmung, Verhalten und Vereinbarungen Eingeschränkte Emotionsregulation mit Tendenzen zu emotionaler Kälte, Reizbarkeit,
Gewalt
|
Geringe Sensitivität für kindliche Bedürfnisse Geringe emotionale Responsivität Geringe Wertschätzung der Kinder Geringe Förderung von Handlungskompetenzen der Kinder
|
Physische/emotionale Vernachlässigung Altersinadäquate Verteilung familiärer Aufgaben „Parentifizierung“ Inkonsequenz im Erziehungsverhalten
|
Es muss erwähnt werden, dass sich viele suchtkranke Eltern (zumindest retrospektiv)
ihres eigenen ungünstigen Erziehungsverhaltens und dessen negativen Auswirkungen auf
die Kinder bewusst sind [19]. Dabei scheinen drogenabhängige Eltern weniger zu beschönigen und zu verzerren als
alkoholabhängige Eltern. Dies resultiert in starken Gefühlen von Schuld und Sorge;
viele Eltern bezeichnen ihre Kinder als primäres Abstinenzmotiv [9]. Daraus kann eine besondere Chance, aber auch Verantwortung der Suchthilfe abgeleitet
werden. Die Abstinenzmotivation der suchtkranken Elternteile sollte genutzt werden,
ohne die Kinder für die Veränderung und den Therapieprozess zu funktionalisieren.
Auswirkungen des elterlichen Substanzkonsums für betroffene Kinder
Auswirkungen des elterlichen Substanzkonsums für betroffene Kinder
Substanzbezogene Störungen
In internationalen Untersuchungen zu Kindeswohl und Entwicklungspsychopathologie gilt
eine elterliche Abhängigkeitserkrankung als besonders negativer Risikofaktor für eine
gesunde kindliche Entwicklung [20]. Insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung eigener substanzbezogener Störungen
werden Kinder aus suchtbelasteten Familien als Hochrisikogruppe betrachtet: Betroffene
Kinder besitzen ein 2,4- [21] bis 6-fach [22] erhöhtes Risiko, später selbst einmal eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln.
Begünstigende Faktoren für eine intergenerationale Transmission von suchtbezogenen
Störungen sind sowohl genetische und personenbezogene als auch Umwelt- und Lernfaktoren
[15].
Externalisierende und internalisierende Verhaltensauffälligkeiten
Es wurde wiederholt belegt, dass Kinder aus suchtbelasteten Familien neben Suchtstörungen
auch andere psychische Erkrankungen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit entwickeln [4]
[15]. So besteht bei Kindern aus suchtbelasteten Familien z. B. eine erhöhte Auftrittswahrscheinlichkeit
für externalisierende Auffälligkeiten, wie Störungen des Sozialverhaltens oder hyperkinetische
Störungen [23]. Kinder aus suchtbelasteten Familien sind auch bezüglich der Entwicklung internalisierender
Störungsbilder besonders gefährdet: Betroffene Kinder zeigen im Vergleich zu unbelasteten
Kindern erhöhte Raten an Depressionen [24] oder Angststörungen [25], sowohl bereits im Kindes- als auch später im Erwachsenenalter. Außerdem besteht
für die von elterlicher Sucht betroffenen Kinder ein signifikant erhöhtes Risiko für
die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen []
[]
[17]. Externalisierende als auch internalisierende Störungsbilder gelten darüber hinaus
als stabile Prädiktoren für die Entwicklung einer eigenen substanzbezogenen Störung
[26]. Insofern ist davon auszugehen, dass frühe Verhaltensauffälligkeiten der Kinder
im elterlichen Suchtumfeld, die als stressbedingte Reaktionen und Bewältigungsversuche
des dysfunktionalen Erziehungsumfeldes anzusehen sind, langfristig zu relevanten psychischen
Störungen führen können.
Die Auswirkungen einer elterlichen Abhängigkeitserkrankung und dem daraus resultierenden,
dysfunktionalen Elternverhaltens können für Kinder gravierend sein und sich sowohl
im Kindes- als auch im Jugend- oder Erwachsenenalter in Form von einer psychischen
Symptombelastung äußern.
Hilfeangebote für Eltern mit Suchterkrankungen zur Förderung der Elternkompetenz
Hilfeangebote für Eltern mit Suchterkrankungen zur Förderung der Elternkompetenz
Die aufgezeigten Ergebnisse zum Erziehungsverhalten suchtkranker Eltern und dessen
Auswirkungen auf die Kinder unterstreichen den dringenden Unterstützungsbedarf für
betroffene Familien. Obwohl es diverse Programme gibt, die sich direkt an Kinder aus
suchtbelasteten Familien richten [20], mangelt es im deutschen Hilfesystem an suchtspezifischen, wissenschaftlich fundierten
Programmen, die sich direkt an suchtmittelabhängige Eltern richten. Ein verstärktes
Angebot wissenschaftlicher fundierter Elterntrainings ist aber dringend notwendig,
da das elterliche Erziehungsverhalten eine zentrale Bedeutung für die Entstehung psychischer
Störungen im Kindes- und Jugendalter besitzt [27]. Es bedarf im Hilfesystem des transgenerationalen Blicks, um Familienwelten weniger
risikohaft werden zu lassen und Risiken für exponierte Kinder systematisch zu verringern.
Dies geschieht am besten mit selektiven Präventionsprogrammen im suchtspezifischen
Hilfesystem oder im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, aber außerhalb des Schulsystems,
weil dort Stigmatisierung und Diskriminierung drohen.
Bestehende Angebote für suchtmittelabhängige Eltern im deutschsprachigen Raum
Im deutschsprachigen Raum gibt es eine Vielzahl von evaluierten Gruppentrainings für
Eltern, die sich an verschiedene Zielgruppen richtet und unterschiedliche Bereiche
der Prävention abdeckt [28]. Trainings speziell für suchtkranke Eltern sind dabei allerdings kaum vorhanden.
Das bislang bekannteste Programm ist das Mütter-Unterstützungs-Training (MUT!) [29]. MUT! ist ein Gruppentraining für drogenabhängige, substituierte Mütter zur Förderung der
Erziehungskompetenz. MUT! soll bei den Müttern u. a. die Wissenskompetenz über die kindliche Entwicklung und
die Handlungskompetenz im Umgang mit dem Kind erweitern. Sie werden außerdem in ihrer
Rolle als Mütter gestärkt und sollen erziehungsspezifische Selbstwirksamkeit aufbauen.
Die Mütter fühlten sich nach Ende des Kurses weniger sozial isoliert, erfuhren eine
Verbesserung im Kompetenzerleben sowie einen Rückgang an sozialer Unsicherheit und
dysfunktionalen Denkmustern.
Für Männer mit einer Alkoholabhängigkeit existiert das manualisierte Gruppenprogramm
Männlichkeiten und Sucht [30]. Diese Intervention richtet sich nicht speziell an Männer mit Kindern, widmet aber
ein Modul dem Thema Vaterschaft. Inhaltlich werden die Folgen einer Alkoholabhängigkeit
auf das Erziehungsverhalten thematisiert, z. B. häusliche Gewalt. Ziel ist es, die
eigene Vaterrolle zu reflektieren, das Zusammensein mit dem Kind zu verbessern und
die Männer für die Perspektive ihrer Kinder zu sensibilisieren. Spezifischere Programme,
die das Thema „Sucht und Vaterschaft“ fokussieren, sind notwendig, insbesondere da
die Mehrzahl der suchtkranken Elternteile Väter sind.
Derzeit erprobt wird das SHIFT-Elterntraining („Suchthilfe und Familientraining“). SHIFT ist ein modularisiertes, verhaltenstherapeutisches
Gruppenprogramm speziell für methamphetaminabhängige Eltern mit Kindern zwischen 0
und 8 Jahren, welches darauf abzielt, die Elternkompetenzen und die familiäre Widerstandsfähigkeit
zu verbessern und zu stärken [31]. Gleichzeitig sollen die elterliche Substanzabstinenz stabilisiert und weitere Inanspruchnahmen
von Hilfen gefördert werden. Erste Evaluationsergebnisse werden 2018 erwartet.
In Deutschland gibt es kaum wissenschaftlich fundierte Interventionen, die sich speziell
an suchtmittelabhängige Mütter und Väter richten. Aufgrund der besonderen Bedeutung
der direkten Förderung von Elternkompetenzen, sind Forschung und Praxis jedoch für
dieses Thema sensibilisiert und erste Projekte wurden initiiert.
Angebote für suchtmittelabhängige Eltern im US-amerikanischen Raum
Im US-amerikanischen Raum gibt es bereits verschiedene evidenzbasierte Elterntrainings,
die speziell auf die Zielgruppe suchtmittelabhängiger Eltern zugeschnitten sind. Eine
aktuelle Übersichtsarbeit [4] befasste sich mit evidenzbasierten Interventionen speziell für Eltern mit Substanzmittelabhängigkeit
und identifizierte dabei folgende Programme:
In Parents under Pressure (PUP) lernen teilnehmende Eltern, wie sie die Kindeserziehung gestalten und eine stabile
Beziehung mit dem Kind etablieren können. Außerdem werden die elterliche Emotionsregulation
verbessert und Anti-Rückfallstrategien erarbeitet. Ergebnisse zur Wirksamkeit von
PUP zeigen auf, dass die Intervention das Funktionsniveau der Familie erhöhen und die
Wahrscheinlichkeit einer Kindesmisshandlung signifikant verringern konnte. Die psychische
Symptombelastung der Kinder konnte signifikant reduziert werden.
Focus on Families (FOF) (jetzt: Families Facing the Future) ist ein Gruppentraining für Eltern im Methadonprogramm. FOF zielt darauf ab, den elterlichen Substanzkonsum zu reduzieren, innerfamiliäre Kommunikationsmuster
und Verhaltensweisen zu verbessern sowie Familienkonflikte und Verhaltensprobleme
des Kindes zu verringern. FOF erwies sich mittelfristig als effektiv in Hinblick auf eine Reduktion des elterlichen
Substanzkonsums und ein verbessertes Erziehungsverhalten. Langfristig hatten Söhne
der teilnehmenden Eltern ein geringeres Risiko, selbst eine substanzbezogene Störung
zu entwickeln.
Behavioural Couples Therapy (BCT) ist eine Intervention für Männer mit Alkohol- oder Drogenproblemen, welche effektive
Kommunikationsstrategien, eine positive Reziprozität sowie Strategien zur Eliminierung
verbaler und physischer Aggression zwischen (Ehe-) Partnern vermittelt. Evaluationsergebnisse
belegen, dass das psychosoziale Funktionsniveau der Kinder durch die Teilnahme der
Eltern signifikant verbessert werden konnte. Das Zufügen einer Eltern-Komponente war
der ursprünglichen Fassung der BCT in Form einer weiteren reduzierten psychischen Symptombelastung der Kinder zudem
überlegen.
Ein neueres systematisches Review [32] identifizierte neben den bereits genannten weitere evidenzbasierte Interventionen
für suchtmittelabhängige Eltern. Der Fokus lag dabei auf Interventionen, die hauptsächlich
kognitiv-behaviourale Elemente beinhalten (verhaltensorientiert, „skill-based programs“).
Hierzu gehört z. B. das auch in Deutschland an mehreren Standorten angebotene Strengthening Families Program (SFP) (deutsch: Familien stärken) [33]. SFP richtet sich speziell an Risikofamilien und beinhaltet Eltern-, Kinder- und Familiensitzungen.
In den Elternsitzungen geht es um die Demonstration von Liebe und positiver Verstärkung
unter gleichzeitiger Berücksichtigung des Setzens von Grenzen und Aufstellens von
Regeln. Weitere Inhalte sind Stress- und Konfliktbewältigung. SFP konnte das Elternverhalten positiv verändern, die Kommunikation verbessern sowie
den elterlichen Substanzgebrauch, depressive Symptome, körperliche Gewalt und kindliche
Verhaltensauffälligkeiten signifikant reduzieren. Die größten Effektstärken wurden
dabei für Familien mit Kindern zwischen 6 und 11 Jahren gefunden. Von SFP existieren verschiedene Varianten [32]: So besteht bspw. mit Parenting While Incarcerated (PWI) eine Adaption für inhaftierte Eltern mit Suchtproblemen.
Verhaltensbasierte Elternprogramme sind auch bei Eltern mit einer Abhängigkeitserkrankung
wirksam. Der Erfolg der Programme liegt in der effektiven Vermittlung von elterlichen
Verhaltensstrategien, die direkt das Verhalten des Kindes beeinflussen können.
An verhaltensorientierten Elternprogrammen wird kritisiert, dass sie ausschließlich
das beobachtbare Verhalten der Eltern in Augenschein nehmen und dabei die emotionale
Beziehungs- und damit auch Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind relativ unbeachtet
lassen [32]
[34]. Dabei zeigen Ergebnisse der Bindungsforschung, dass die emotionale Qualität der
Eltern-Kind-Beziehung einen der wichtigsten Prädiktoren für die gesunde psychische
Entwicklung von Kindern in allen Altersstufen darstellt [34]. Das o. g. Review [32] bezieht demgemäß auch Programme ein, die insbesondere die Eltern-Kind-Beziehung
und Bindung in Fokus nehmen („attachment-based programs“):
Das Mothers and Toddlers Program (MTP) fokussiert explizit das Thema Bindung im Kontext von Abhängigkeitserkrankungen. Das
Programm wird als Ergänzung zur traditionellen Suchtbehandlung eingesetzt und wurde
entwickelt, um das Fürsorgeverhalten der Eltern zu verbessern. Hierzu soll vor allem
die Reflektions- und Mentalisierungsfähigkeit, die Emotionsregulation und Sensitivität
und Handlungskompetenz der Mutter gegenüber ihrem Kind gestärkt werden. Das MTP erwies sich als wirksam in Bezug auf eine Reduktion der elterlichen depressiven Symptomatik,
Drogenabstinenz und ein verbessertes Fürsorgeverhalten.
Im Programm Attachment and Biobehavioural Catch-up (ABC) steht die Förderung der elterlichen Fürsorge und Interaktion zwischen Eltern und
Kind bei Hochrisikogruppen im Fokus. ABC basiert im Wesentlichen auf Beobachtungen der Interaktionen der Eltern-Kind-Dyade,
welche auf Video aufgenommen und anschließend gemeinsam analysiert werden. Erste Ergebnisse
demonstrieren einen Effekt von ABC bezüglich eines fürsorglicheren und unterstützenden Elternverhaltens.
Die Circle of Security Parenting Intervention (CoS) zielt darauf ab, die Eltern darin zu stärken, die Signale des Kindes besser zu erkennen,
die eigene Observationsfähigkeit und entsprechende Schlussfolgerungen zu verbessern
sowie die eigene Emotionsregulation, Reagibilität und die Mentalisierungsfähigkeit
zu fördern. Vorläufige Befunde belegen, dass teilnehmende Mütter am Ende des Programms
sensibler auf ihre Kinder reagierten und die Kinder ein sichereres Bindungsverhalten
aufwiesen.
Cherish the Family (CTF) wurde speziell für suchtbelastete Familien entwickelt, in der das Risiko einer Inobhutnahme
des Kindes oder eines Sorgerechtsentzugs besteht oder bereits erfolgt ist. CTF konzentriert sich neben der Verbesserung der Eltern-Kind-Bindung auf den Aufbau der
Inanspruchnahme von Hilfen sowie auf die Förderung der Stressbewältigung und körperlichen
Gesundheit bei den Eltern. Erste Evaluationsergebnisse mit inhaftierten Müttern belegen,
dass 45% der Teilnehmerinnen vermehrt Hilfen in Anspruch nahmen, verbesserte Interaktionsfähigkeiten
und Elternkompetenzen demonstrierten und weniger Ambivalenz hinsichtlich einer Rückführung
des Kindes aufzeigten.
Bindungsorientierte Elterntrainings sind in der internationalen Forschung zunehmend
in den Fokus gerückt und erscheinen erfolgversprechend, da sie direkt auf die Verbesserung
der Eltern-Kind-Beziehung abzielen.
Substanzspezifische Interventionen für suchtkranke Eltern
Allen genannten Programmen ist gemein, dass sie substanzübergreifend alle Eltern integrieren,
die Probleme mit illegalen Drogen und/oder Alkohol haben. Für spezielle Subgruppen
von Konsumenten ist vor allem das MATRIX-Programm hervorzuheben [35]. MATRIX ist ein ambulantes, verhaltensorientiertes Behandlungsprogramm für Methamphetaminabhängige.
Für dieses Programm bestehen ergänzende Zusatzmaterialien, die das Thema Familie speziell
in den Fokus nehmen, wie z. B. das Beiheft zur Behandlung von weiblichen Klientinnen
(Using MATRIX with Women Clients) [36]. Hier werden im Rahmen von zusätzlichen Gruppensitzungen Aspekte behandelt, die
für den Genesungsprozess von Konsumentinnen wichtig sein können, wie z. B. Schwangerschaft
und Elternschaft. Inhaltliche Schwerpunkte liegen dabei u. a. auf der Vermittlung
von Erziehungsfertigkeiten, Psychoedukation, Bearbeitung von Schuldgefühlen sowie
Sexualität und Schwangerschaft im Kontext von Crystal Meth.
Im US-amerikanischen Raum existieren verschiedene evidenzbasierte und effektive verhaltens-
und bindungsorientierte Interventionen, die speziell Eltern mit Suchterkrankungen
adressieren. Dabei sind die Inhalte der Trainings sowohl substanzunspezifisch als
auch substanzspezifisch aufbereitet.
[Tab. 2] stellt die genannten Verhaltens- und bindungsorientierte Interventionen für suchtmittelabhängige
Eltern geordnet nach der hauptsächlicher Altersgruppe des Kindes in einer Übersicht
dar und beinhaltet weiterführende Informationen zum Modus und Setting.
Die Auswirkungen einer elterlichen Abhängigkeitserkrankung und dem resultierenden,
dysfunktionalen Elternverhalten können für Kinder schwerwiegende negative Konsequenzen
haben. Dabei ist zu denken an frühkindliche Entwicklungsstörungen und/oder psychische
Störungen im Kindes-, Jugend- oder Erwachsenenalter. Forschungsergebnisse zu Interventionen
für suchtmittelabhängige Eltern haben gezeigt, dass spezifische Elterntrainings durch
die Förderung der Eltern-und Erziehungskompetenzen der betroffenen Eltern die psychosoziale
Situation ihrer Kinder signifikant verbessern können. Als besonders effektiv haben
dabei sich sowohl verhaltens- als auch bindungsorientierte Elemente erwiesen.
Für suchtkranke Eltern in ihrer krankheitstypischen Ambivalenz in Bezug auf Abstinenz
und Veränderung kann die Reflexion des Kindeswohls und die Perspektive einer gelingenden
Elternschaft eine wichtige Motivation für Abstinenz und Therapie darstellen. Dabei
sollte die Rolle der Elternschaft in der Therapieplanung und –durchführung berücksichtigt
werden, da es sich um ein zentrales Thema des Alltags betroffener Mütter, Väter und
Kinder handelt und darüber hinaus ein besonders emotionsgenerierender Bereich angesprochen
wird. Dies ist auch im Sinne der Wirkfaktoren der Psychotherapie besonders aussichtsreich,
da besonders die Bereiche „Problemaktualisierung“ und „aktive Hilfe zur Problembewältigung“
angesprochen werden [37]. Aus einer transgenerationalen Kindperspektive sind elternbezogene Hilfen eine potentielle
Prävention von Fehlentwicklungen und psychischen Störungen bei den Kindern und können
eine sinnvolle Ergänzung direkter kindbezogener Präventionsmaßnahmen darstellen. Insofern
bleibt zu wünschen, dass sich auch die immer mehr auf Erwerbsfragen bezogene Suchtrehabilitation
abhängigkeitskranker Eltern den transgenerationalen Bedürfnissen von suchtbelasteten
Familien öffnet.
Tab. 2 Verhaltens- und bindungsorientierte Interventionen für suchtmittelabhängige Eltern,
geordnet nach Altersgruppe des Kindes.
Name Programm
|
Alter des Kindes
|
Zielgruppe
|
Modus
|
Setting
|
Baby- (0–3J.) und/oder Kleinkindalter (3–6J.)
|
|
|
|
|
Attachment and Biobehavioural Catch-up (ABC)
|
0–2
|
Hochrisikofamilien
|
Familie
|
home-based
|
Mothers and Toddlers Program (MTP)
|
0–3
|
Mütter mit Drogen- oder Alkoholabhängigkeit
|
Einzel
|
home-based
|
Cherish the Family (CTF)
|
0–3
|
Mütter mit Drogen- oder Alkoholabhängigkeit oder HIV/AIDS
|
Einzel
|
home-based
|
MUT!
|
0–6
|
Mütter in Substitutionsbehandlung
|
Gruppe
|
center-based
|
SHIFT-Elterntraining
|
0–8
|
Eltern mit Methamphetaminkonsum
|
Gruppe
|
center-based
|
Circle of Security Parenting Intervention (CoS)
|
1–4
|
Eltern mit Risiko/erfolgte Inobhutnahme des Kindes
|
Gruppe/Einzel
|
home-/center-based
|
Parents under Pressure (PUP)
|
3–8
|
Eltern mit Drogen- oder Alkoholabhängigkeit/in Substitutionsbehandlung
|
Einzel/Elternpaar
|
home-based
|
Frühes und spätes Schulkindalter (6–13 Jahre)
|
|
|
|
|
Focus on Families (FOF) (Families Facing the Future)
|
3–14
|
Eltern in Substitutionsbehandlung
|
Gruppe/Einzel
|
home-/center-based
|
Strengthening Families Program (SFP)
|
10–14
|
Hochrisikofamilien
|
Einzel/Familie
|
home-based
|
Gesamte Kindheit und Jugend
|
|
|
|
|
MATRIX
|
–
|
Klienten mit Methamphetaminabhängigkeit und Angehörige
|
Gruppe
|
center-based
|
Parenting while Incarcerated (PWI) (Adaption von SFP)
|
–
|
Inhaftierte Frauen aus Hochrisikofamilien
|
Gruppe
|
center-based
|
Behavioural Couples Therapy (BCT)
|
–
|
Männer mit Drogen- oder Alkoholabhängigkeit
|
Einzel/Paar
|
center-based
|