ergopraxis 2017; 10(07/08): 42-45
DOI: 10.1055/s-0043-106226
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Marlies Hübner – „Ich lasse mich nicht auf faule Kompromisse ein“

Marion Becker

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Publication Date:
04 July 2017 (online)

 

Sie ist Autistin, unbequem und führt der Welt vor Augen, wie schwer es Menschen mit Autismus im Alltag gemacht wird. Ein Gespräch mit Marlies Hübner über ihr erstes Buch „Verstörungstheorien“ und neue Wege zu mehr Teilhabe.


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Abb.: M. Seitz

Ich möchte mit einem Zitat aus Ihrem Buch „Verstörungstheorien“ in dieses Interview einsteigen: „Es ist nicht so, dass ich die Welt da draußen ablehne. Vielmehr glaube ich, dass man mich mit der völlig falschen Ausrüstung in diese geschickt hat. Das Leben mit Autismus fühlt sich zu oft an, als verlange man von mir, im Ski-Anzug zu schwimmen. Theoretisch müsste das schon gehen, denn die Schwimmbewegungen bleiben die gleichen, egal, was man dabei trägt. Aber beim Versuch der praktischen Umsetzung geht man trotzdem gnadenlos unter.“ So beschreibt Ihre Protagonistin Elisabeth das Leben mit Autismus. Empfinden Sie es genauso?

Elisabeth formuliert es etwas drastischer, als ich es üblicherweise zu tun pflege, aber ich empfinde es sehr ähnlich. Viele Autisten versuchen, anhand von Filmen und Büchern Sozialverhalten zu lernen, versuchen verzweifelt, sich anzupassen und nicht aufzufallen, merken aber schnell, dass sich die erlernten Muster nicht auf das Leben übertragen lassen. Meine Kindheit und Schulzeit und auch weite Teile meiner 20er waren von diesen ausdauernden Anpassungsversuchen geprägt, die aber alle nur in Erschöpfung und Einsamkeit mündeten.

Es hat Jahre gedauert, bis ich die Diagnose annehmen konnte.

Sie erhielten mit 28 Jahren die Diagnose Autismus. Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Wie hat die Diagnose Ihr Leben verändert?

Die Diagnostik war der negative Höhepunkt eines bis dahin sehr schweren Lebens. Und es sollte noch zwei, drei Jahre dauern, bis ich die Diagnose vollends für mich annehmen konnte. Ich musste dafür erst einen Zugang zu meinem Sein schaffen, zu dem, was mich ausmacht. Den fand ich im Schreiben. Erst damit hatte ich die Möglichkeit, all das umfassend zu verarbeiten, für mich anzunehmen und mein Leben meiner Persönlichkeit anzugleichen – und nicht weiterhin einem von nichtautistischen Menschen geprägten Ideal.

Beeinflusst der Autismus Ihr tägliches Leben, beispielsweise im Beruf oder in der Freizeit? Falls ja, inwiefern?

Beruflich gibt mir mein Autismus die Möglichkeit, in meinem Fachgebiet hervorragende Leistungen zu erbringen. Ich weise nach kurzer Zeit Wissensstände auf, für die andere weitaus länger benötigen, und arbeite präzise und analytisch – Fähigkeiten, die in einem Kommunikationsteam durchaus von Bedeutung sind. Mein Privatleben prägt der Autismus natürlich auch. Freundschaften, die ich sehr ausgewählt führe, pflege ich sehr innig und kommunikationsintensiv. Ich wertschätze sie auf einem sehr viel höheren Level, als ich es bei anderen Menschen beobachte.

Wenn Sie jemandem erklären müssten, was es bedeutet, mit Autismus zu leben, der noch nie davon gehört hat – was würden Sie sagen?

Dazu müsste ich autistisches Leben mit nichtautistischem Leben vergleichen, und genau davon möchte ich Abstand nehmen. Das Messen von Autisten an Nichtautisten ist Quelle vieler Vorurteile, ungerechter Behandlung und auch Diskriminierung. Leben an sich ist die Suche nach Sinnhaftigkeit, egal mit welcher neurologischen Grundvoraussetzung.

In einem Beitrag auf Ihrem Blog robotinabox.de erwähnen Sie den Satz „Kennst du einen Autisten, dann kennst du genau einen Autisten“. Wie ist das zu verstehen?

Autismus ist ein breites Spektrum mit fließenden Übergängen, man kann es also nicht in starre Bereiche einteilen. Jeder Autist erlebt seine Fähigkeiten und Einschränkungen auf individuelle Art und Weise. Das autistische Spektrum beinhaltet eine unfassbare Vielfalt von Menschen mit verschiedensten Persönlichkeiten, kognitiven Fähigkeiten, Interessen und Talenten – so wie das nichtautistische Spektrum auch. Es gibt also nicht den exemplarischen Autismus, so wie es nicht den einen exemplarischen autistischen Menschen gibt.

Kennst du einen Autisten, dann kennst du genau einen Autisten.

Elisabeth spricht in Ihrem Buch über die Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen, die eigentlich keiner benennen kann, und sagt: „Das ist einer der Punkte im Leben, wo ich nicht anders kann, als die kuriose Art der vermeintlich normalen Menschen einfach kopfschüttelnd hinzunehmen.“ An welchen Stellen schütteln Sie über vermeintlich normale Verhaltensweisen Ihrer Mitmenschen den Kopf?

Das betrifft vor allem Bereiche in der Kommunikation. Zwischen Nichtautisten findet Kommunikation oft derart unkonkret statt, dass es automatisch zu Missverständnissen und Schwierigkeiten kommt. Doch niemand hegt auch nur das geringste Interesse daran, das zu optimieren. Für mich ist das schon sehr merkwürdig.

Sie sagen, dass Kommunikation für Sie wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld ist. Warum ist das so?

Wenn man sich nur auf einer der vielen Kommunikationsebenen sicher bewegt, der Informationsebene, bekommt man grundsätzlich nur einen Teil eines Gespräches mit und muss sich die anderen Teile mühsam erschließen. Das geht weitaus seltener gut, als man meinen mag, und man ist sehr oft damit beschäftigt, in Fettnäpfchen zu treten, die man eigentlich umgehen wollte.

Ihre Romanfigur schien mit der Diagnose Autismus sehr alleingelassen gewesen zu sein. Wie haben Sie persönlich das Therapieangebot nach Ihrer Autismus-Diagnose empfunden? Was ist Ihnen als besonders hilfreich in Erinnerung?

Ein Therapieangebot gab es für mich, wie für die meisten im Erwachsenenalter diagnostizierten Autisten, nicht. Ich hätte die Möglichkeit einer Psychotherapie in Anspruch nehmen können, hatte damit aber schon vor der Diagnosestellung schlechte Erfahrungen gemacht. Der Austausch mit anderen autistischen Menschen zeigt zudem, dass in den seltensten Fällen Psychologen und Psychotherapeuten über Autismus und die damit einhergehenden Merkmale und Abweichungen Bescheid wissen, was den Therapieverlauf wiederum negativ beeinflusst. Lebenspraktische und qualifizierte Hilfe bekam ich von einer gesetzlichen Betreuerin, die mich als intelligenten, mündigen Menschen wahrnahm und mich stets ermutigte und bestärkte. Sie verhalf mir in hohem Maße zu Barrierefreiheit, ohne mir jemals das Gefühl zu geben, unfähig zu sein. Die Jahre mit ihr waren für mein Leben von großer Bedeutung. Leider gibt es auch sehr gegenteilige Erfahrungen mit diesem Hilfsangebot, sodass es mir schwerfällt, es uneingeschränkt zu empfehlen.

Welche Ansprüche haben Sie an Therapeuten? Worauf sollten diese beim Umgang mit Menschen mit Autismus achten?

Von Therapeuten wünsche ich mir einen an Stärken orientierten Blick auf die Klienten, unabhängig davon, wie auffällig oder pflegebedürftig sie sind. Ich wünsche mir, dass sie autistischen Menschen auf Augenhöhe begegnen und in ihrem Sinne mit ihnen arbeiten. Autisten haben abweichende Leistungsprofile und Entwicklungsgeschwindigkeiten, die nicht mit denen von Nichtautisten zu vergleichen sind. Der autistische Mensch sollte bei einem Therapieangebot im Mittelpunkt stehen, nicht das Umfeld. Ihm sollte Hilfestellung in dieser nichtautistisch geprägten Welt gegeben werden. Das stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen, die nicht mit Druck und Zwang bewältigt werden sollten, sondern mit Geduld und Respekt.

Wenn man eine andere Wahrnehmung von sich und der Welt hat – und Autismus bringt aufgrund der Neurodiversität eine andere Wahrnehmung mit sich –, zeigt sich das in sehr vielen Dingen. Verhalten, Kommunikation, Reizverarbeitung und alltägliche Bedürfnisse sind damit von der Norm abweichend. Das muss jedem, der mit Autisten arbeitet, bewusst sein und in Therapien mit einbezogen werden.

Ich wünsche mir, dass Therapeuten Autisten auf Augenhöhe begegnen.

Welche Therapieangebote finden Sie sinnvoll? Wo wünschen Sie sich weitere Angebote bzw.Unterstützung?

Alltagsorientierte Ergotherapie und Logopädie werden von autistischen Menschen als sehr hilfreich wahrgenommen. Gerade die motorischen Fähigkeiten sind bei uns weniger gut ausgeprägt, eine Förderung dieser hilft uns im Alltag konkret weiter. TEACCH bietet, wenn es ohne Elemente des Zwangs angewandt wird, ebenfalls eine große Hilfestellung zur Alltagsbewältigung. Die Realität sieht hingegen weniger gut aus. KIT, IntraActPlus und Festhaltetherapie werden noch immer praktiziert, zurück bleiben traumatisierte autistische Kinder, über deren Willen und Autonomie sich zugunsten einer scheinbaren Hilfe hinweggesetzt wurde. Ein Verstehen des autistischen Seins ist bei den anwendenden Therapeuten absolut nicht gegeben.

Sie sagen, Sie möchten Autismus eine Stimme geben und bloggen deshalb über das Leben mit Autismus. Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden?

Weil ich die Notwendigkeit dazu sah. Es liegt in meiner Persönlichkeit begründet. Ich kann nicht aufgrund der Autismusdiagnose mein Leben ordnen, mich entwickeln, meine Lebensqualität steigern und mich dann zurücklehnen und das Ergebnis genießen. Ich würde mich immer fragen, warum nicht alle die Möglichkeit haben, mit Autismus zu einem guten, im Rahmen der individuellen Möglichkeiten selbstbestimmten Leben zu finden. Außerdem merkte ich schnell, dass verständliche, niedrigschwellige Aufklärung in meinem beruflichen und privaten Umfeld viele Probleme verhinderte oder beseitigte. Es baut viele Berührungsängste ab, wenn man weiß, warum Autisten sind, wie sie eben sind.

Niemand sollte um etwas bitten müssen, was ihm zusteht.

Was hat sich verändert, seit Sie in der Öffentlichkeit stehen?

Die Frage ist unklar formuliert. Meinen Sie für mich oder für andere? Ich selbst bin unendlich viel reicher an Erfahrungen, positiver wie negativer Art, und ich weiß, dass die Selbstvertretung autistischer Menschen enorm wichtig ist. Nur wir können vermitteln, was Autismus ist, wie man damit lebt und was man braucht bzw. nicht will. Die gesellschaftliche Veränderung ist in einem so kurzen Zeitraum nicht zu erfassen. Die Aufklärung über die missbräuchliche Therapie ABA trägt erste Früchte, und es findet in Zukunft hoffentlich ein Umdenken in Sachen Autismus statt. Doch das sind nur Hoffnungen.

In welchen Bereichen sind Ihrer Erfahrung nach Menschen mit Autismus ausgegrenzt? Wie könnte es gelingen, ihnen mehr Teilhabemöglichkeiten zu geben? Welche konkreten Verbesserungen würden Sie sich wünschen?

Ausgrenzungen finden in jedem Lebensbereich statt. Viele unauffällige Autisten sind erwerbslos, trotz oft sehr guter Ausbildung. Bereits in der Kindheit diagnostizierten Autisten wird immer wieder eine vernünftige Ausbildung verwehrt, sie enden in Förderschulen, ohne Perspektive, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und anzuwenden. Mobbing, Misshandlungen sowie Diskriminierung sind an der Tagesordnung, bei Kindern wie auch bei Erwachsenen. Wie wir das ändern können? Mit einem klaren Umdenken! Jeder Mensch ist von Wert, egal woher er kommt, was er glaubt, wie er lebt und welche Behinderung er hat. Niemand sollte sich anmaßen, über Menschen aufgrund ihres Seins zu urteilen. Allen Menschen sollten die gleichen Möglichkeiten offenstehen. Doch so funktioniert unsere Gesellschaft nicht. Wir sind Schubladendenker, die zu oft ihren eigenen Wert über das Abwerten anderer steigern wollen.

Sie bezeichnen sich selbst als unbequeme Autistin. Warum?

Weil ich genau die Punkte in den Fokus rücke, die schmerzen: Diskriminierung, fehlende Inklusion, schädliche Therapien sowie das Absprechen der Mündigkeit zum Beispiel. Hilfe, die keine Hilfe ist: scheinbare Inklusion, Mitleidsangebote. Und ich spreche sie klar und deutlich an und lasse mich dabei nicht auf faule Kompromisse ein. Ich sehe jeden Menschen, egal ob er eine Behinderung hat oder nicht, als gleichberechtigt, und ich möchte, dass es andere auch tun. Niemand sollte um etwas bitten müssen, was ihm zusteht.

Sie schreiben, Sie haben oft das Gefühl, sich für Ihren positiven Umgang mit dem Autismus rechtfertigen zu müssen. Warum ist das so?

Der Umgang mit Behinderung und dem Anderssein ganz allgemein ist sehr defizitorientiert. Ein positiver Umgang damit kommt vielen einem Affront gleich. Wie kann man nur glauben, mit einer Behinderung ein gutes Leben führen zu können? Dahinter steckt ein zutiefst veraltetes Weltbild, das auf Ungleichheit und Privilegien basiert. Menschen mit und ohne Behinderung wird dies von klein auf vermittelt, sodass sie es für sich verinnerlichen und reproduzieren.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, um die Welt für Menschen mit Autismus einfacher zu gestalten, welche wären das?

Respekt, Augenhöhe und Verständnis. Das würde uns wirklich weiterhelfen und alle Wege öffnen für Hilfen, Unterstützungen und ein gleichberechtigtes Leben.

Das Gespräch führte Marion Becker.

Auszug aus dem Buch „Verstörungstheorien“ von Marlies Hübner, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag

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Marlies Hübner ist 32 Jahre alt und lebt in Wien. Seit 2013 bloggt sie unter www.robotinabox.de über ihr Leben mit Autismus. 2016 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Verstörungstheorien“.
Abb.: M. Seitz

„Schon als kleines Kind habe ich mich gern unter Decken versteckt. Mein Bett war eine sichere Burg, in der ich mich vor allem verbergen konnte. Eine geschützte Höhle, in der Geräusche allenfalls gedämpft wahrnehmbar waren. Alles war ein bisschen dumpfer. Beinahe wirkte es, als wären Sinnesreize weichgezeichnet und auf ein erträgliches Maß heruntergeregelt.

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Die Decke war mein Filter, den ich zwischen mich und die Welt ziehen konnte, wenn ich sie kaum noch ertrug. Besonders gern hatte ich es, wenn meine Mutter mich ganz fest in die Decke einpackte, die losen Enden unter meinen Körper stopfte, bis ich mich nicht mehr bewegen konnte. Wie viel Geborgenheit mir diese Geste vermittelte, wie angenehm das Gefühl war, die Grenzen seines sonst kaum fühlbaren Körpers zu spüren.“

Kommunikation – Auf die Wortwahl kommt es an

Verschiedene Ausprägungen von Autismus werden häufig unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengefasst. Menschen mit Autismus, einige Wissenschaftler und Fachärzte, verwenden jedoch zunehmend den Begriff Autismusspektrum, weil „Störung“ bereits eine Wertung beinhaltet und die Vielfalt des Autismus auch ohne diesen Zusatz deutlich wird.

Genauso werden Menschen mit Autismus ungern in Kategorien wie „leicht“ oder „schwer“ eingeteilt, weil diese Einstufungen oft nur auf der Außensicht beruhen und nicht der Lebensrealität der betroffenen Person entsprechen.

Wenn es darum geht, zu beschreiben, ob sich Menschen mit Autismus, zumindest nach außen, verhältnismäßig gut in ihr Umfeld einfügen können oder nicht, sprechen sie selbst lieber von Auffälligkeiten.


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Abb.: M. Seitz
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Marlies Hübner ist 32 Jahre alt und lebt in Wien. Seit 2013 bloggt sie unter www.robotinabox.de über ihr Leben mit Autismus. 2016 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Verstörungstheorien“.
Abb.: M. Seitz
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