NOTARZT 2017; 33(05): 224-241
DOI: 10.1055/s-0043-117554
CME-Fortbildung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Notfall Psyche – Diagnostik und Krisenintervention in der Präklinik

Psychiatric Emergency – Diagnostics and Primary Crisis Intervention in the Prehospital Setting
Wolfgang Jordan
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Wolfgang Jordan, MBA, MIM
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinikum Magdeburg gGmbH
Birkenallee 34
39130 Magdeburg

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. Oktober 2017 (online)

 

Zusammenfassung

Der psychiatrische Notfall gehört zu den häufigsten Einsatzursachen für Notärzte. Der Beitrag bietet einen Leitfaden zum Umgang mit Menschen in seelischer Not: von der Orientierung im Notfallgeschehen über eine Zusammenstellung der häufigsten Krankheitsbilder, die Vorstellung spezieller Techniken zur Krisenintervention bis hin zu pharmakologischen Aspekten.


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Abstract

Psychological and psychiatric crisis situations belong to the most frequent physicianʼs emergencies. Psychiatric emergencies can be related to only few syndromes, i.e. agitation, delirium, acute suicidal tendency, stupor or consciousness disorder. Procedures for medical clearing in psychiatric emergencies have to consider the actual situation, locality, and the individual disturbance patterns. About it, the personal safety cannot be emphasized too strongly. The proposed procedure is disorder-specific, that concludes the communicative skills of emergency staff being the most important tool of primary crisis intervention. Diagnostic summaries and helpful strategies are described in different emergency settings, illustrated by vivid examples. Emergency medication often can be limited to only few psychopharmacological agents such as lorazepam and haloperidol.


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Abkürzungen

COPD: chronisch obstruktive Lungenerkrankung
EPMS: extrapyramidalmotorische Störung
LSD: Lysergsäurediethylamid
MAOH: Monoaminoxidasehemmer
MDA: 3,4-Methylendioxyamphetamin (Eve)
MDMA: 3,4-Methylendioxymetamphetamin (Ecstasy)
NaSSA: noradrenerg/spezifisch serotonerges Antidepressivum mit α2-Adrenozeptor-antagonistischer Wirkung
PsychKG: Psychisch-Kranken-Gesetz
SSNRI: selektiver Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer
SSRI: selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer
TZA: trizyklisches Antidepressivum
TZ-NL: trizyklisches Neuroleptikum
ZNS: zentrales Nervensystem
 

Einleitung

Psychiatrische Notfälle sind in der präklinischen Notfallmedizin so häufig wie traumatologische und neurologische Notfälle. Sie gehören mit 10 – 15% zu den häufigsten Einsatzursachen für den Notarzt [1], [2].

Der Notfall „Psyche“ ist allgegenwärtig. Er findet sich bei

  • psychischen oder psychiatrischen Störungen,

  • psychischen Ausnahmereaktionen auf belastend empfundene Lebensereignisse, u. a. Schicksalsschläge,

  • oder als extreme psychische Begleitreaktion bei akut einsetzenden körperlichen Beeinträchtigungen im eigenen oder im Erleben emotional nahestehender Dritter wie z. B.

    • Apoplex,

    • Angina pectoris,

    • Dyspnoe,

    • Asthmaanfall,

    • Koliken,

    • Harnverhalt,

    • Glaukomanfall,

    • Verbrennungen,

    • Frakturen.

Merke

Der Ersthelfer ist in jeder Notfallsituation gefordert, somatische und psychische Belange gleichzeitig zu erfassen, zu bewerten und sein weiteres Vorgehen darauf abzustimmen. Ansonsten besteht die Gefahr einer wechselseitigen Verstärkung, einer Kollusion, die jede Krise zur Eskalation bringen kann.

Psychiatrische Notfälle stellen für die im Rettungsdienst Tätigen selbst eine schwere psychische Belastung dar [3], [4]. Das eigene Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Depression beträgt rund 10%, wobei eine vorbestehende psychiatrische Störung das Risiko um das 5- bis 6-Fache erhöht [5]. Die Beachtung und Anwendung spezifischer Techniken trägt zum Selbstschutz bei [6].

Lernziele

Nach dem Lesen des Beitrags haben Sie Kenntnisse

  • zur Methodik der psychiatrischen Notfall- und Krisenintervention,

  • zur Diagnosestellung psychiatrischer Notfälle,

  • zur Notfallpsychopharmakologie,

  • zu den wichtigsten Syndromen psychiatrischer Notfälle,

  • einschließlich der zugehörigen Krisenintervention.


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Allgemeine Notfallpsychiatrie

Methodik der psychiatrischen Notfall- und Krisenintervention

Psychiatrisch-psychotherapeutische Notfälle können mit Selbst- und/oder Fremdgefährdung einhergehen, was bei einem professionellen Vorgehen unbedingt zu berücksichtigen ist. Vor dem ersten Kontakt sollte eine Risikoabschätzung vorgenommen werden:

Wie wurde das Krisengeschehen über die Rettungskette an die Rettungskräfte herangetragen?

Aus der Beantwortung der Frage lassen sich mögliche Rückschlüsse auf die mit dem Störungsbild verbundene Psychodynamik und Beziehungsgestaltung zum sozialen Umfeld ziehen. Je akuter eine krisenhafte Entwicklung stattgefunden hat, umso höher sollte das Fremdgefährdungspotenzial eingeschätzt werden. Das Hinzuziehen Professioneller ist als Zeichen einer Eskalation zu bewerten, nachdem die stützenden Maßnahmen im sozialen Umfeld nicht mehr gegriffen haben [6]. Gibt es ein Netzwerk zuverlässiger, erreichbarer, wertschätzender und hilfsbereiter Personen, auf die als stabilisierende Ressource zurückgegriffen werden kann? Oder ist eher mit einer Verschlimmerung der Situation zu rechnen, weil ein möglicher Gesprächspartner direkt in der auslösenden Situation involviert war oder ein Eigeninteresse an einer krisenhaften Zuspitzung hat? Bei den vorgesehenen Gesprächspartnern ist eine ausreichende Motivation, Belastbarkeit und Kommunikationsfähigkeit zu prüfen [6].


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Fremdinformationen eruierbar?

Gibt es Fremdinformationen zu dem Betroffenen, zu beteiligten Personen, zu dem Ablauf des Geschehens, zu der aufzusuchenden Örtlichkeit?

Gegebenenfalls lassen sich zufällig anwesende Dritte schnell befragen. Mit dem Betreten der Örtlichkeit der Krisenintervention, z. B. der Wohnung des Betroffenen, sollten Umfeldinformationen aus der Sichtung der Zimmer, insbesondere eigener Platz, Bett, Nachttisch, persönliche Bilder, Bücher, Fotos, Medikamente, Drogenutensilien usw., Berücksichtigung finden [6]. Gibt es Hinweise auf abgelaufene Gewalt, z. B. verängstigte Personen oder eine beschädigte Einrichtung?

Merke

Die Rahmenbedingungen bestimmen das Vorgehen im Notfall.

Seelische Notzustände können viele Ursachen haben. Trotzdem lassen sich häufig einheitliche Reaktionsformen oder Muster erkennen [6] (s. Infobox).

Übersicht

Reaktionsformen/-muster im Verhalten bei psychiatrischen Notfällen

  • depressive oder missmutig-aggressive Stimmung, Affektlabilität mit anlassbedingtem schnellem Stimmungswechsel, psychomotorisches und vegetatives Hyperarousal

  • Einengung der Wahrnehmung auf die Themen Kränkung und Verlust, Schwarz-Weiß-Denken, interne Kommunikationsstörung mit nachfolgender Missdeutung der beteiligten Kommunikationspartner

  • starres Rollenverhalten, Einnahme einer Patientenrolle, unflexibles Problemlöseverhalten

  • sozialer Rückzug und/oder Rückzug des sozialen Umfeldes


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Rahmenbedingungen

Die Beziehungsgestaltung und das Arrangement des Settings hängen von den krisen- und krankheitsbedingten Erfordernissen ab. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen der psychischen Störung Veränderungen eingetreten sein können betreffend

  • die Bewusstseinslage (quantitativ und qualitativ),

  • das Orientierungsvermögen (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person),

  • die Aufmerksamkeit,

  • die Konzentration, Ablenkbarkeit, Merkfähigkeit,

  • das formale Denken (Störungen des Gedankenablaufs, z. B. Verlangsamung, Hemmung, Einengung, Umständlichkeit, Weitschweifigkeit, Ideenflucht, Zerfahrenheit),

  • das inhaltliche Denken (z. B. Wahn),

  • Affekte,

  • Psychomotorik;

  • oder die Betroffenen können im paranoid-halluzinatorischen Erleben befangen sein.

Die Örtlichkeit der Krisenintervention, z. B. ein bestimmtes Zimmer in einer Wohnung, ist entsprechend der vorbekannten, ersichtlichen oder zu erwartenden Beeinträchtigung auszuwählen und ggf. an die Erfordernisse anzupassen.

Praktischer Hinweis

Dabei hat die Berücksichtigung der persönlichen Sicherheit die höchste Priorität. Gibt es eine Fluchtmöglichkeit, kann schnell Hilfe gerufen werden, befinden sich gefährliche Gegenstände im Raum oder in unmittelbarer Nähe des Betroffenen (z. B. Messer, Brieföffner, Schere, Glasflasche, Stuhl usw.), die als Waffe verwendet werden können?

Merke

Immer auf die persönliche Sicherheit achten!

Durch die Anordnung der Sitzmöglichkeiten und Ausrichtung der Blickrichtung kann eine Privatsphäre geschaffen, eine Reizabschirmung vorgenommen und eine Fokussierung auf den Behandler vereinfacht werden. Die genannten Maßnahmen mögen seltsam erscheinen, tragen aber zu einer Verbesserung des Beziehungsaufbaus und der -gestaltung bei.

Ein ausreichendes Zeitmanagement sichert dem Behandler die innere Gelassenheit und führt zur Beruhigung der Krisensituation. Seine primäre Aufgabe im Erstkontakt besteht darin, die Situation zu klären und – falls erforderlich – den Hilfesuchenden sicher zur weiterführenden Therapie zu bringen. Es ist nicht Aufgabe im Erstkontakt, die Probleme eines ganzen fehlgelaufenen Lebens zu lösen. Das Vorgehen sollte somit lösungsorientiert auf den primären Ansatz hin sein.


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Ablauf

Mit Sprache, Mimik und Gestik ist ein Setting zu schaffen, in dem sich der Betroffene mit seinen Sorgen angenommen, vorurteils- und angstfrei äußern kann. Die Grundhaltung des Behandlers ist von Empathie (einfühlendem Verständnis), positiver Wertschätzung (Akzeptanz, emotionaler Wärme) und Authentizität (Echtheit) geprägt, im weiteren Vorgehen aber deutlich direktiver. Der Gesprächsverlauf wird zu Beginn von dem Betroffenen bestimmt, um einen unverfälschten diagnostischen Eindruck zu bekommen und eine erste Entlastung zu erreichen. In der Folge wird der Behandler aktiv intervenieren und den weiteren Ablauf steuern.

Das Gespräch verfolgt einen diagnostischen, situationsklärenden und einen therapeutischen, problemlösenden Zweck. Je nach psychischem Befund kann im diagnostischen Ansatz über eine kurzzeitige, wenn möglich körpersprachlich unterlegte Intervention des Behandlers das Erregungs- und Aggressionspotenzial des Betroffenen ausgetestet werden. Diese sollte aber unmittelbar danach zurückgenommen werden, um den weiteren Beziehungsaufbau nicht zu gefährden und zur Eskalation der Situation beizutragen.

Merke

Die eigene verbale und nonverbale Kommunikationsfähigkeit (Körpersprache) stellen das wichtigste Interventionsinstrument dar. Die gewählte Sprache sollte klar, einfach und verständlich sein sowie ausreichend Wiederholungen und Zusammenfassungen beinhalten. Die über die Körpersprache vermittelten Signale sollten mit der geäußerten Botschaft übereinstimmen und sie ggf. noch bekräftigen [6].

Der Ablauf einer Notfall- und Krisenintervention wird stark von den aktuellen Umständen und den Gegebenheiten vor Ort geprägt. Trotzdem gibt es ein gemeinsames Vorgehen und einheitliche Regeln, deren Beachtung für die Lösung der Situation förderlich ist [6]:

  • Sich selbst vorstellen!

  • Betroffene mit berichtetem, ersichtlichem, getestetem (s. o.) oder spürbarem Aggressionspotenzial nie allein sprechen oder untersuchen!

  • Setting herstellen und gestalten (s. o.).

  • Zuhören und offene W-Fragen ohne vorgegebene Antworten zu Beginn, im Verlauf direktiveres Vorgehen mit Übernahme der Gesprächsführung.

  • Ansprechen von Gefühlen und Ambivalenz, ggf. auch Ansprechen eigener Gefühle.

Fallbeispiel

Ambivalenz ansprechen und lösen

„Herr Mustermann, ich sehe an Ihrer Körperhaltung, wie Sie sich sorgen und nicht in das Krankenhaus wollen. Das geht jetzt leider nicht anders. Ich nehme Sie mit. Kommen Sie bitte.“

  • Genaues Klären der Situation und wirkliches Verstehen! Der Behandler gibt sich nicht mit vermeintlich einfachen oder vordergründigen Erklärungen zufrieden, sondern versucht, durch gezieltes Nachfragen die äußeren und inneren Zusammenhänge wirklich zu verstehen. Oft ist es wegweisend, die Bedeutungszusammenhänge aus Betroffenensicht zu erfragen:

Fallbeispiel

Ansprechen eigener Gefühle

„Herr Mustermann, Sie machen mir Angst! Wie können Sie sich das erklären?“

Fallbeispiel

Bedeutungszusammenhänge aus Betroffenensicht erfragen

„Herr Mustermann, was denken Sie, ist die Ursache Ihrer Probleme?“

Oder alternativ, wenn der Betroffene aus der eigenen Perspektive nicht antworten möchte oder kann: „Herr Mustermann, was sagt Ihre Frau, Ihr … zu dem Vorfall?“

Zur weiteren Klärung kann eine Plausibilitätskontrolle erfolgen, ob der Behandler oder eine ihm bekannte Person in einer vergleichbaren Situation ebenso reagiert hätte. In diesem Zusammenhang sollten auch die Motivation und Veränderungsbereitschaft des Betroffenen geklärt werden.

  • Behandlungsauftrag klären – aus Sicht des Betroffenen, der Angehörigen, des Behandlers? – und gemeinsam formulieren. Die Notfallaufgabe ist dabei auf Machbarkeit zu beschränken. Es sollten klare, lösungsorientierte Prioritäten gesetzt und eine realistische Planung vorgenommen werden.

  • Einsatz der eigenen Kommunikationskompetenz, eine Beziehung aufzubauen, zu gestalten und den Hilfesuchenden und seine Angehörigen im Gespräch zu führen unter Berücksichtigung unterschiedlicher therapeutischer Rollen, z. B.

    • empathisch,

    • entlastend,

    • schützend,

    • Ich/Selbstwert stärkend,

    • Grenzen setzend,

    • konfrontativ,

    • einengend.

  • In Abhängigkeit von der Situation muss der Behandler unterschiedliche Rollen einnehmen können. Diese können während eines Gesprächs durchaus mehrfach wechseln. Bei der Wahl seines Vorgehens sollte er die Kommunikations- und Problemlösekompetenz bei dem Betroffenen und seinem Umfeld beachten.

  • Lösungsorientierte, selbstwertstärkende Interventionen! Die Interventionen sollten zu einer Stärkung des positiven Selbstbildes beitragen, Regressionen vermeiden und dem Hilfesuchenden Verantwortung im Rahmen seiner Möglichkeiten übertragen. Bei unzureichender Belastbarkeit und fehlendem innerem Zusammenhalt sollten keine Bewertungen, Interpretationen oder Deutungen vorgenommen werden. Allenfalls positive Muster können vorsichtig zurückgespiegelt werden. Gewünschte Verhaltensweisen sind positiv zu verstärken.

Fallbeispiel

Positive Verstärkung

„Herr Mustermann, vielen Dank, dass Sie den Vorgang so detailliert geschildert haben. Das war jetzt sehr hilfreich für mich, um die Situation richtig zu verstehen.“

Merke

Bei jeder Intervention wird der konstruktive Anteil der Persönlichkeit gefördert, wobei das zerstörerische Potenzial unbedingt zu berücksichtigen ist.

  • Planung realistischer Veränderungen, eindeutig, zeitlich begrenzt, unter Einbindung des Hilfesuchenden, sofern möglich mit Beteiligung der Angehörigen, möglichst verbindlich.

  • Maßnahmen bei Überforderung: Die Aktivierung von Betroffenen und Angehörigen, die Verschiebung des Fokus, z. B. durch Fragen zur Person, anerkennende Äußerungen zu Kleidung, Frisur oder Schmuck, Fragen nach Haustieren bei Alleinstehenden oder Hobbys, wenn sie aus dem Kontext erschließbar sind, und die Umlenkung des Affektes, etwa durch Humor, sind hilfreiche Maßnahmen bei Überforderung. Sie führen zu einem Wechsel der Perspektive und erhöhen die innere Distanz zum Geschehen.

  • Störungen durch Dritte: „Engagierte“ Angehörige oder störende Dritte, die mit ihrem hektischen Verhalten eher zur Beunruhigung aller beitragen, sollten mit einer „wichtigen“ Aufgabe betraut werden, z. B. Tee machen, sich um das Haustier kümmern, dem Rettungsdienst den Weg weisen oder Ähnliches.

  • Der Verabschiedung des Hilfesuchenden und seiner Angehörigen ist ausreichend Zeit einzuräumen, sodass die im Gespräch aufgebaute Entspannung mitgenommen werden kann. Da Konzentration und Aufmerksamkeit aller an einer Notfallsituation Beteiligten beeinträchtigt sein können, empfiehlt es sich, zum Abschluss jedes Gesprächs Rückfragen zur „Ergebnissicherung“ vorzunehmen und ggf. die wichtigsten Festlegungen nochmals zu wiederholen. Dabei sollte der Patient zu einer weiterführenden Bearbeitung seines Problems – am besten unter Benennung von Anlaufstellen – ermuntert werden. Gegebenenfalls ist die Verabschiedung auch zur Betonung bzw. zum Aufbau von Zukunftsbezügen zu nutzen [6].


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Diagnosestellung

Die Umstände und das Störungsbild in der psychiatrischen Notfallsituation werden oft nur eine eingeschränkte Untersuchung des Betreffenden zulassen. Die Anamneseerhebung wird dann auf die aktuellen Hauptbeschwerden und die Fremdanamnese begrenzt sein, und auch eine klinisch-neurologische Untersuchung wird sich gerade bei Patienten mit psychomotorischer Erregung zunächst auf das Augenscheinliche, das Wesentliche beschränken müssen [6].

Fallbeispiel

Neurologische „Untersuchung“ eines psychomotorisch erregten Patienten im häuslichen Umfeld.

Der Notarzt wird zu einem psychomotorisch erregten Patienten gerufen. Der Patient begrüßt den Notarzt und Rettungssanitäter mit einem rechten Schwinger, den der Arzt kommentiert: „Schau, den rechten Arm kann er schon bewegen.“ Der Arzt muss einem Schwinger links ausweichen und führt fort: „Beide obere Extremitäten frei beweglich, Koordination leicht eingeschränkt. Jetzt muss ich mich noch beidseits treten lassen, dann ist die Prüfung der Motorik abgeschlossen.“

Trotz der eingeschränkten Untersuchungsbedingungen lassen sich aus einer sorgsamen Inspektion und Beobachtung des Patienten zahlreiche diagnostisch wichtige Rückschlüsse ziehen, beispielsweise

  • äußeres Erscheinungsbild:

    • Art der Kleidung,

    • Körperschmuck,

    • Hinweis auf Gewalttätigkeiten,

    • Verletzungen,

    • Einstichstellen,

  • vegetative Elementarfunktionen:

    • Atmung, Puls

    • Hautfarbe und -turgor,

    • Pupillenweite,

    • Hyperhidrosis,

    • Tremor.

Für die Diagnosestellung sind sämtlich beobachtbare Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben des Betreffenden gleichwertig dem gesprochenen Wort. Das eigene Erleben, die Reaktion des Behandlers auf den Patienten, ist als ergänzendes diagnostisches Instrument bewusst zu nutzen (sogenannte Übertragung und Gegenübertragung).

Die Kenntnis der Psychopathologie, d. h. die korrekte Erfassung und Benennung psychischer Auffälligkeiten, hilft bei der Abgrenzung und Zuordnung einzelner Störungsbilder ([Tab. 1]).

Tab. 1 Pathognomische Psychopathologie.

Symptom

Syndrom, Diagnose

formale Denkstörungen

Ideenflucht (viele Themen, aber Assoziationen erkennbar und Gedankengang nachvollziehbar)

Manie

Zerfahrenheit, Inkohärenz (Assoziationen oft nicht mehr erkennbar, Gedankengang kaum oder nicht mehr nachvollziehbar)

Schizophrenie

hirnorganisch

Weitschweifigkeit (fehlende Trennung wesentlich – unwesentlich im Gedankengang)

hirnorganisch

Persönlichkeitsstörung

inhaltliche Denkstörungen (Wahn)

Verarmungs-, Versündigungs-, Schuldwahn

schwere Depression

Größenwahn

Manie

Schizophrenie

Beziehungs-, Beeinträchtigungs-, Verfolgungswahn

Schizophrenie

Dermatozoenwahn

hirnorganisch

Eifersuchtswahn

chronische Alkoholabhängigkeit

Affektstörungen

Parathymie (Diskrepanz geäußerter Inhalt und Affekt)

Schizophrenie

Affektlabilität (schneller Stimmungswechsel durch äußeren Anstoß oder innerer Beschäftigung mit emotionalem Thema)

unspezifisch

psycholabile Menschen

bipolare Störungen

Depression

Demenz

Affektinkontinenz (überschießender nicht beherrschbarer Affekt, z. B. unvermitteltes Weinen ohne klaren thematischen Bezug)

hirnorganisch, Demenz

Wahrnehmungsstörungen

akustische Halluzinationen

unspezifisch, z. B. paranoid-halluzinatorische Psychose, Alkoholhalluzinose, Schizophrenie

optische Halluzinationen

organisch, auch Delir, medikamentös

gustatorische Halluzinationen

Epilepsie

Ichstörungen

Depersonalisation, Derealisation

unspezifisch, z. B. auch im normalen Erleben oder bei Persönlichkeitsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen

Gedankeneingebung, -entzug, -ausbreitung, Willensbeeinflussung

Schizophrenie

Merke: Paranoid-halluzinatorisches Erleben allein ist unspezifisch, in Kombination mit den passenden Ich- oder Affektstörungen jedoch hinweisend auf Schizophrenie!

Das Ergebnis der Eingangsdiagnostik bestimmt die weitere Beziehungsgestaltung und Krisenintervention einschließlich der Anwendung spezifischer Techniken und damit den guten Ausgang.

Merke

Der gute Ausgang einer Krisenintervention hängt maßgeblich vom diagnostischen Blick des Behandlers ab.


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Notfallpsychopharmakotherapie

Die Auswahl eines geeigneten Medikaments zur Notfallbehandlung hängt von den äußeren Umständen, der aktuellen klinischen Symptomatik sowie möglichen Begleiterkrankungen und -medikation ab ([Tab. 2]).

Tab. 2 Auswahlkriterien bei der psychopharmakologischen Notfallmedikation.

Aspekt der Medikation

Augenmerk bzw. Auswahlkriterium

Notarztwagen, somatische Station?

Verfügbarkeit

Multimorbidität?

Interaktionsprofil mit geringen Wechselwirkungen

Suizidalität?

hohe therapeutische Breite

Pharmakokinetik

schneller Wirkeintritt

gute Steuerbarkeit

Nebenwirkungsprofil

gering

keine besondere Überwachung

Dosierung

möglichst einfach, dabei Therapiedauer beachten!

Empfohlene Substanzen

Aktivierende Antidepressiva

Falls ein aktivierendes Antidepressivum eingesetzt werden soll, empfiehlt sich Escitalopram (Cipralex®). Es ist der selektivste Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) mit breiter Indikation, guter Verträglichkeit und geringem Interaktionsrisiko.

Wird ein schlafanstoßendes, -unterhaltendes, sedierendes Antidepressivum benötigt, fällt die Wahl auf Mirtazapin (Remergil®), ein noradrenerg spezifisch serotonerges Antidepressivum mit α2-Adrenozeptor-antagonistischer Wirkung (NaSSA). Beide empfohlenen Antidepressiva haben möglicherweise eine etwas bessere Wirkung und einen geringfügig schnelleren Wirkeintritt als andere Antidepressiva. Mirtazapin hat ebenfalls ein geringes Interaktionspotenzial [6].


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Klassische Antipsychotika

Aus der Gruppe der klassischen Antipsychotika werden als hochpotente Substanz Haloperidol (Haldol®) und als niederpotente Melperon (Eunerpan®) empfohlen, beides sind Substanzen mit einer großen Anwendungserfahrung. Eine breite Zulassung für unterschiedliche psychomotorische Erregungszustände liegt vor. Beide Antipsychotika sind vom Butyrophenon-Derivattyp und wegen der fehlenden anticholinergen Komponente zur Sedierung bei psychomotorischen Erregungszuständen besser geeignet als trizyklische Antipsychotika.


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Atypische Antipsychotika

Von den atypischen Antipsychotika erscheinen Olanzapin (Zyprexa®) und Amisulprid (Solian®) ratsam. Olanzapin ist eine sedierende, Amisulprid eine eher nicht sedierende Substanz, beide mit geringem Risiko für extrapyramidalmotorische Störungen (EPMS). Amisulprid wird ohne hepatische Metabolisierung unverändert renal ausgeschieden, sodass kein pharmakokinetisches Interaktionsrisiko besteht. Sowohl Olanzapin als auch Amisulprid haben keine Zulassung zur Behandlung psychomotorischer Erregungszustände außerhalb der schizophrenen und/oder manischen Störung. Olanzapin ist für die Behandlung der Schizophrenie und Manie, Amisulprid allein für die der Schizophrenie zugelassen. Neben der klassischen Tablettenform ist Olanzapin als Schmelztablette und Amisulprid als Lösung (Solian®) erhältlich [6].


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Anxiolytika, Sedativa

Als Anxiolytikum oder Sedativum wird Lorazepam (Tavor®) empfohlen. Es ist ein relativ kurzwirksames Benzodiazepin mit einer Halbwertszeit zwischen 12 und 16 h ohne aktive Metaboliten. Lorazepam kann per os (p. o.), auch als Schmelztablette (Expidet), oder parenteral langsam intravenös (i. v.) oder intramuskulär (i. m.) appliziert werden. Es verfügt über eine stupor- und mutismuslösende Wirkung.

In seltenen Fällen besteht bei gespannt-aggressiven Patienten die Gefahr eines Raptusdurchbruchs, eines unvermittelten Gewaltausbruchs. Hier erscheint ein stärker sedierendes Benzodiazepin wie Diazepam (s. u.) besser geeignet [6].


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Häufig eingesetzte, nicht empfohlene Substanzen

Levomepromazin (Neurocil®) ist ein niederpotentes trizyklisches Antipsychotikum, welches gerne zur Behandlung psychomotorischer Erregungszustände eingesetzt wird. Wegen seiner ausgeprägten anticholinergen Nebenwirkungskomponente (Sinustachykardie, Herzrhythmusstörungen, Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, Delir, Akkommodationsstörungen, Mundtrockenheit, Obstipation, Miktionsstörungen) wird es nicht empfohlen. Bei der Anwendung sollten kardiale und zerebrale Vorschädigungen, Glaukom und Prostatahypertrophie ausgeschlossen sein. Üblicherweise werden bei psychiatrischen Notfällen 25 – 50 mg i. m. appliziert, bei Bedarf kann alle 30 – 60 min bis maximal 150 mg/d nachinjiziert werden. Eine höhere initiale Dosis sollte nicht gegeben werden, weil darunter eine orthostatische Dysregulation mit Hypotonie und Kollaps auftreten kann. Bei i. v. Applikation kann es zu Thrombophlebitiden kommen, weswegen die Substanz nur verdünnt langsam injiziert werden sollte [6].

Diazepam ist das Benzodiazepin mit dem schnellsten Wirkeintritt, was es eigentlich für den Einsatz in der Notfallbehandlung prädestiniert. Diazepam verfügt aber über ein großes Verteilungsvolumen, sodass bei Einmaldosierung die Wirkung nur kurz andauert. Insbesondere bei Mehrfachgabe unter der Vorstellung, dass die Substanz zu gering dosiert wurde, können wegen des hohen Verteilungsvolumens Rückverteilungsphänomene auftreten. Die Substanz wird zeitverzögert wieder aus der Muskulatur und dem Fettgewebe freigesetzt und führt plötzlich zu einer klinischen Überdosierung. Wegen aktiver Metaboliten, die eine Halbwertszeit bis 200 h aufweisen, besteht zudem eine Kumulationsgefahr. Die gebräuchliche Dosierung ist 5 – 10 mg p. o., i. v. oder i. m., die ggf. 1 – 2 × nach 30 min wiederholt werden kann, bis maximal 40 mg/d. Höhere Dosen können zu einer Atemdepression führen, weswegen auch die i. v. Gabe nur langsam erfolgen sollte [6].

Fazit

Die Sicherheit und Erfahrung des Behandlers im Umgang mit dem Medikament ist entscheidender als die benutzte Substanz.

Primäres Behandlungsziel ist Beruhigung und nicht Sedierung. Der Patient soll zwar schnell stabilisiert werden, für den weiterbehandelnden Psychiater aber noch explorierbar sein!

Die Mischung verschiedener Substanzen nach „eigener Rezeptur“ mit z. T. abenteuerlicher Bezeichnung, z. B. lytischer Trunk, hat in der Notfallpsychopharmakotherapie nichts zu suchen!


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Selbsthilfe für das medizinische Personal

Die Achtsamkeit den eigenen Grenzen gegenüber, die klare Begrenzung einer Aufgabe auf ihre Machbarkeit mit paralleler Kommunikation nach außen und die rechtzeitige Hinzuziehung weiterer professioneller Unterstützung (z. B. Polizei, Sozialpsychiatrischer Dienst, Krisendienst, andere Kollegen, eigene Supervision) helfen, eine Überforderung zu vermeiden. In einer für sich selbst belastend empfundenen Situation können Techniken zur Anwendung kommen, welche die therapeutische Distanz vergrößern [6].

Praxistipps

Äußere Distanzierung durch Veränderung der Situation

Eine Änderung der Situation lässt sich räumlich über einen Wechsel der Sitzposition, des Stuhls mit einer neuen Blickausrichtung oder auch den Wechsel in ein anderes Zimmer erreichen. Situativ kann ein anderes Thema eingeführt werden (z. B. Urlaub, Haustiere), der Behandler kann sich die Küche, das Wohnzimmer, die Bibliothek zeigen oder bei dem Patienten eine Blutentnahme oder Blutdruckmessung durchführen lassen.

Innere Distanzierung durch Perspektivenwechsel und Fokussierung

Eine Distanzierung zum Geschehen lässt sich durch einen Perspektivenwechsel erzielen, der Blick auf die Situation kann gezoomt werden von der Einzelheit auf das Gesamte oder umgekehrt – s. u.: (1). Bei (2) schafft der Einsatz des nichtssagenden Unerwarteten eine Pause, verbunden mit einem Neustart. Bei (3) trägt die gedankliche Befragung imaginärer Dritter zur eigenen Beruhigung bei.

  • (1) Gedanke: „Jetzt sitze ich hier Herrn Mustermann gegenüber, in seiner Wohnung, die Wohnung ist in der … Straße, da wohnen mindestens 200 Familien, in der Stadt gibt es 200 000 Einwohner, in dem Bundesland sind es schon 20 Millionen, in Deutschland 80, und wieviel Menschen leben in Europa?“

  • (2) Frage: „Herr Mustermann, was haben Sie denn da für eine Krawatte um? Die sieht ja interessant aus. Wo haben Sie sie gekauft?“

  • (3) Gedanke: „Was würde wohl jetzt mein erfahrener Kollege Klaus machen? Der würde erstmal cool bleiben und eine rauchen. Und dann schauen, was der Patient Interessantes zu berichten hat.“

Merke

Anhaltendes Nachsinnen oder Grübeln über belastende Ereignisse gilt als Risiko für die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Mithilfe psychotherapeutischer Techniken lässt es sich modifizieren. Resilienz im Umgang mit belastenden Ereignissen kann unter Supervision oder in einem Coaching trainiert werden.


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Spezielle Notfallpsychiatrie

Alle Notfälle lassen sich aus psychiatrischer Sicht auf 5 Syndrome zurückführen. Diesen können sämtliche Erkrankungsbilder zugeordnet werden:

  • psychomotorische Erregungszustände ([Tab. 3])

  • delirante Syndrome ([Tab. 5]), diese können auch bei den Bewusstseinsstörungen subsumiert werden,

  • akute Suizidalität ([Tab. 6]),

  • stuporöse Zustände ([Tab. 7]),

  • Störungen des Bewusstseins ([Tab. 8]).

Psychomotorische Erregungszustände

Syndrom: Psychomotorische Erregungszustände

In [Tab. 3] sind die für den Notarztdienst relevanten Charakteristika der psychomotorischen Erregungszustände zusammengefasst.

Tab. 3 Psychomotorische Erregungszustände.

Parameter

Charakteristika

Symptomatik

  • ziellose Steigerung von Antrieb und Psychomotorik

  • affektive Enthemmung

  • Gereiztheit, unvermittelte Gewaltausbrüche (Raptus)

  • Kontrollverlust

mögliche Ursachen und Risikofaktoren

  • unspezifisch

    • vor allem Drogenintoxikationen (s. a. [Tab. 4]) und komorbide Persönlichkeitsstörungen mit hohem Aggressionspotenzial

    • seltener Angst- und Panikstörungen, agitierte Depression, akute Exazerbationen einer schizophrenen Erkrankung, Manie oder Demenz

  • hirnorganisch, z. B.

    • Schädel-Hirn-Trauma

    • postiktaler Dämmerzustand

    • infektiös

    • Tumor

  • organisch, z. B. Hyperthyreose

nichtpharmakologische Intervention

  • Prophylaxe, gefährliche Situationen rechtzeitig aus dem Verhalten und den Umständen erkennen und vorbeugend Hilfe organisieren, für „sichere Räumlichkeiten“ sorgen, ggf. Polizei um Amtshilfe ersuchen, in Klinik Werkschutz oder Wachdienst hinzuzuziehen

  • „Talking down“, beruhigendes Zureden, Aufbau einer Vertrauensbasis, Einsatz von beschreibender Sprache zum Erläutern des weiteren Vorgehens

  • „Time-out“, Verbringen in eine reizarme Umgebung, stationäre Aufnahme oder Umsetzen einer antiaggressiven Medikation (freiwillig oder zwangsweise)

  • Fixierung, ggf. Zwangseinweisung (z. B. PsychKG) oder Überstellung an Polizei (Polizeigewahrsam)

pharmakologische Intervention

psychotische Erregung und Aggressivität bei Schizophrenie und manischen Syndromen

  • Haloperidol

  • Olanzapin

  • Lorazepam

Erregung bei depressiven Syndromen

  • Lorazepam

Erregung bei Angststörungen mit/ohne Panikattacken

  • Lorazepam

Erregung bei symptomatischen Psychosen im Rahmen somatischer Erkrankungen (internistisch/neurologisch/Intoxikationen)

  • kausale Pharmakotherapie

  • ergänzend Haloperidol, Melperon

Erregung bei Drogenintoxikationen, Erregung bei pathologischem Alkoholrausch (massiver Erregungszustand bei geringer Alkoholmenge < 2‰ mit gewalttätigem Verhalten, kompletter Amnesie für den Zustand und Terminalschlaf, oft von kurzer Dauer)

  • Haloperidol, Cave: Keine Benzodiazepine bei Alkoholintoxikation

Erregung bei Delir

  • je nach Form

    • Haloperidol

    • Clomethiazol

    • Benzodiazepine

Besonderheiten

Die Einnahme einer gemütlichen Sitzposition ist erregten oder gespannten Menschen nur begrenzt möglich. Der Umgang kann ein „Management by walking around“ erfordern. Dabei ist immer auf das Bestehenbleiben des Sicht-/Rufkontaktes zu weiterem Hilfspersonal zu achten.

Falls ein geordnetes Setting möglich ist, wird der Behandler direktiver vorgehen und in seiner Haltung bestimmter auftreten. Er wird Freiraum gewähren, ggf. aber auch Grenzen setzen müssen. Er sollte sich nicht von dem Verhalten des Patienten provozieren lassen und gleichbleibend Ruhe ausstrahlen [6].

Fazit

Die Intervention zielt auf eine frühzeitige nicht pharmakologische Deeskalation. Falls erforderlich, kommen beruhigende, nach Möglichkeit nicht sedierende Medikamente zur Anwendung. Die Berücksichtigung der Wünsche des Patienten zur Medikation fördert den Beziehungsaufbau und stärkt gleichzeitig seinen Selbstwert.

Bei der Beziehungsgestaltung zu schizophrenen Patienten besteht die Herausforderung, den Patienten in seiner Persönlichkeit, d. h. auch in seinem paranoid-halluzinatorischen Erleben, zu akzeptieren, aber gleichzeitig Zweifel am realitätsverzerrten Erleben in Gang zu setzen, die Realitätsprüfung zu fördern und der Systematisierung des Wahns frühzeitig entgegenzuwirken. Die Gesprächsführung erfolgt entlang eines sogenannten sokratischen Dialogs, wobei durch geleitete, zielgenaue Fragen dem Betreffenden Lücken, Fehlschlüsse und Widersprüche in seinen pseudologischen Erklärungen aufgezeigt werden.

Fallbeispiel

Gesprächsführung bei wahnhaftem Erleben

„Herr Mustermann, Sie erwähnten, dass Ihre Schmerzen durch einen Alien im Bauch verursacht werden.“ Herr Mustermann beschreibt die Beschwerden, die der Alien ihm zufügt, z. B. Völlegefühl, Aufstoßen und Darmkrämpfe. „Hhm, ich verstehe. Wie groß ist der Alien?“ Herr Mustermann antwortet handballgroß. „Wie ein Handball? Wie ist er denn hineingekommen, Ihre Mundöffnung und Ihre Speiseröhre sind doch viel enger?“

Herr Mustermann führt aus, dass er ihn beim Essen eines Apfels verschluckt habe, als er noch kleiner gewesen sei. „Ah, Sie glauben, dass er gewachsen ist. Wie viel haben Sie denn in der letzten Zeit gegessen?“ … „So wie sonst.“ … „Dann kann er nicht gewachsen sein. Bei gleichmäßiger Essensmenge müssten Sie woanders abgenommen haben, wenn der Alien gewachsen ist. Haben Sie vielleicht ein altes Foto von sich auf dem Handy?“ … „Das sieht unverändert aus. Herr Mustermann, ich glaube Ihnen gerne, dass Sie Leibbeschwerden haben, als ob Ihnen ein Alien im Bauch steckt. Sie sitzen mir ja auch ganz verkrampft gegenüber. Und ich glaube nicht, dass Sie schwindeln, so wie ich Sie jetzt hier erlebt habe. Was haben Sie denn in letzter Zeit gegessen?“ …

„Da sind einige blähende Dinge darunter. Die könnten auch solche Beschwerden machen.“ Herr Mustermann äußert, dass er das nicht glaubt, zumal er auch ein Brennen im Oberbauch verspüre. „Okay, ja, da haben Sie recht. Das wird durch blähende Nahrung nicht hervorgerufen. Hatten Sie Stress in der letzten Zeit?“ Herr Mustermann beschreibt Stress am Arbeitsplatz mit einem neuen Vorarbeiter. „Na, vielleicht rührt es daher, dass aufgrund des Stresses Ihr Magen verstärkt Säure bildet. Die greift jetzt die Schleimhäute an und führt zu den Beschwerden. Vielleicht sollten wir versuchen, etwas gegen Ihren Stress zu machen?“

Merke

Falls eine Zwangsmaßnahme notwendig ist, sollte sie rasch unter Berücksichtigung der Würde des Betroffenen ohne weitere Demütigung, unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden. Auch in kritischen Situationen unter Hektik und Gewalt sind ein respektvoller Umgang und eine höfliche – wenn auch bestimmte – Anrede möglich. Die Zwangsbehandlung sollte sich für den Patienten erkenntlich und nachvollziehbar in einen Gesamtbehandlungsplan einfügen.

Für die Basistherapie mit einem Antipsychotikum steht Haloperidol zur Verfügung, die Dosis beträgt 5 – 10 mg p. o. oder i. m., ggf. kann 1 – 2 × nach 30 min wiederholt werden; eine Tagesdosis von 30 mg sollte i. d. R. nicht überschritten werden, die maximale Dosis ist 50 mg/d (in seltenen Ausnahmefällen 100 mg p. o. pro Tag).

Alternativ kann Olanzapin verwendet werden, 10 – 20 mg p. o. oder 10 mg i. m. (Cave: kein Lorazepam oder ein anderes Benzodiazepin bei i. m. Olanzapin), bis 30 mg/d.

Steht die Sedierung im Vordergrund, ist Melperon 50 – 100 mg p. o. oder i. m., bis maximal 200 mg/d, geeignet.

Eine zusätzliche Komedikation könnte Lorazepam sein, 1 – 2,5 mg p. o. (Expidet) oder 1 – 2 mg i. v. (langsam!)/i. m., ggf. nach 30 min wiederholen, bis maximal 10 mg/d.

Clomethiazol (Distraneurin®) wirkt sedierend, hypnotisch und antikonvulsiv, es ist für die stationäre Behandlung von akuten Entzugssymptomen, Prädelir und Delir zugelassen. Eine ambulante Verordnung ist nicht erlaubt! Wegen seiner kurzen Halbwertszeit von rund 4 h ist es gut steuerbar. Die Dosierung erfolgt flexibel an der Ausprägung der Entzugssymptomatik und des Sedierungsgrades orientiert. Da Clomethiazol atemdepressiv wirkt, sollte es nicht verwendet werden [6]

  • bei einem Atem-/Blutalkohol > 1,0‰,

  • bei Benzodiazepin-Begleitmedikation,

  • bei Hinweis auf allergische Reaktion in der Vorgeschichte (Nies- oder Hustenreiz?),

  • bei respiratorischer Insuffizienz oder obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD).


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Drogenabusus

Den sogenannten pathognomischen Drogenblick [6] fasst [Tab. 4] zusammen.

Tab. 4 Pathognomischer Drogenblick.

Substanzen

Kennzeichen

LSD = Lysergsäurediethylamid; MDA = Methylendioxyamphetamin; MDMA = 3,4-Methylendioxymethamphetamin (Ecstasy)

Alkohol

Barbiturate

Benzodiazepine

Opiate

allgemeine Wirkung

  • beruhigend

  • euphorisierend

bei Intoxikation

  • zentralnervös dämpfend: Somnolenz bis Koma, Atemdepression

bei Entzug

zentralnervös und vegetativ aktivierend:

  • Angst, Unruhe

  • Tremor, Schwitzen

  • Diarrhö

  • Blutdruck- und Pulsanstieg

  • Glieder-, Muskelschmerzen

Besonderheiten

  • Opiatintoxikation

    • Miosis

    • Obstipation

  • Opiatentzug

    • Mydriasis

    • lebhafte Darmgeräusche

    • kein Delir

    • zeitliche Entwicklung in Abhängigkeit der Halbwertszeit: Heroin 6 – 8 h, Methadon 24 – 36 h nach letzter Einnahme

  • „trockenes Alkoholdelir“ mit geringer/fehlender vegetativer Symptomatik bei Polyneuropathie

    • Cave: Krampfanfälle im Entzug

Cannabis (Haschisch, Marihuana)

allgemeine Wirkung

  • beruhigend

  • halluzinogen

bei Intoxikation

  • Übelkeit, Erbrechen

  • Hypothermie

  • Wahnvorstellungen, Halluzinationen

bei Entzug

vor allem psychische Beschwerden:

  • depressive Verstimmung

  • Reizbarkeit, Ängstlichkeit

Besonderheiten

  • amotivationales Syndrom

Amphetamine (Amphetamin, Metamphetamin [u. a. Speed, Crystal])

MDA [Eve]

MDMA [Ecstasy]

Kokain (u. a. Crack)

allgemeine Wirkung

  • anregend

  • euphorisierend

bei Intoxikation

ausgeprägte sympathoadrenerge zentrale und vegetative Effekte:

  • Unruhe, Agitation

  • Reizbarkeit, Aggressivität

  • psychotisches Erleben, Halluzinationen

  • zerebrale Krampfanfälle, Hyperreflexie

  • Vasokonstriktionen unterschiedlicher Stromgebiete mit erhöhtem Infarktrisiko (z. B. Hirn-, Herz-, Nieren-, Darminfarkt)

  • schwere Gerinnungsstörungen bis zur disseminierten intravasalen Gerinnung

  • Hypertonie

  • Tachykardie

  • Hyperthermie, Fieber

bei Entzug

untypischer, z. T. wochenlanger Verlauf:

  • ausgeprägte Depressionen, Suizidalität

  • Angstzustände

  • Antriebslosigkeit, Erschöpfung

  • Heißhunger mit Hyperphagie

Besonderheiten

  • MDMA-Intoxikation klinisch abgeschwächter, aber mit Todesfällen

  • Kokainschock

    • unmittelbar nach Einnahme

    • akut lebensbedrohlich

Psychotomimetika (heterogene Gruppe, u. a. LSD, Meskalin, Psilocybin, Phencyclidin [„Angel Dust“])

allgemeine Wirkung

  • anregend, halluzinogen

  • bereits in geringen Mengen rauschartige Bewusstseinsveränderungen und halluzinatorisches Erleben

bei Intoxikation

vor allem zentralserotonerg wirksam, mit peripheren Intoxikationserscheinungen erst bei sehr hohen Dosen:

  • psychotische Symptomatik mit akustischen und optischen Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Angst- und Erregungszuständen

  • im Verlauf Vigilanzstörungen bis zum Koma, Mydriasis, Nystagmus, Hyperreflexie, zerebrale Krampfanfälle, körperlich Übelkeit, Erbrechen, Fieber, Hypertension, Tachykardie

bei Entzug

  • kein spezifisches Entzugssyndrom

Besonderheiten

  • schnelle Toleranzentwicklung mit Rückbildung nach Absetzen

  • physische und psychische Abhängigkeiten selten

  • Horrortrips mit eigen- und fremdaggressivem Verhalten

  • Flashback-Psychosen noch Monate verzögert, evtl. dosisunabhängig


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Delirante Syndrome

Die notfallmedizinisch relevanten Aspekte der deliranten Syndrome sind in [Tab. 5] zusammengestellt.

Tab. 5 Delirante Syndrome.

Parameter

Charakteristika

Symptomatik

  • Störungen von Bewusstsein (Klarheit ↓) und Aufmerksamkeit

  • Desorientiertheit

  • Wahrnehmungsstörungen (optische Halluzinationen, illusionäre Verkennungen)

  • erhöhte Suggestibilität

  • psychomotorische Unruhe und Erregung

  • fokal-neurologische Symptome (Ataxie, Dysarthrie, Tremor, Nesteln)

  • vegetative Symptome (Hyperhidrosis, Tachykardie, Hypertonus, Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen)

mögliche Ursachen und Risikofaktoren

Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens)

  • 2 – 3 Tage nach dem Absetzen für 5 – 10 Tage

  • seltener Kontinuitätsdelir unter gleichbleibender Dosis bei plötzlicher Toleranzentwicklung

Medikamentenentzugsdelir, z. B.

  • Benzodiazepine

  • Barbiturate

  • seltener auch Analgetika

Medikamentenintoxikationsdelir, z. B.

Delir bei Drogenintoxikation („Drogenpsychose“), z. B.

  • Amphetamine

Delir bei somatischen Erkrankungen, z. B.

  • ZNS, metabolisch, kardiopulmonal, infektiös/neoplastisch, elektrolytbedingt, anämisch

  • postoperativ als „Durchgangssyndrom“ (häufig von längerer Dauer)

  • bei Polytrauma

  • bei Exsikkose

Frühsymptom einer beginnenden Demenz

Cave: unbehandelt tödlich in 15 – 20% der Fälle!

nichtpharmakologische Intervention

  • Reorientierungshilfen, Bezugspersonen, Angehörige

  • Ausgleich sensorischer Defizite, geistige Betätigung

  • Verringerung der Polypharmazie

  • Beseitigung möglicher Auslöser (Infekte, Schmerzen, Schlafstörungen, Dehydratation/Elektrolytdysbalancen, Konstipation/Urinretention, Malnutrition, Hypoxie und Immobilität)

pharmakologische Intervention

Basistherapie mit Antipsychotikum

  • Haloperidol 1 – 2 mg p. o. oder i. m., alle 2 – 4 h, Titration nach Schweregrad, geringere Dosis bei älteren Patienten

  • Cave: Bei intravenöser Applikation kontinuierliches EKG-Monitoring wegen QT-Verlängerungen und Torsades de Pointes

zusätzlich Clomethiazol

  • 2 Kps. (10 ml) alle 1 – 2 h, maximal 24 Kps./d,

  • Clomethiazol ist die Basistherapie des Alkoholentzugsdelirs.

  • Cave: Gefahr einer Atem- und Kreislaufdepression, bronchiale Hypersekretion

alternativ Benzodiazepine

  • z. B. Lorazepam 0,5 – 2 mg p. o. oder i. v. 2 – 4-stündlich, ≤ 7,5 mg/d

Besonderheiten

  • trockenes Delir mit fehlender vegetativer Symptomatik


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Akute Suizidalität

Die Besonderheiten der akuten Suizidalität [6] im Rettungsdienst fasst [Tab. 6] zusammen.

Tab. 6 Akute Suizidalität.

Parameter

Charakteristika

Charakteristika

Symptomatik

ursachenabhängig unterschiedlich

anhedon-hoffnungsloser Typus

  • Hoffnungslosigkeit, fehlende Zukunftsbezüge

  • Gedankeneinengung, situative Einengung

  • soziale Isolierung

  • Aggressionsstau mit Wendung der Aggression gegen das eigene Ich

ängstlich agitierter Typus

  • zunächst Aggressionshemmung nach außen, mit zunehmender Agitiertheit auch autoaggressive Tendenzen

impulsiv-aggressiver Typus

Cave: Ausbrüche von bedrohlichem und gewalttätigem Verhalten

mögliche Ursachen und Risikofaktoren

Depression

  • gedrückte Stimmung

  • Antriebsminderung

  • Verlust von Freude und Interesse

  • Tagesschwankungen

  • synthymer Wahn

Schizophrenie

  • imperative (auffordernde) Stimmen, sich umzubringen

Persönlichkeitsstörung (vor allem emotional-instabil, narzisstisch)

  • selbstverletzendes Verhalten und/oder Kränkungserleben

  • psychosoziale Belastungen in der Vorgeschichte

akute Belastungsreaktionen

somatische Erkrankungen, vor allem chronische Schmerzen, Tumor

Risikofaktoren:

  • konkrete Pläne, Vorbereitungen

  • Suizidversuche in der Vorgeschichte

  • Suizide in der Familie

  • ältere alleinlebende Männer

nichtpharmakologische Intervention

  • menschliche Gesellschaft, Kommunikationsangebot

  • verständnisvolles Gespräch zu den Ursachen, dabei ggf. Ermöglichung einer Aggressionsabfuhr, d. h. die Wendung der Aggression gegen die eigene Person aufheben bzw. umleiten

  • Aufbau von Zukunftsbezügen

  • Vermittlung in eine weitergehende Behandlung, z. B. stationäre Aufnahme

  • ggf. auch Zwangseinweisung

pharmakologische Intervention

syndrom- bzw. störungsspezifisch, z. B.

  • sedierend

  • anxiolytisch

  • bei begleitender psychotischer Erregung antipsychotisch

Die Einleitung einer antidepressiven Basistherapie ist durch den Notarzt nicht erforderlich.

Besonderheiten

  • Bagatellisierende Aussagen „Alles wird gut“ oder „Deswegen bringt man sich doch nicht um“ sind destabilisierend.

  • Die suizidale Problematik sollte nicht über den Patienten hinweg mit den Angehörigen erörtert werden.

  • Die Exploration einer möglichen Hoffnungslosigkeit und/oder fehlender Zukunftsbezüge, z. B. Termine, ist geeignet, eine akute Suizidalität abzuschätzen.

  • Da sich suizidale Patienten häufig auf die direkte Frage nach Suizidalität vorbereitet haben und sie mühelos verneinen können, empfiehlt es sich mitunter, eine paradoxe Intervention vorzunehmen. Die fehlende oder verzögerte Antwort auf die Frage: „Warum wollen Sie leben?“ sollte den Untersucher bewegen, von einer akuten Suizidalität auszugehen.

  • Ein Non-Suizid-Pakt, sich von dem Betroffenen versprechen zu lassen, sich nichts anzutun, sollte bei fehlender therapeutischer Beziehung nicht geschlossen werden.

Cave

Bei entsprechendem Verdacht ist eine mögliche Suizidalität immer zu explorieren. Je konkreter die Pläne und die Vorbereitungen sind, desto größer ist das Suizidrisiko.

Fallbeispiel

Umsetzung einer stationären Aufnahme bei depressiver Entscheidungsschwäche (Ambivalenz) durch Betonung der Wahlfreiheit

„Herr Mustermann, ich habe einen Rettungswagen gerufen, der wird Sie in die psychiatrische Klinik fahren. Möchten Sie erst mit Ihrer Frau telefonieren oder gleich losfahren?“


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Stuporöse Zustände

Rettungsdienstliche Aspekte stuporöser Zustände sind durch einige Besonderheiten gekennzeichnet, die in [Tab. 7] zusammengestellt sind.

Tab. 7 Stuporöse Zustände.

Parameter

Charakteristika

Symptomatik

  • abnormer Zustand psychomotorischer Hemmung

  • eingeschränkte bzw. aufgehobene Reaktivität auf Umweltreize

  • voll erhaltenes Wachbewusstsein

  • ursachenabhängig Besonderheiten im klinischen Bild

mögliche Ursachen

und Risikofaktoren

katatone Schizophrenie

  • Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit)

  • Mutismus (Sperrung des Sprechens)

  • Cave: Raptus (unvermittelter Gewaltausbruch bei vorheriger Antriebssperrung)

Differenzialdiagnose perniziöse Katatonie:

  • Rigor

  • Akinese

  • Fieber

  • autonome Entgleisung, Akrozyanose, Petechien

  • Bewusstseinstrübung

Depression

  • Antriebsminderung mit psychomotorischer und kognitiver Hemmung

  • Affektstarre, passiv-duldendes Verhalten

  • Cave: Suizidalität

  • oft psychotisches Erleben

Manie

  • durch extreme Gedankenbeschleunigung, Ambivalenz und Ambitendenz hervorgerufen

  • psychotische Symptome

  • Cave: Raptus

organisch katatone Störung

  • klinisch besteht Ähnlichkeit mit Stupor bei katatoner Schizophrenie, jedoch auffällige organische Befunde

psychogene/dissoziative Störung

  • Mutismus

  • fehlende/eingeschränkte Reagibilität auf Außenreize

  • auffällige Primärpersönlichkeit

  • belastende Ereignisse in der Vorgeschichte

  • differenzialdiagnostisch vorgetäuschte Störung (Simulation) oder trotziges Nicht-Sprechen-Wollen

nichtpharmakologische Intervention

  • Reizabschirmung

  • beruhigendes Gespräch bei psychogener Genese

pharmakologische Intervention

  • bei Stupor unbekannter Genese initial Lorazepam 1 – 2,5 mg p. o. (Expidet) oder i. v.

  • bei fehlender Wirkung nach Ausschluss eines malignen neuroleptischen Syndroms ([Tab. 9]) Haloperidol 5 – 10 mg p. o. oder i. m.

Besonderheiten

  • Wenn i. v. Gabe von Haloperidol erforderlich ist, sollte ein EKG-Monitoring gewährleistet sein.

  • Bei perniziöser Katatonie ist zusätzlich für Kühlung und Volumengabe zu sorgen.

  • Nach Ausschluss einer Enzephalitis kann eine Elektrokrampftherapie indiziert sein.


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Störungen des Bewusstseins

Störungen des Bewusstseins sind ein bedeutender Gesichtspunkt im notärztlichen Setting. [Tab. 8] fasst die Besonderheiten zusammen.

Tab. 8 Bewusstseinsstörungen.

Parameter

Charakteristika

Symptomatik

quantitativ

  • physiologisch: Schlaf

  • pathologisch: Somnolenz → Sopor → Koma

qualitativ

  • Einengung

  • Verschiebung

  • Erweiterung

mögliche Ursachen und Risikofaktoren

quantitativ

  • Intoxikation mit Sedativa und/oder Alkohol

  • metabolische Entgleisungen

  • zerebrovaskuläres Ereignis

  • Infektion des ZNS

  • Schädel-Hirn-Trauma

qualitativ

  • Delir

  • organisch dissoziative Störung (Dämmerzustand) bei Epilepsie, iktal und postiktal

  • bei pathologischem Alkoholrausch, Drogenabusus

  • Schädel-Hirn-Trauma oder entzündlichem Prozess

pharmakologische Intervention, Besonderheiten

quantitativ

  • intensivmedizinischer Notfall

qualitativ

  • ursachenspezifisch

  • nach Ausschluss Intoxikation

  • bei epileptischer Genese Lorazepam 0,5 – 2 mg i. v.

  • bei pathologischem Alkoholrausch Haloperidol 5 – 10 mg p. o. oder i. m.

Psychopharmaka können selbst Ursache psychiatrischer Notfälle sein. Der Verdacht auf ein malignes neuroleptisches Syndrom, ein zentrales anticholinerges Syndrom oder ein zentrales Serotoninsyndrom erfordert die sofortige Einweisung in eine Klinik. Eine Übersicht über das maligne neuroleptische Syndrom, das zentrale anticholinerge Syndrom und das zentrale Serotoninsyndrom geben [Tab. 9], [10] und [Tab. 11]).

Tab. 9 Malignes neuroleptisches Syndrom.

Parameter

Charakteristika

EPMS = extrapyramidalmotorische Störung

Definition

sehr seltene Nebenwirkung einer Neuroleptikatherapie

Medikamente

klassische hochpotente Neuroleptika, auch Atypika

Dosis

vorwiegend hohe Dosen, auch normale Dosen

Beginn

innerhalb von 2 Wochen nach Anfang einer Neuroleptikatherapie

Verlauf

akut-perakut innerhalb von 24 – 72 h

lebensbedrohlich

Symptomatik

EPMS

  • Rigor

  • Akinesie, Dys- und Hyperkinesien

fluktuierende Bewusstseinslage (bis zum Koma)

autonome Funktionsstörungen

  • Tachykardie

  • Hypertonus

  • Tachypnoe

  • Hypersalivation

  • Hyperhidrosis

Labor

  • Kreatinkinase ↑

  • Transaminasen ↑

  • alkalische Phosphatase ↑

  • Leukozytose

  • metabolische Azidose

Komplikationen

  • Myoglobinämie

  • Rhabdomyolyse

  • Niereninsuffizienz

Therapie

Absetzen der Neuroleptika

Kühlung

(parenterale) Flüssigkeitszufuhr

Intensivüberwachung

  • Dantrolen (Dantamacrin®) 50 mg p. o. bis 4 – 10 mg/kgKG p. o., auch i. v.

  • Bromocriptin (Pravidel®) 10 – 30 mg/d bis 60 mg/d

  • Amantadin (PK-Merz®) 200 – 400 mg/d

  • Lorazepam 4 – 7,5 mg i. v.

  • Elektrokrampftherapie

Differenzialdiagnose

  • febrile Katatonie

  • maligne Hyperthermie (Anästhesiezwischenfall)

  • Enzephalitis

Tab. 10 Zentrales anticholinerges Syndrom.

Parameter

Charakteristika

Definition

Nebenwirkung anticholinerg wirksamer Pharmaka

Medikamente

  • z. B. Clozapin

  • trizyklische Neuroleptika (TZ-NL)

  • trizyklische Antidepressiva (TZA)

Dosis

Überdosierung bzw. Intoxikation, auch normale Dosen bei Slow-Metabolizer

Verlauf

potenziell lebensbedrohlich

Symptomatik

periphere anticholinerge Symptome

  • trockene Haut, Hyperthermie

  • Harnverhalt, Obstipation

  • tachykarde Herzrhythmusstörungen

  • Mydriasis

zentrale Symptome

  • Delir

  • Agitiertheit

  • auch sedativ mit Somnolenz/Koma

Komplikationen

  • Herzrhythmusstörungen

  • paralytischer Ileus

  • Elektrolytentgleisungen

  • epileptische Anfälle

  • Koma

Therapie

Absetzen der Medikation,

ggf. Sedierung mit Benzodiazepine/Antipsychotika

Physostigmin (Anticholium® Injektionslsg.) 2 – 4 mg i. m. oder langsam i. v.

Tab. 11 Zentrales Serotoninsyndrom.

Parameter

Charakteristika

Definition

seltene Neben-/Wechselwirkung serotonerg wirksamer Pharmaka

Medikamente

  • selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI)

  • selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (SSNRI)

  • trizyklische Antidepressiva (TZA)

  • Monoaminoxidashemmer (MAOH)

  • Serotonin-(5-HT-)Agonisten

  • Kokain

  • Amphetamine

  • Lithium

Beginn

innerhalb der ersten 24 h nach Applikation

Verlauf

potenziell lebensbedrohlich

Symptomatik

Trias

  • Fieber

  • neuromuskuläre Symptome (Hyperrigidität, Hyperreflexie, Myokloni, Tremor)

  • psychopathologische Auffälligkeiten (Delir, Erregungszustände)

Komplikationen

  • epileptische Anfälle

  • Herzrhythmusstörungen

  • Koma

  • Verbrauchskoagulopathie

  • Multiorganversagen

Therapie

Absetzen der Medikation (in 90% der Fälle ausreichend),

Kühlung, Volumensubstitution, ggf. Sedierung

Cyproheptadin (Peritol®) 4 – 8 mg initial p. o. bis 0,5 mg/kgKG/d

Kernaussagen
  • Psychiatrische Notfälle gehören zu den häufigsten Einsatzursachen für Notärzte.

  • Sämtliche psychiatrischen Notfälle lassen sich den 5 Syndromen psychomotorische Erregungszustände, Delir, akute Suizidalität, stuporöse Zustände, Störungen des Bewusstseins zuordnen.

  • Das Setting ist an die Erfordernisse aus der Notsituation und dem Störungsbild des Hilfesuchenden anzupassen. Dabei ist auf die persönliche Sicherheit zu achten.

  • Das Vorgehen erfolgt störungsspezifisch.

  • Das kommunikative Geschick des Ersthelfers ist das wichtigste Interventionsinstrument.

  • Die Notfallmedikation lässt sich auf wenige Psychopharmaka beschränken.


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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. W. Jordan, MBA, MIM, Magdeburg.


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Über den Autor

Wolfgang Jordan

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Prof. Dr. med., MBA, MIM. Stellv. Ärztlicher Direktor der Klinikum Magdeburg gGmbH, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Schlafmedizin, Suchtmedizin, Video-Interventions-Therapie. Studium der Managementwissenschaften Universität Salzburg, außerplanmäßige Professur Universität Göttingen. Publikationsschwerpunkte: Notfallpsychiatrie, Schlafmedizin, oxidativer Stress, Mutter-Kind-Behandlung, Management, Ethik.

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

  • Literatur

  • 1 Flüchter P, Müller V, Bischof F. et al. Notarztschulung über psychiatrische Notfälle: Evaluation eines interaktiven Fortbildungsprogramms. Psychiat Prax 2017; 44: 105-107
  • 2 Pajonk FG. Zur Situation der Notfall- und Akutpsychiatrie in Deutschland. Nervenarzt 2015; 86: 1081-1090
  • 3 Pajonk FG, Lubda J, Sittinger H. et al. Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Notärzten – eine Reevaluation nach 7 Jahren. Anaesthesist 2004; 53: 709-716
  • 4 Pajonk FG, Gärtner U, Sittinger H. et al. Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Rettungsdienstmitarbeitern. Notfall Rettungsmed 2004; 7: 161-167
  • 5 Wild J, Smith KV, Thompson E. et al. A prospective study of pre-trauma risk factors for post-traumatic stress disorder and depression. Psychol Med 2016; 46: 2571-2582
  • 6 Jordan W, Heinemann A, Marx A. Hrsg. Notfallpsychiatrie und psychotherapeutische Krisenintervention. Stuttgart, New York: Thieme; 2016

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Wolfgang Jordan, MBA, MIM
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinikum Magdeburg gGmbH
Birkenallee 34
39130 Magdeburg

  • Literatur

  • 1 Flüchter P, Müller V, Bischof F. et al. Notarztschulung über psychiatrische Notfälle: Evaluation eines interaktiven Fortbildungsprogramms. Psychiat Prax 2017; 44: 105-107
  • 2 Pajonk FG. Zur Situation der Notfall- und Akutpsychiatrie in Deutschland. Nervenarzt 2015; 86: 1081-1090
  • 3 Pajonk FG, Lubda J, Sittinger H. et al. Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Notärzten – eine Reevaluation nach 7 Jahren. Anaesthesist 2004; 53: 709-716
  • 4 Pajonk FG, Gärtner U, Sittinger H. et al. Psychiatrische Notfälle aus der Sicht von Rettungsdienstmitarbeitern. Notfall Rettungsmed 2004; 7: 161-167
  • 5 Wild J, Smith KV, Thompson E. et al. A prospective study of pre-trauma risk factors for post-traumatic stress disorder and depression. Psychol Med 2016; 46: 2571-2582
  • 6 Jordan W, Heinemann A, Marx A. Hrsg. Notfallpsychiatrie und psychotherapeutische Krisenintervention. Stuttgart, New York: Thieme; 2016

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