physiopraxis 2017; 15(06): 46-47
DOI: 10.1055/s-0043-108047
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Assessments bei Wachkoma – Feine Reaktionen wahrnehmen

Marion Huber

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Publication Date:
23 June 2017 (online)

 

Die Kontaktaufnahme zwischen Physiotherapeuten und Patienten erfolgt normalerweise über Sprache, Mimik und Gestik. Dieser Weg ist bei Menschen im Wachkoma nicht möglich, was besonderer Assessments bedarf.


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Prof. Dr. Marion Huber

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Prof. Dr. Marion Huber, MSc Psychologie, ist Dozentin und Modulverantwortliche an der ZHAW Gesundheit in der Schweiz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind schwerste Hirnverletzungen (Wachkoma) und damit einhergehend Informationsverarbeitung, Langzeitverlaufsbeobachtung und Skalenentwicklung. Gemeinsam mit Kollegen entwickelte sie das Basler Vegetative State Assessment (BAVESTA).

Laut der Diagnosekriterien für Wachkoma kann man mit diesen Patienten nicht kommunizieren. Die „Multi-Society Task Force on Persistent Vegetative State“ besagt, dass Menschen im Wachkoma kein Bewusstsein für sich oder ihre Umwelt haben. Sie haben ihre Kommunikationsfähigkeit vollkommen verloren [1] und zeigen keine willkürlichen oder als sinnvoll zu interpretierenden Verhaltensänderungen auf äußere Reize.

Kleinste Veränderungen erfassen

Die Praxis lehrt uns jedoch, dass Menschen im Wachkoma durchaus feine Reaktionen zeigen. Sei es, dass die Patienten fokussierter schauen, mehr oder weniger schwitzen, die Augen öffnen oder schließen oder sich ihr Tonus und ihre Atmung verändern. Der Mediziner Dr. Andreas Zieger nennt diese Reaktionen Körpersemantik [2]. Diese gilt es systematisch wahrzunehmen und zu erfassen, um mit Menschen im Wachkoma in den Dialog zu treten. Problematisch ist aber, dass die Körpersemantik schwer abzubilden ist und uns großen Spielraum für Interpretation lässt.

Um mit Menschen im Wachkoma in den Dialog zu treten, gilt es, feine Veränderungen systematisch wahrzunehmen und zu erfassen.


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Bodeneffekt durch niedrige Punktzahl

Es gibt viele Messinstrumente, die Therapeuten in der Rehabilitation von Menschen im Wachkoma einsetzen können: die Glasgow-Coma-Skala, die Koma-Remissions-Skala, der Frühreha-Barthel-Index, das Early Functional Ability Assessment oder das Functional Independence Measure (PHYSIOPRAXIS 3/06, S. 32) [3–6]. All diese Messinstrumente erfassen die Körpersemantik jedoch nicht systematisch, da sie entweder nur das Bewusstsein messen oder die Selbstständigkeit [7]. Zudem weisen sie zu grobe Abstufungen auf. Sie können Veränderungen bei sehr stark eingeschränkten Patienten nicht erfassen. So tritt bei Menschen im Wachkoma der Bodeneffekt auf – sie erhalten immer die niedrigste Punktezahl.


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Körpersemantik im Blick

Um speziell die Körpersemantik zu erfassen, entwickelte Dr. Andreas Zieger die Skala der expressiven Kommunikation und Selbstaktualisierung (SEKS). Die Psychologin Claudia Engel validierte sie 2002 im Rahmen ihrer Diplomarbeit. Sie beinhaltet Merkmale, die Zieger auf Basis von Patientenbeobachtungen formuliert hat, zum Beispiel vegetative und tonische Körpersignale, Augenreaktionen, Blickveränderungen, mimische Veränderungen, Eigenbewegungen, Gesten und Gebärden sowie Stimme und Sprache. Es gibt zwei Antwortmöglichkeiten (ja/nein). Somit ist das Messinstrument zwar einfach in der Handhabung, aber es braucht ein gewisses Training in der Beobachtung. In der Literatur weist die SEKS eine hohe Interrater- und Retest-Reliabilität auf [7]. Kritisch ist allerdings, dass die Validierung lediglich an 20 Patienten durchgeführt wurde [7]. Für eine valide Aussage bräuchte es mindestens 30 Patienten [8]. Zudem sind die effektiven Zahlenwerte schwer zugänglich und somit nur bedingt überprüfbar. Das Assessment ist interprofessionell anwendbar, steht im Internet frei zur Verfügung und ist selbsterklärend.

Ein international genutztes Messinstrument ist das Sensory Modality Assessment (SMART) [8]. Es weist eine hohe Interrater-Reliabilität auf. Die Validität zeigt sich in einem guten Bereich. Jedoch gibt es das SMART bisher nicht auf Deutsch. Anwender müssen ein einwöchiges Training absolvieren und die Technik erlernen.


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Das Basler Vegetative State Assessment

2008 haben meine Kollegen und ich ein weiteres Messinstrument für Wachkoma entwickelt: das Basler Vegetative State Assessment (BAVESTA) [10, 11]. Anhand einer Stichprobe mit 126 Menschen im Wachkoma haben wir es validiert. Wie die SEKS legt das BAVESTA den Fokus auf die feinen Verhaltenszeichen von Menschen im Wachkoma. Therapeuten können mit ihm vegetative, tonische, motorische, aber auch emotionale Reaktionen von Patienten erfassen. Das Assessment umfasst qualitative sowie sechsstufige quantitative Antwortmöglichkeiten. Die einzelnen Items sind direkt mit der ICF verbunden und mit den entsprechenden Codes versehen. Das BAVESTA weist eine hohe Interrater-Reliabilität, eine hohe interne Konsistenz und eine hohe konvergente Validität auf. Außerdem ist es möglich, zwischen Wachkoma, minimalem Bewusstseinszustand und anderen Bewusstseinsstörungen zu differenzieren. Das Assessment ist aktuell nur auf Anfrage bei uns als Excel-Version erhältlich (KONTAKT).

Marion Huber


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Kontakt – BAVESTA anfordern

Interessierte können das Basler Vegetative State Assessment (BAVESTA) bei der Autorin und Entwicklerin Prof. Dr. Marion Huber unter folgender E-Mail-Adresse anfragen: marion.huber@zhaw.ch .


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