Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41(02): 65-66
DOI: 10.1055/s-0043-106389
Hören – Erkennen – Verstehen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Logopädische Intervention bei kombinierten neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen

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Publication Date:
07 June 2017 (online)

 

Mit steigendem Alter der Bevölkerung steigt die Zahl der Menschen mit neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen. Als Folge treten vermehrt komplexe Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen auf, die logopädische Therapie erforderlich machen.


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Allgemeines

Als Folge von neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfällen, Hirntumoren oder entzündlichen Gehirnerkrankungen und von neurodegenerativen Erkrankungen mit demenziellen Syndromen treten häufig Störungen der Sprache, des Sprechens und des Schluckens auf [1]. Störungen des Sprechens und der Sprache wirken sich auf die Lebensqualität und kommunikative Teilhabe der Patienten aus. Eine Schluckstörung kann zu Aspirationspneumonien, aber auch zur Unfähigkeit, sich oral zu ernähren, führen. Selbst leichte Dysphagien wirken sich durch häufige Hustenreize und Verschlucken auf die soziale Teilhabe während der Mahlzeiten aus [2]. Häufig treten die Symptome nicht isoliert, sondern in unterschiedlicher Kombination und mit unterschiedlichen Schweregraden auf, was für die Betroffenen, aber auch die Therapeuten eine besondere Herausforderung darstellt.


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Hörbeispiel

Im Hörbeispiel (Ausschnitt aus: Der Nordwind und die Sonne) hören Sie einen 86-jährigen Patienten, der nach mehreren lakuniären Infarkten im letzten Jahr zusätzlich vor 3 Monaten einen pontin-zerebellären Infarkt links und einen weiteren Infarkt temporo-occipital rechts erlitten hat. Logopädisch imponiert die schwere Dysarthrophonie [3] des Patienten. Erhebliche Probleme zeigen sich bei der Phonation, der Tonhaltedauer und der Artikulation. Nur durch erhebliches Pressen und sehr hohen Anblasdruck ist es dem Patienten möglich, einen Stimmlippenschluss und damit eine Stimmproduktion herbeizuführen. Als Folge des fehlenden Stimmlippenschlusses tritt zusätzlich eine erhebliche Atemproblematik auf. Eine prosodische Intonation des Sprechens ist dem Patienten nicht möglich. Die Artikulation des Patienten ist seit dem Schlaganfall und zusätzlich durch fehlende Zähne im Frontbereich des Oberkiefers sehr verwaschen. Die Oberkieferprothese wird seit dem letzten Infarkt nicht mehr getragen.

Der Patient ist nur noch sehr schwer bis gar nicht verständlich, weshalb er sich aus der Kommunikation mit seiner Familie, Freunden und Bekannten stark zurückgezogen hat. Auch Telefonieren ist ihm nicht mehr möglich. Seine soziale Teilhabe ist somit massiv eingeschränkt.

Gesicht-, Mund-, und Zungenmotorik sind seit dem Schlaganfall stark verlangsamt, wodurch ein adäquates Speichelmanagement und der Aufbau des intraoralen Druckes beim Schlucken stark erschwert werden. Der Patient leidet unter einer Dysphagie, mit einem Aspirationsrisiko (5 von 6 Prädiktoren nach Daniels [4]). Die Speichelpenetration [4] erschwert die Phonation zusätzlich, akustisch wahrnehmbar als brodelnder Stimmklang. In der Akutphase der Erkrankung entwickelten sich wiederholt Aspirationspneumonien. Die Dysphagie wurde mithilfe der fiberendoskopischen Evaluation des Schluckens [5] bestätigt.


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Therapeutische Intervention bei diesem Patienten

Im Fokus der Therapie steht die Eliminierung des Aspirationsrisikos durch die Behandlung der Dysphagie. Das Schlucken wird unter Zuhilfenahme der evidenzbasierten Schluckmanöver (Mendelsohn, Shaker und Masako [6–8]) trainiert. Zudem wird der Patient zur bewussten, kleinportionierten Nahrungsaufnahme angeleitet, um ein Verschlucken durch zu schnelles und zu hastiges Essen zu vermeiden. Zur Verbesserung der Mund-, Zungen- und Gesichtsmotilität sowie des Speichelmanagements werden Mobilisationstechniken nach Castillo Morales® sowie aus dem Bereich der PNF angewandt.

Um eine Verbesserung des Stimmklangs und daraus resultierend eine Erhöhung des Stimmgebrauchs im Alltag zu erreichen, werden mit dem Patienten Übungen aus dem Bereich der funktionalen Stimmtherapie [9] durchgeführt. Hinzu kommen im Laufe der Therapie Übungen zum Erreichen einer kontrollierten Bauchatmung und Artikulationsübungen [10].

Fazit

Mit steigendem Alter der Bevölkerung wächst die Zahl der multimorbid erkrankten Menschen. Dabei treten neurologische und neurodegenerative Erkrankungen zunehmend in Kombination auf und verlangen vom Therapeuten ein individuelles, aus unterschiedlichen Therapiekonzepten zusammengestelltes Vorgehen, das Elemente aus der Aphasietherapie, der Dysarthrie- und Stimmtherapie, der Dysphagietherapie, dem motorischen Training sowie der Therapie bei Demenz enthalten muss. Oberstes Ziel bleibt, dem Betroffenen die soziale Teilhabe weiter zu ermöglichen und seine Lebensqualität so weit wie möglich aufrechtzuerhalten.

Hanne Kah, B.Sc und Thomas Brauer, Mainz

Literatur

[1] Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Symptome: die Anzeichen erkennen und richtig Handeln. Im Internet: http://www.schlaganfall-hilfe.de/symptome; Stand: 17.01.2017

[2] Böhme G. Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. 4. Aufl. Urban & Fischer; 2003: 350

[3] Prosiegel M. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Neurogene Dysphagien. Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2014; 5

[4] Daniels SK, Ballo LA, Mahoney MC et al. Clinical predictors of dysphagia and aspiration risk: outcome measures in acute stroke patients. Arch Phys Med Rehabil 2000; 81: 1030–1033

[5] Mellies JK. Kley CH, Genten B et al. Die Fiberoptische Endoskopische Evaluation des Schluckens (FEES), eine wertvolle Methode zur Untersuchung von Dysphagiepatienten. Das Neurophysiologie-Labor 2009; 31: 135–157

[6] Jacob P, Kahrilas P, Logeman JA. Upper esophageal sphincter opening and modulation during swallowing. Gastroenterology 1989; 97: 1469-1478

[7] Shaker R, Easterling C, Kern M et al. Rehabilitation of swallowing by exercise in tube-fed patients with pharyngeal dysphagia secondary to abnormal UES opening. Gastroenterology 2002; 122: 1314–1321

[8] Fujiu M, Logemann JA. Effect of a tongue-holding maneuver on posterior wall movement during deglutition. Am J Speech Lang Pathol 1996; 5: 23–30

[9] Hammer S. Stimmtherapie mit Erwachsenen. 2. Aufl., Heidelberg: Springer; 2005: 168

[10] Wirth G. Stimmstörungen. 4. Aufl. Köln: Deutscher Ärzte Verlag; 1995: 199


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Audio: Kombinierte neurologische und neurodegenerative Erkrankung..
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