physiopraxis 2017; 15(07/08): 22-27
DOI: 10.1055/s-0043-108052
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Gehirnerschütterungen – Unterschätzte Gefahr

Volker Sutor

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Publikationsdatum:
21. Juli 2017 (online)

 

Obwohl Gehirnerschütterungen sehr häufig vorkommen und bei wiederholtem Auftreten zu langfristigen Folgen führen können, werden sie oft unterschätzt. Selbst viele Sportphysiotherapeuten sind in der Diagnostik am Spielfeldrand noch unzureichend qualifiziert. Dabei können sie auf hilfreiche Werkzeuge wie das Concussion Recognition Tool (CRT) und die dritte Version des Sport Concussion Assessment Tools (SCAT 3) zurückgreifen.


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Volker Sutor

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Volker Sutor, MSc, ist Physiotherapeut, Sportlehrer, Inhaber zweier Therapiezentren und Mitbegründer des Fortbildungsanbieters FOMT (Fortbildungen für orthopädische Medizin und Manuelle Therapie, www.fomt.info). Da er regelmäßig Eishockeyspieler betreut, hat er sich intensiv mit dem Thema Gehirnerschütterung auseinandergesetzt.

2014 erlitt der deutsche Fußballnationalspieler Christoph Kramer im WM-Finale eine Gehirnerschütterung (Commotio cerebri; engl.: concussion). Die Schulter eines Gegenspielers traf ihn hart im Gesicht, und er ging bewusstlos zu Boden. Nachdem er den Schiedsrichter unsicher fragte, ob er hier im WM-Finale sei, war klar: Es ist Zeit für eine Auswechslung. Bereits abends zeigte Kramer keinerlei Symptome mehr. Geschichten, wie diese sind die gängigen, wenn man an Gehirnerschütterungen denkt. Was aber passiert, wenn sich diese Ereignisse häufen, griff 2016 der Kinofilm „Erschütternde Wahrheit“ (Originaltitel: „Concussion“) mit dem bekannten Schauspieler Will Smith auf. Der Film erzählt die autobiografische Geschichte des forensischen Pathologen Dr. Bennet Omalu. Dieser hatte die Gehirne zweier bekannter American-Football-Profis nach ihrem Tod untersucht und Hinweise auf massive Neurodegenerationen durch multiple Gehirnerschütterungen festgestellt. Man spricht in diesem Fall von einer chronisch-traumatischen Enzephalopathie (CTE), wie auch Boxlegende Muhammad Ali sie hatte. Durch die traumatisch ausgelösten Mikroblutungen im Gehirn lagern sich Tau-Proteine ab (Tauopathien), die Gehirnzellen absterben lassen und Atrophien des Gehirns verursachen können [1, 2]. Seither gewinnt das Thema in der Öffentlichkeit vermehrt an Bedeutung, und besonders der Aspekt des CTE wird in der Fachöffentlichkeit kontrovers diskutiert.

Oft bagatellisiert

Die Gehirnerschütterung ist die leichteste und häufigste Form eines Schädel-Hirn-Traumas. Da sie meist weder im CT noch im MRT sichtbar gemacht werden kann, wird sie oft bagatellisiert und unstrukturiert oder gar nicht therapiert. Lebensgefährlich ist eine Gehirnerschütterung primär nicht, da weder eine Hirnschwellung noch -blutung entsteht. Erst ein wiederholtes Trauma kann zum Second Impact Syndrome (SIS) führen. Hierbei kann es innerhalb weniger Minuten zu weitreichenden Folgen bis hin zur späteren Berufsunfähigkeit und zu dauerhaften kognitiven und physischen Einschränkungen kommen [3–6].

Am häufigsten entstehen Gehirnerschütterungen beim Sport, bei Stürzen, Verkehrsunfällen und Kampfhandlungen von Soldaten [7, 8]. Dabei ist in circa 20 Prozent der Fälle Alkohol im Spiel [8]. Körperbetonte Sportarten gelten als häufigste Ursache – vor allem American Football, Rugby, Eishockey, Fußball und Basketball [8–10]. Genaue Zahlen für Deutschland gibt es nicht. Man geht davon aus, dass Notaufnahmen jährlich 40.000 bis 120.000 Personen behandeln – Tendenz steigend. Ob dies nur an der vermehrten Diagnostik und Aufmerksamkeit liegt oder andere Gründe hat, ist unklar.


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Veranderte Hirnfunktion

Der australische Neurologe und Sportmediziner Paul McCrory hat sich auf Gehirnerschütterungen spezialisiert. Er definiert sie als eine Veränderung der Hirnfunktion, ausgelöst durch eine biomechanische Kraft, die direkt oder indirekt auf den Kopf einwirkte [11]. Diese Kraft leitet einen komplexen pathophysiologischen Prozess im Gehirn ein, der zu einer meist kurzen, selten auch zu einer länger anhaltenden neurologischen Störung und/oder kognitiven Funktionsbeeinträchtigung führen kann [11]. Die Beeinträchtigungen können sofort, erst auf Nachfrage, bei einer Untersuchung und mit zeitlicher Verzögerung erkennbar sein. Eine Bewusstlosigkeit kann, muss aber nicht vorliegen, und es kommt zu kognitiven, physischen und emotionalen Symptomen ([TAB.], S. 23), die meist von alleine wieder verschwinden [10].

TAB. Die häufigsten Symptome einer Gehirnerschütterung

Kognitive Symptome

Physische Symptome

Emotionale Symptome

Schlafprobleme

  • Verlangsamung

  • Merkfähigkeits- und Konzentrationsprobleme

  • Schwierigkeiten, klar zu denken

  • Bewusstlosigkeit

  • Kopfschmerz, Schwindel, Gleichgewichtsprobleme

  • Visusbeeinträchtigung

  • Übelkeit, Erbrechen

  • Ohrgeräusche, Licht- und Geräuschempfindlichkeit

  • Müdigkeit, Energielosigkeit

  • Traurigkeit

  • verstärkte Emotionalität

  • emotionale Irritierbarkeit

  • Angst, Nervosität

  • vermehrtes oder verringertes Schlafen

  • Einschlafprobleme

  • Schläfrigkeit

Quelle: Harmon KG, Drezner J, Gammons M et al. American Medical Society for Sports Medicine position statement: concussion in sport. Clin J Sport Med 2013; 23: 1–18

Auszug aus dem Concussion Recognition Tool (CRT) –

Hilfreiche Fragen

  • „An welchem Spielort sind wir heute?“

  • „Welche Halbzeit ist jetzt?“

  • „Wer hat in diesem Spiel das letzte Tor erzielt?“

  • „Gegen welches Team hast du im letzten Spiel gespielt?“

  • „Hat deine Mannschaft das letzte Spiel gewonnen?“

Warnzeichen

Nackenbeschwerden, wiederholtes Erbrechen, Verschlechterung des Bewusstseinszustandes, zunehmende Verwirrtheit/Reizbarkeit, Krampfanfälle, schwere oder zunehmende Kopfschmerzen, Schwäche oder Brennen/Kribbeln in Armen oder Beinen, Doppelbilder, ungewöhnliche Verhaltensänderungen

  • Bei jedem dieser Warnzeichen ist der Spieler umgehend aus dem Spiel zu nehmen und eine medizinische Fachperson ist hinzuzuziehen.


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Jedes Trauma ist anders

Seit den 1970er Jahren versuchen Wissenschaftler durch Untersuchungen an Tieren, Menschen und Modellen, biomechanische Erklärungsmodelle für eine Gehirnerschütterung zu schaffen [12]. Problematisch bleibt aber bis heute, dass sich die einzelnen Traumata nicht miteinander vergleichen lassen. Jede Verletzung ist aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeit, Ausgangsstellung des Körpers bzw. des Kopfes, Richtung und Größe der einwirkenden Kraft auf den Kopf, Voraktivierung der Halsmuskulatur und anderer Faktoren individuell ([ABB. 1]). Durch die direkt oder indirekt einwirkende Kraft auf das Gehirn kommt es bei heftigen Stößen zu einer sogenannten Coup-Contrecoup-Verletzung ([ABB. 2]). Als Coup (französisch: Schlag) wird die direkte Verletzung des Kopfes bezeichnet. Der Contrecoup ist die Rückschlagbewegung des Gehirns auf der Gegenseite. Oft ist diese Verletzung stärker als die eigentliche primäre Stoßverletzung.

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ABB. 1 Der Klassiker: Zwei Sportler prallen so stark aufeinander, dass einer oder beide eine Gehirnerschütterung erleiden können.
Abb.: Herbert Kratky/shutterstock.com
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ABB. 2 Bei der Coup-Contrecoup-Verletzung entstehen sowohl an der Einschlagsseite als auch auf der gegenüberliegenden Seite Gehirnschäden.
Abb.: bilderzwerg/fotolia.com

Wichtig ist zudem, wie sich die von außen eingebrachte mechanische Energie auf das Gehirn übertragt [13]. Bei einer diffusen axonalen Verletzung durch Scherkräfte ([ABB. 4]) reißen zunächst oft unbemerkt Axone mit oder ohne Zellkernbeteiligung. Der veränderte axonale Transport und die Schwellung führen zu erhöhtem Hirndruck mit Durchblutungsstörungen. Dies kann Wochen und Monate später die Degeneration von Nervenbahnen zur Folge haben [14–16].

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ABB. 4 Bei einer diffusen axonalen Verletzung kann ein Axon mit oder ohne Zellkernbeteiligung absterben.
Abb.: Anzai Y, Tozer-Fink KR. Imaging of Traumatic Brain Injury 2015; 1st Edition

Gehirnerschütterungen verändern die Art und Weise, wie das Gehirn arbeitet.
Paul McCrory

Bei schnell einwirkenden Scherkräften kann sich das Hirngewebe insgesamt verformen [13], was wiederum die Hirnaktivität verändert und Nervenzellkörper, Axone, Dendriten, Gliazellen und Blutgefäße verletzt. Das bewirkt eine neurale Depolarisation, die Ausschüttung von erregenden Neurotransmittern, eine veränderte Durchblutung und Nervenfunktion sowie andere metabolische Anpassungen – die Gehirnfunktion ist massiv gestört [17]. Bemerkbar macht sich das beispielsweise beim Glukosestoffwechsel, der zuerst rapide ansteigt, um dann nach circa 12–24 Stunden unter das normale Maß zu fallen ([ABB. 3]). Erst nach 7–10 Tagen kehrt er wieder auf den Ursprungswert zurück [18]. Auch die anderen Veränderungen können über Stunden, Tage und Wochen anhalten und zu den oben genannten Symptomen führen, die durchaus längere Zeit anhalten können.

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ABB. 3 Neurometabolische Kaskade nach einer Gehirnerschütterung (K+: Kalium, Ca2+: Calcium, CMR glucose: zerebraler Glukosestoffwechsel, CBF: zerebrale Durchblutung, glutamate: Glutamat, lactate: Laktat)
Abb.: Leddy JJ, Sandhu H, Sodhi V et al. Rehabilitation of Concussion and Post-concussion Syndrome. Sports Health 2012; 4: 147–54

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Symptome sind nicht spezifisch

Grundsätzlich gilt der Kopfschmerz als häufigstes Symptom einer Gehirnerschütterung, gefolgt von Schwindel. Das Bewusstsein verlieren nur circa zehn Prozent der Patienten. Ansonsten können die Zeichen für eine Gehirnerschütterung (TAB., S. 23) durchaus vielfältig [10, 11, 19, 20] und nicht spezifisch sein [10]. Dies erschwert die Diagnostik. Denn viele Symptome können schon vorher existiert haben oder Zeichen einer anderen Problematik wie Depression oder Gastroenteritis sein [10, 21]. Eine Untersuchung an Collegesportlern in den USA zeigte beispielsweise, dass circa 60 Prozent der Untersuchten Symptome aus der Tabelle aufwiesen ohne, dass sie vorher ein Kopftrauma erlitten hatten [22]. Grundsätzlich ist es daher insbesondere bei Profisportlern sinnvoll, wenn Therapeuten zu Saisonbeginn alle möglicherweise auftretenden Symptome standardisiert abfragen. So haben sie nach einem Trauma hilfreiche Vergleichswerte.


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Eine klinische Diagnose

Grundsätzlich ist die Gehirnerschütterung eine klinische Diagnose und in gängigen bildgebenden Verfahren und anhand von Laborwerten meist nicht erkennbar [10, 23]. Zwar können die diffusionsgewichtete Magnetresonanztomografie (DW-MRT) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) Veränderungen im Gehirn nachweisen [24, 25], da sie aber sehr teuer sind, eignen sie sich nicht als Standarddiagnostik bei Verdacht auf eine Gehirnerschütterung.

Für Therapeuten ist es bedeutend, am Spielfeldrand eine Gehirnerschütterung zu erkennen und vor allem im Notfall adäquat zu handeln. Daher sollten sie die zwei wichtigsten Assessments für dieses Krankheitsbild kennen: das Concussion Recognition Tool (CRT) und das Sport Concussion Assessment Tool – Third Edition (SCAT 3). Beide enthalten die wichtigsten Hinweise auf eine Gehirnerschütterung, die der Therapeut als Erstes prüfen sollte:

  • Gibt es einen Bewusstseinsverlust? (Wenn ja, wie lange?)

  • Sind Gleichgewicht oder Motorik gestört oder verlangsamt?

  • Liegt eine Orientierungslosigkeit oder Verwirrtheit vor?

  • Gibt es einen Gedächtnisverlust? (Wenn ja, wie lange?)

  • Hat die Person einen benommenen, leeren oder ausdruckslosen Blick?

  • Gibt es eine sichtbare Verletzung im Gesicht in Kombination mit einer der oben genannten Auffälligkeiten?

Zusätzlich sollte der Therapeut die Indikationen für eine sofortige Einweisung in die Klinik beachten:

  • Glasgow-Koma-Skala unter 15 Punkten

  • Verschlechterung des mentalen Zustands

  • mögliche Verletzung der Wirbelsäule

  • progressive Verschlechterung der Symptome

  • Neuauftreten von neurologischen Zeichen

Ein
Pre-Injury Testing
zu Saisonbeginn hilft, Veränderungen nach einem Trauma besser einschätzen zu können.

Links

Concussion Recognition Tool (Taschenkarte)
www.dfb.de/fileadmin/_dfbdam/130132-LSHT_taschenkarte.pdf

SCAT 3 und Child-SCAT 3
www.schuetzdeinenkopf.de/LSHT_handouts/LSHT_publikationsliste/LSHT_flyer_mediziner

Evidenzbasierte Infos der australischen Sportkommission
www.concussioninsport.gov.au

Alle Infos für den Spielfeldrand von der Hannelore Kohl Stiftung
www.schuetzdeinenkopf.de


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CRT: Taschenkarte für jedermann

Mithilfe des CRT lassen sich Gehirnerschütterungen bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern erkennen [11]. Seinen Einsatz unterstützen beispielsweise die FIFA und die Internationale Handballföderation IHF. Ziel der sehr einfach gehaltenen DIN-A4-Taschenkarte ist es, auch nicht medizinisch geschulten Personen Sicherheit im Erkennen von Gehirnerschütterungen zu geben (AUSZUG AUS DEM CRT, S. 24). Sollten Ersthelfer einen oder mehrere Hinweise für eine Gehirnerschütterung finden, müssen sie den Sportler umgehend aus dem Spiel oder Training nehmen und dürfen ihn nicht ohne medizinische Untersuchung wieder zur Aktivität zurückkehren lassen. Da besonders im Training nicht immer ein Physiotherapeut anwesend ist, ist es sinnvoll, dass Therapeuten den Trainer und die Spieler mit dem CRT vertraut machen. Die Taschenkarte gibt es beispielsweise zum kostenfreien Download auf den Internetseiten des DFB (LINKS)


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SCAT 3: Testreihe für Geschulte

Das SCAT 3 stellte Paul McCrory 2012 auf der vierten internationalen Konferenz für Gehirnerschütterungen im Sport vor [11]. Seitdem gilt dieser Untersuchungsgang als Standard für die Beurteilung einer Gehirnerschütterung bei verletzten Sportlern ab dem 13. Lebensjahr. Für Kinder zwischen 5 und 12 Jahren gibt es eine adaptierte Version, das Child-SCAT 3 [26, 27]. Der Therapeut sollte sich für die Nutzung des SCAT 3 schulen lassen, auch wenn er für die Akutdiagnostik am Spielfeldrand nur einen Teil dieses Assessments nutzt. Erst wenn der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung besteht, sollte er die komplette Diagnostik durchführen, um den Verlauf besser beurteilen zu können. Wie oben erwähnt, erhebt er optimalerweise bei jedem betreuten Sportler zu Beginn der Saison einen Status, um Veränderungen nach einem Trauma besser einordnen zu können (Pre-Injury Testing).

Das aus acht Abschnitten und zusätzlichen Fragen bestehende SCAT 3 untersucht klinische Symptome und Zeichen sowie die kognitive und physische Leistungsfähigkeit. Es beginnt mit einer Erklärung, was das Tool erreichen will und was eine Gehirnerschütterung ist. Danach beschreibt es die Indikationen für ein Notfallmanagement und die sechs oben genannten Zeichen, die auf eine Gehirnerschütterung hinweisen. Im Anschluss füllt der Therapeut die Glasgow-Koma-Skala (GKS) aus. Diese beurteilt die Reaktion der Augen und testet die verbalen und motorischen Reaktionen. Dabei beurteilt der Tester jeweils die beste Reaktion. Bei völlig normalen Reaktionen erreicht der Sportler bestenfalls 15 Punkte. Nach der GKS folgen fünf Fragen (zum Spielort, zur Halbzeit, dem letzten Tor, dem Gegner und zum vorherigen Spiel), die der Sportler mit Ja oder Nein beantworten muss. Für jede richtige Antwort vergibt der Therapeut einen Punkt. Beantwortet der Spieler eine Frage falsch, ist er sofort aus dem Spiel zu nehmen. Im weiteren Verlauf soll der Sportler ein paar Fragen zu seinem Hintergrund beantworten, die vor allem für die Langzeitdokumentation bedeutend sind und die verhindern sollen, dass multiple Gehirnerschütterungen zu nicht erkannten Folgeschäden führen. Dann folgt die Selbsteinschätzung von 22 Symptomen, die man frühestens zehn Minuten nach dem Sport abfragt. Der Sportler kann Punkte von 0 (kein) bis 6 (stark) verteilen.

Im vierten Teil prüft der Therapeut das Kurzzeitgedächtnis mittels des SAC (= Standardized Assessment of Concussion), die Konzentration sowie die Orientierung. Zu allen drei Teilen gibt es standardisierte Sätze, die er dem Sportler als Erklärung vorliest.

In den folgenden Teilen wird es dann klassisch therapeutisch: Der Therapeut notiert Bewegungsumfang und Druckdolenz an der HWS, Sensibilität und Kraft der oberen und unteren Extremitäten und bestimmt das Gleichgewicht mit einer modifizierten Version des Balance Error Scoring Systems (BESS) und/oder den Tandemgang. Es folgen der Finger-Nase-Versuch und die Beurteilung des Langzeitgedächtnisses. Der Sportler soll sich dafür an die Fragen vom SAC-Test erinnern.

Das Risiko, eine Gehirnerschütterung zu erleiden, erhöht sich, wenn vorher schon eine vorhanden war.


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Physische und kognitive Anstrengung vermeiden

Nach einer Gehirnerschütterung erholen sich 70–90 Prozent der Betroffenen innerhalb von sieben bis zehn Tagen komplett [10, 11, 28], wobei Kinder und Jugendliche häufig längere Genesungszeiten brauchen [10]. Bis die akuten Symptome verschwunden sind, sollten die Sportler jegliche physische und kognitive Anstrengung vermeiden. Im Anschluss kann der Therapeut sie mithilfe eines Stufenprogramms betreuen (AUSZUG AUS DEM SCAT 3) [11, 29–31]. Reicht dies nicht aus, kann er zusätzlich auf Basis des Befunds vestibuläres, zervikales oder Gleichgewichtstraining einsetzen [32–36]. Ob er damit allerdings die Remission unterstützt oder nur aktuelle Probleme reduziert, ist derzeit noch unklar.


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Fazit: Gehirnerschütterungen ernst nehmen

Grundsätzlich können Physiotherapeuten helfen, langfristige Folgen einer Gehirnerschütterung zu reduzieren. Sie sollten sich mit dem Stufenprogramm zur Rückführung in den Sport auskennen und für die Minimaldiagnostik das CRT kennen oder besser noch das SCAT 3 beherrschen. Wer Profisportler betreut, sollte routinemäßig das SCAT 3 vor der Saison durchführen, um vorab vorliegende Symptome zu identifizieren.

Volker Sutor


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Auszug aus dem SCAT 3 – Stufentherapie „Return to Sport/Play“

Cave: Vor Beginn des Stufenprogramms sollte der Sportler keine Medikamente einnehmen, welche die Symptome einer Gehirnerschütterung verdecken können. Jede Stufe benötigt mindestens 24 Stunden. Zeigt der Patient in einer der Stufen Symptome einer Gehirnerschütterung, muss die Aktivität sofort gestoppt werden. Erst 24 bis 48 Stunden danach darf er die Aktivitäten aus der vorherigen Stufe wiederaufnehmen.

  • Stufe 1: Keine Aktivität. Körperliche und geistige Ruhe bis zur Symptomfreiheit.

  • Stufe 2: Leichte aerobe Aktivität. Es eignen sich Walking, Schwimmen oder Fahrradergometer fahren (< 70 % der maximalen Herzfrequenz, 15 Minuten Belastungszeit).

  • Stufe 3: Sportartspezifische Übungen wie Sprints, Skating etc. Die Belastung findet noch ohne Körperkontakt statt (< 80 % der maximalen Herzfrequenz, 45 Minuten Belastungszeit).

  • Stufe 4: Wiederaufnahme des Trainings – ohne Körperkontakt. Steigerung der Übungskomplexität (< 90 % der maximalen Herzfrequenz, 60 Minuten Belastungszeit). Aufnahme des Trainings mit einem Arzt abklären.

  • Stufe 5: Volle sportliche Belastung – mit Körperkontakt. Aufnahme des Körperkontakts im Training mit einem Arzt abklären.

  • Stufe 6: Volle sportliche Belastung inklusive Wettkampf. Vor der Aufnahme von Wettkämpfen muss eine Freigabe des Arztes vorliegen.

Quelle: McCrory et al. Br J Sports Med 2013; 47(5): 250–8


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ABB. 1 Der Klassiker: Zwei Sportler prallen so stark aufeinander, dass einer oder beide eine Gehirnerschütterung erleiden können.
Abb.: Herbert Kratky/shutterstock.com
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ABB. 2 Bei der Coup-Contrecoup-Verletzung entstehen sowohl an der Einschlagsseite als auch auf der gegenüberliegenden Seite Gehirnschäden.
Abb.: bilderzwerg/fotolia.com
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ABB. 4 Bei einer diffusen axonalen Verletzung kann ein Axon mit oder ohne Zellkernbeteiligung absterben.
Abb.: Anzai Y, Tozer-Fink KR. Imaging of Traumatic Brain Injury 2015; 1st Edition
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ABB. 3 Neurometabolische Kaskade nach einer Gehirnerschütterung (K+: Kalium, Ca2+: Calcium, CMR glucose: zerebraler Glukosestoffwechsel, CBF: zerebrale Durchblutung, glutamate: Glutamat, lactate: Laktat)
Abb.: Leddy JJ, Sandhu H, Sodhi V et al. Rehabilitation of Concussion and Post-concussion Syndrome. Sports Health 2012; 4: 147–54