Abkürzungen
AO:
Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese
AUC:
Akademie der Unfallchirurgie
DGU:
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
DOAK:
direkte orale Antikoagulanzien
FKDS:
farbcodierte Doppler-Sonografie
GFK:
geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung
IMC:
Intermediate Care
OPS-Code:
Operationen- und Prozedurenschlüssel
pAVK:
periphere arterielle Verschlusskrankheit
SGB:
Sozialgesetzbuch
SOP:
Standard Operating Procedure
Einleitung
Bei vielen orthopädischen und unfallchirurgischen Krankheitsbildern ist ein interdisziplinäres
und auch interprofessionelles Management notwendig. Beispiele sind Erkrankungen mit
Systemcharakter wie muskuloskelettale Tumorerkrankungen und Erkrankungen des rheumatischen
Formenkreises. Dies gilt auch in der Schwerstverletztenversorgung, insbesondere in
der frühen klinischen Phase.
Zusätzlich besitzt in der Alterstraumatologie das interdisziplinäre und interprofessionelle
Management der Patienten eine herausragende Bedeutung. Die typischen geriatrischen
Verletzungen sind zwar zumeist Einzelverletzungen, deren chirurgische Behandlung in
der Orthopädie und Unfallchirurgie erfolgt. Aufgrund der häufigen Alterserkrankungen
und der besonderen Multimorbidität/Vulnerabilität geriatrischer Patienten stellen
das (perioperative) Management und die Rehabilitation aber eine Herausforderung dar,
die nur gemeinsam mit den verschiedenen medizinischen Fachrichtungen und weiteren
Berufsgruppen gemeistert werden kann.
Am Beispiel der Alterstraumatologie soll im Folgenden die Bedeutung der (gemeinsamen)
Behandlung verschiedener Fachrichtungen und auch verschiedener Berufsgruppen für die
optimale Behandlung in unserem Fachgebiet illustriert werden.
Begriffsbestimmung
Die Behandlung geriatrischer Patienten nimmt in der Orthopädie und Unfallchirurgie
eine zunehmend große Rolle ein. Es liegt keine strikte allgemeingültige Definition
für geriatrische Patienten vor. Gemäß der Definition der Deutschen Gesellschaft für
Geriatrie werden Patienten mit einem höheren Lebensalter (in der Regel 70 Jahre oder
älter) und einer „geriatrietypischen Multimorbidität“ als geriatrische Patienten definiert
[1]. Die „geriatrietypische Multimorbidität“ beinhaltet die in der Übersicht aufgeführten
Merkmale, von denen mindestens 2 erfüllt sein sollten.
Übersicht
Merkmale der „geriatrietypischen Multimorbidität“
Eine geriatrietypische Multimorbidität ist gegeben, wenn mindestens 2 der folgenden
Befunde vorliegen:
-
Immobilität
-
Sturzneigung/Schwindel
-
kognitive Defizite
-
Inkontinenz
-
Dekubitus
-
Fehl-/Mangelernährung
-
Flüssigkeits-/Elektrolythaushaltsstörung
-
Depression/Angststörung
-
Schmerz
-
Sensibilitätsstörung
-
herabgesetzte Belastbarkeit/Gebrechlichkeit
-
Seh-/Hörstörung
-
Medikationsproblem
-
hohes Komplikationsrisiko
-
verzögerte Rekonvaleszenz
Merke
Geriatrische Patienten sind durch ihr hohes Alter und die „geriatrietypische Multimorbidität“
gekennzeichnet.
In einigen Kliniken beträgt der Anteil der über 70-jährigen Patienten, von denen der
Großteil per Definition geriatrische Patienten sind, in der Orthopädie-Unfallchirurgie
schon heute bis zu 50%. Das unterstreicht die immense Bedeutung der Alterstraumatologie
für unser Fachgebiet.
Epidemiologie
Merke
Die nach wie vor bedeutendsten Frakturen sind die proximalen Femurfrakturen.
Die proximalen Femurfrakturen zählen mit ca. 140 000/Jahr in Deutschland bei den über
65-Jährigen zu den 10 häufigsten Hauptdiagnosen im Krankenhaus [2]. Trotz leicht gefallener altersadjustierter Inzidenz ist die Gesamtzahl der proximalen
Femurfrakturen in Deutschland in den letzten Jahren angestiegen. Darüber hinaus haben
die anderen Frakturen im Alter (s. [Übersicht]) deutlich zugenommen. Exakte epidemiologische Daten liegen nicht vor.
Übersicht
Typische altersassoziierte Frakturlokalisationen
Gemäß einer Hochrechnung aus dem Jahr 2011 war von 720 000 Frakturen pro Jahr in Deutschland
auszugehen [3]. Zu den Patienten mit Frakturen kommen viele Patienten, die mit einem Schädel-Hirn-Trauma,
z. B. aufgrund von Antikoagulanzieneinnahme, stationär überwacht werden müssen und
bei denen aufgrund der Multimorbidität nicht selten ebenfalls ein interdisziplinärer
Behandlungsbedarf besteht.
Der demografische Wandel wird in Zukunft zu einem weiteren zahlenmäßigen Anstieg älterer
Menschen führen. Besonders der Anteil der Hochaltrigen über 80 Jahre wird sich von
6% im Jahr 2015 auf voraussichtlich 11% im Jahr 2040 annähernd verdoppeln [4]. Daher wird voraussichtlich in den kommenden Jahren die Zahl der alterstraumatologischen
Patienten weiter spürbar zunehmen. Es ist zusätzlich davon auszugehen, dass der Anteil
der multimorbiden Patienten – also geriatrischen Patienten – in der Gruppe der älteren
Patienten weiter ansteigt.
Fazit
Aufgrund des demografischen Wandels wird sich der Anteil der geriatrischen Patienten
in der Orthopädie-Unfallchirurgie weiter erhöhen.
Interdisziplinäres Management – Geriatrie
Gemeinsam mit der Unfallchirurgie ist die Geriatrie die zentrale Fachdisziplin in
der Alterstraumatologie. Geriater sind gemäß Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer
Fachärzte, die die 18-monatige Zusatzweiterbildung Geriatrie bei einem Weiterbildungsbefugten
absolviert haben [5]. Auch wenn die Zusatzweiterbildung je nach Weiterbildungsordnung der jeweiligen
Landesärztekammer Fachärzten verschiedener Fachrichtungen – also auch Orthopäden und
Unfallchirurgen – möglich ist, sind die klinisch tätigen Geriater zumeist Internisten
oder Neurologen.
Merke
Geriater sind zumeist Fachärzte für Innere Medizin oder Neurologie, die sich durch
die Zusatzweiterbildung Geriatrie auf die Behandlung älterer Patienten spezialisiert
haben.
Internistische und neurologische Kenntnisse sind aufgrund der häufigen internistischen
und neurodegenerativen Alterserkrankungen, die mitursächlich für die geriatrietypische
Multimorbidität sind, in der Behandlung geriatrischer Patienten essenziell. Die geriatrische
(Mit-)Behandlung hat zum Ziel, nicht nur die geriatrietypische Multimorbidität zu
behandeln, sondern auch die ursächlichen Grunderkrankungen zu berücksichtigt bzw.
zu therapieren.
Für die Alterstraumatologie bedeutet das einen Paradigmenwechsel in der Behandlung
der Patienten, weg von der Betrachtung und Behandlung einer unfallchirurgischen Monoverletzung
hin zu der Sichtweise eines orthogeriatrischen Syndroms.
Merke
In der Alterstraumatologie darf nicht nur die Fraktur therapiert werden, sondern es
muss auch die Multimorbidität/Komorbidität mitbehandelt werden.
Durch das akute Trauma in Verbindung mit den Vorerkrankungen bzw. der Multimorbidität
ist die Selbsthilfefähigkeit der Patienten, die vor dem Unfall häufig noch gegeben
war, gefährdet.
Fazit
Hauptziel der gesamten Therapie ist damit der Erhalt bzw. die Wiedererlangung der
Selbsthilfefähigkeit der Patienten nach dem Unfall unter Vermeidung eines komplizierten
protrahierten Verlaufs im Kontext der Multimorbidität.
Um dieses Ziel besser erreichen zu können, wurden in Großbritannien bereits in den
1950er-Jahren eine erste interdisziplinäre unfallchirurgisch-geriatrische Behandlungseinheit
etabliert [6]. In den folgenden Jahrzehnten wurden weltweit bis heute viele verschiedene unfallchirurgisch-geriatrische
Kooperationsmodelle für die Akutbehandlung in der Alterstraumatologie entwickelt.
Nach Kammerlander werden 4 Grundtypen der gemeinsamen unfallchirurgisch-geriatrischen
Behandlung beschrieben (s. [Übersicht]). Die verschiedenen Behandlungsmodelle schließen die Zusammenarbeit mit anderen
ärztlichen Fachdisziplinen (wie z. B. der Anästhesie) sowie weiteren Berufsgruppen
im Krankenhaus mit ein. Auf diese Zusammenarbeit wird im Verlauf des Artikels konkreter
eingegangen.
Übersicht
Bisher in Deutschland etablierte Kooperationsmodelle in der Alterstraumatologie
-
Behandlung in der Unfallchirurgie mit Konsultationsmöglichkeit durch einen Geriater
-
Behandlung in der Unfallchirurgie mit täglichen geriatrischen Visiten
-
Behandlung in der Geriatrie mit unfallchirurgischen Visiten/Konsilen
-
Gemeinsame unfallchirurgisch-geriatrische Behandlung
nach Kammerlander et al. [7]
Fazit
Im Zentrum der interdisziplinären Behandlung in der Alterstraumatologie stehen die
Unfallchirurgie-Orthopädie und die Geriatrie, aber auch andere Fachdisziplinen wie
die Anästhesie und andere Berufsgruppen wie die Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie
und der Sozialdienst sind elementar in die Behandlung involviert.
Es ist zu vermuten, dass die Patienten am meisten von der gemeinsamen Behandlung profitieren,
wenn eine möglichst intensive Kooperation von Beginn der stationären Behandlung an
besteht. Im Idealfall findet die Behandlung integrativ auf einer gemeinsam – unfallchirurgisch-geriatrisch
– geführten Station statt, die auf die Behandlung alterstraumatologischer Patienten
spezialisiert ist.
Die Umsetzung der gemeinsamen Behandlung wird in Deutschland durch verschiedene Faktoren
beeinflusst. Zum einen haben die unterschiedlichen Geriatriekonzepte in den verschiedenen
Bundesländern, in denen der Schwerpunkt der Weiterbehandlung entweder auf das Akutkrankenhaus
(§ 108/109 SGB V), eine weiterführende Rehabilitationseinrichtung (§ 111 SGB V) oder
eine Mischung aus beidem gelegt wird, unmittelbaren Einfluss auf die Vergütung der
Behandlung und damit auch auf die verschiedenen Kooperationsformen [8]. Zum anderen bestimmen die lokalen Gegebenheiten und die begrenzte Verfügbarkeit
von Geriatern in den einzelnen Kliniken die konkrete Umsetzung der interdisziplinären
Behandlung. Teilweise befinden sich z. B. die Kliniken für Unfallchirurgie und Geriatrie
an verschiedenen Standorten.
Gemessen an den Behandlungsergebnissen von Patienten mit proximaler Femurfraktur führt
die gemeinsame Behandlung dieser Frakturen durch Unfallchirurgen und Geriater durchweg
zu positiven Ergebnissen. Je nach Studie konnten eine Reduktion der Mortalität und
der Komplikationen und eine Verbesserung funktioneller Parameter verglichen mit der
Standardtherapie erzielt werden [9], [10]. In Zentren ist die integrative unfallchirurgisch-geriatrische Behandlung proximaler
Femurfrakturen daher auch kosteneffektiver und wirtschaftlicher als die Standardbehandlung
durch eine Disziplin allein [10], [11]. Auch wenn die bisherigen Studien alle zu proximalen Femurfrakturen durchgeführt
wurden, ist zu vermuten, dass auch geriatrische Patienten mit anderen Verletzungen
von einer unfallchirurgisch-geriatrischen Zusammenarbeit profitieren.
Merke
Für Patienten mit proximaler Femurfraktur ist mittlerweile erwiesen, dass die interdisziplinäre
Behandlung zu besseren Behandlungsergebnissen führt und kosteneffektiver ist als die
Standardbehandlung.
In Anbetracht der Überlegenheit des unfallchirurgisch-geriatrischen Managements und
der deutlichen Zunahme an Fragilitätsfrakturen in Industrienationen entstehen in England
und Amerika zunehmend sogenannte Hip-Fracture-Center und in Deutschland Zentren für
Alterstraumatologie. Seit 2014 können sich Zentren für Alterstraumatologie als AltersTraumaZentrum
DGU® zertifizieren lassen. Bei der Zertifizierung – herausgegeben von der DGU und umgesetzt
von der AUC (Akademie der Unfallchirurgie) GmbH – werden, mit dem Ziel der Verbesserung
der Behandlungsqualität und Behandlungssicherheit, verschiedene Kriterien überprüft
[12].
Merke
Zentren für Alterstraumatologie können sich als AltersTraumaZentrum DGU® zertifizieren lassen.
Grundsätze in der Behandlung alterstraumatologischer Patienten nach Mendelsohn
Die Grundsätze in der Behandlung alterstraumatologischer Patienten wurden von Mendelsohn
und Mitarbeitern in 5 Prinzipien zusammengefasst, an denen sich die Behandlung orientieren
sollte ([Tab. 1]) [13].
Tab. 1 Die gemeinsame orthogeriatrische Behandlung folgt nach Mendelsohn et al. 5 Prinzipien
[13].
Prinzip
|
1
|
Die Patienten profitieren von der chirurgischen Stabilisation der Fraktur.
|
2
|
Je früher die Operation stattfindet, desto geringer die Zahl und Schwere der Komplikationen.
|
3
|
Regelmäßige und strukturierte interdisziplinäre/interprofessionelle Kommunikation
vermeidet Komplikationen.
|
4
|
Die Behandlung erfolgt nach standardisierten Protokollen.
|
5
|
Die Entlassplanung beginnt mit der Aufnahme.
|
Prinzip 1: Patienten profitieren von der chirurgischen Stabilisation der Fraktur
Die Frakturen geriatrischer Patienten müssen größtenteils operativ versorgt werden.
-
Nach operativer Stabilisierung erreichen die Patienten in der Regel schneller ein
höheres Funktionsniveau und eine schnellere Schmerzfreiheit verglichen mit der konservativen
Therapie. Dies gilt auch für die Behandlung von distalen Radius- und proximalen Humerusfrakturen
sowie osteoporotischen Wirbelfrakturen, bei denen eine konservative Therapie diskutiert
wird.
-
Eine Ruhigstellung der Extremität kann bei Patienten, deren Selbsthilfefähigkeit von
der Funktionstüchtigkeit aller Extremitäten abhängt, zu einem Verlust der Selbstständigkeit
führen und ist daher zu vermeiden.
-
Die Entwicklung der Implantate (z. B. polyaxial winkelstabile Implantate oder Zementaugmentationen)
und der zunehmende Einsatz von Frakturprothesen haben zudem zu einer deutlichen Verbesserung
der technischen Versorgungsmöglichkeiten von osteoporotischen Frakturen und Minimierung
von Komplikationen – selbst bei sehr schlechter Knochenqualität – geführt.
-
Zusätzlich reduziert der zunehmende Einsatz von regionalen Anästhesieverfahren das
Operationsrisiko und erlaubt perioperativ eine deutliche Reduktion von Schmerzmittel
mit der damit verbundenen Verminderung an Nebenwirkungen (s. u.).
In einigen Behandlungssituationen (z. B. bei sehr hohem Operationsrisiko oder besonderen
Konstellationen des Patienten) ist es sinnvoll, interdisziplinär mit Geriatern und
Anästhesisten unter Einbeziehung des Patienten und ggf. dessen Angehörigen das Therapiekonzept
(operativ vs. konservativ) abzustimmen.
Unmittelbar mit der Behandlung der Fraktur geriatrischer Patienten ist die Abklärung
bzw. die Therapie der zumeist zugrunde liegenden Osteoporose zur Prophylaxe weiterer
Frakturen essenziell. Ein interdisziplinäres und auch intersektorales Netzwerk mit
Osteologen, also Internisten, Gynäkologen und Orthopäden-Unfallchirurgen kann helfen,
den Anteil der Patienten, die eine adäquate Osteoporosetherapie erhalten, zu erhöhen
[14].
Cave
Die Abklärung der mutmaßlich der Fraktur zugrunde liegenden Osteoporose darf nicht
vergessen werden.
Prinzip 2: Je früher die Operation stattfindet, desto geringer die Zahl und Schwere
der Komplikationen
Ein verlängerter präoperativer Aufenthalt über 48 Stunden ist mit einer Erhöhung der
Mortalität und Komplikationsrate assoziiert [15].
Merke
Patienten sollten innerhalb der ersten 24 Stunden – spätestens allerdings nach 48
Stunden – nach Aufnahme versorgt werden.
Um die präoperative Verweildauer zu minimieren, müssen gemeinsam mit den beteiligten
Fachabteilungen Konzepte für die präoperative Vorbereitung der Patienten geschaffen
werden. Diese beinhalten neben dem standardisierten Management von Antikoagulanzien
(s. u.) z. B. auch den präoperativen Ausgleich von Störungen des Flüssigkeitshaushalts
und der Elektrolyte. Präoperative Zusatzuntersuchungen wie z. B. Echokardiografien
sind nur in Ausnahmefällen individuell angezeigt, um das perioperative Management
bei kardialer und nephrogener Insuffizienz zu verbessern.
Prinzip 3: Regelmäßige und strukturierte interdisziplinäre/interprofessionelle Kommunikation
vermeidet Komplikationen
Prinzip
Interdisziplinarität
Interdisziplinarität bedeutet gemeinsame Verantwortung für den Patienten während des
gesamten stationären Aufenthalts mit gemeinsamen Visiten.
Im Gegensatz zu einer multidisziplinären Behandlung erfolgt bei einer interdisziplinären
Behandlung nicht die isolierte Optimierung einzelner Organsysteme, sondern die gemeinsame,
patientenzentrierte Therapie mit dem Ziel, ein gemeinsam für und mit dem Patienten
definiertes Ergebnis zu erreichen. Es werden die Entscheidungen gemeinsam getroffen
und nicht an Mittelsmänner delegiert. Darüber hinaus erfolgt eine enge interprofessionelle
Kommunikation mit der Pflege, Physiotherapie und dem Sozialdienst in regelmäßigen
Teambesprechungen, die zu einer deutlichen Verringerung des Informationsverlustes
führt (s. u.).
Prinzip 4: Die Behandlung erfolgt nach standardisierten Protokollen/SOPs
Die Behandlung der häufigen Frakturen (proximale Femurfrakturen, proximale Humerusfrakturen,
distale Radiusfrakturen, Wirbelkörperfrakturen, Beckenfrakturen, periprothetische
Frakturen) sollte nach standardisierten Protokollen (sogenannten SOPs = Standard Operation
Procedures) erfolgen. Ebenso sollten SOPs für das Management häufiger Behandlungskonstellationen
bzw. Problemstellungen (z. B. Schmerzen, Osteoporose, Antikoagulation, Mangelernährung)
bestehen. Diese müssen auf den geriatrischen Patienten ausgerichtet sein und interdisziplinär/interprofessionell
abgestimmt werden.
Durch die SOPs wird die Behandlungssicherheit/Behandlungsqualität erhöht, und es werden
ungewollte Abweichungen von der optimalen Therapie reduziert. Wenn von den SOPs abgewichen
wird, dann muss diese Abweichung spezifisch und individuell indiziert sein. Die für
die Zertifizierung zum AltersTraumaZentrum DGU notwendigen unfallchirurgischen und
geriatrischen Protokolle sind in einem Kriterienkatalog niedergelegt [16].
Prinzip 5: Entlassplanung beginnt bei der Aufnahme
Erleiden geriatrische Patienten eine Fraktur, führt dies häufig zu einem anhaltenden
signifikanten Einschnitt in der Mobilität und der Selbsthilfefähigkeit. Der überwiegende
Teil der Patienten kann daher nicht ohne Weiteres nach der Akutbehandlung nach Hause
entlassen werden. Aufgrund des z. T. langen zeitlichen Vorlaufs für die Organisation
einer möglichen Weiterbehandlung (z. B. einer Rehabilitation), von Hilfsmitteln für
zu Hause oder eines (Übergangs-)Pflegeplatzes muss bereits möglichst frühzeitig mit
der Planung der Entlassung begonnen werden (s. u.).
In den folgenden Abschnitten wird anhand von Fallbeispielen die Zusammenarbeit mit
weiteren Fachdisziplinen neben der Unfallchirurgie und Geriatrie in der Alterstraumatologie
erläutert.
Interdisziplinäres Management – Anästhesie
Eine perioperative Zusammenarbeit mit der Anästhesie ist in chirurgischen Fächern
selbstverständlich. Bei geriatrischen Patienten kommt dieser Zusammenarbeit aufgrund
der Vulnerabilität der Patienten eine besondere Bedeutung zu. Zum einen sind die operativen
Verfahren und auch die Anästhesieverfahren mit einem erhöhten Risiko verbunden, sodass
auch die Anwendung regionaler Anästhesieverfahren in Erwägung zu ziehen ist.
Merke
In der Alterstraumatologie sollte – wenn möglich – der Einsatz regionaler Anästhesieverfahren
erwogen werden.
Zum anderen müssen die Operationen dringlich, d. h. also ohne eine mehrtägige Vorbereitung
des Patienten, durchgeführt werden. Zusätzlich müssen die Patienten nicht selten nach
einer Operation auf einer IMC-Station oder sogar auf einer Intensivstation überwacht
werden. Zuletzt ist die postoperative Schmerztherapie für die Patienten von großer
Bedeutung. Aufgrund der Nebenwirkungen systemischer Analgetika sollte auch der Einsatz
von regionalen analgetischen Verfahren erwogen werden. So können z. B. bei Eingriffen
im Schulterbereich interskalenäre Blockaden bei der operativen Versorgung und für
die postoperative Schmerztherapie angewendet werden ([Fallbeispiel 1]).
Fallbeispiel 1
Eine 82-jährige Patientin zog sich bei einem Sturz aufgrund einer Synkope eine 3-Teile-Fraktur
des proximalen Humerus zu ([Abb. 1]).
Abb. 1 Dislozierte 3-Teile-Fraktur des proximalen Humerus bei einer 83-jährigen Patientin.
Anamnestisch bestanden eine eingeschränkte Belastbarkeit und Schwindel bei Belastung.
Daraufhin wurde eine Echokardiografie durchgeführt und präoperativ eine Aortenklappenstenose
mit einer Öffnungsfläche von 1,0 cm diagnostiziert. Aufgrund des erhöhten Narkoserisikos
erfolgte nach Indikationsstellung zur Plattenosteosynthese die Durchführung des Eingriffs
in Regionalanästhesie. Zusätzlich wurde ein Schmerzkatheter zur postoperativen Analgesie
angelegt ([Abb. 2]).
Abb. 2 Beispielbild: interskalenäre Plexusblockade. Am Hinterrand des M. sternocleidomastoideus
wird auf Höhe der Incisura thyroidea superior nach kaudal Richtung Klavikulamitte
punktiert. Dabei ist die V. jugularis externa (blau eingezeichnet) zu schonen. Nach
3 – 4 cm wird der Truncus superior des Plexus brachialis erreicht – erkennbar an einer
Kontraktion des M. biceps brachii durch den Nervenstimulator.(Quelle: Meier G, Büttner
J, Hrsg. Atlas der peripheren Regionalanästhesie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2013:
57)
[Abb. 3] zeigt das postoperative radiologische Ergebnis.
Abb. 3 Postoperatives Röntgenbild nach polyaxial winkelstabiler Plattenosteosynthese.
Interdisziplinäres Management – Gerinnungsphysiologie
Über die Hälfte der geriatrischen Patienten nimmt Antiaggreganzien (z. B. Azetylsalizylsäure
oder Clopidogrel) oder Antikoagulanzien wie Vitamin-K-Antagonisten (Phenprocoumon)
oder zunehmend auch die sogenannten direkten oralen Antikoagulanzien (z. B. Rivaroxaban
oder Abixaban) ein. Während die Antiaggreganzien zumeist perioperativ weitergegeben
werden sollten, müssen die Antikoagulanzien in Abhängigkeit vom Blutungs- und Thrombembolierisiko
zumeist pausiert und z. T. antagonisiert und überbrückt werden.
Merke
Antiaggreganzien werden perioperativ zumeist weitergegeben. Antikoagulanzien werden
in der Regel pausiert, antagonisiert und/oder überbrückt.
Insbesondere die Behandlung von Patienten mit den neueren direkten oralen Antikoagulanzien
(DOAK) sollte in Abstimmung mit einem Gerinnungsspezialisten erfolgen (Fallbeispiel
2).
Praxistipp
Es ist sehr hilfreich, gemeinsam mit dem Kollegen für die verschiedenen Medikamente
SOPs zu erstellen, um eine Sicherheit im perioperativen Umgang mit den verschiedenen
Medikamenten erlangen.
[Tab. 2] nach Maegele et al. gibt Empfehlungen zu den DOAK (direkte orale Antikoagulanzien),
wann welche operativen Eingriffe durchgeführt werden können [17]. Die DOAK werden im Regelfall pausiert und nicht überbrückt. Die Medikamenteneinnahme
kann ca. 24 – 36 Stunden nach der Operation wieder aufgenommen werden.
Tab. 2 Empfehlungen zum Zeitintervall zwischen letztmaliger DOAK-Einnahme und Eingriff unter
Berücksichtigung von Blutungsrisiko und Nierenfunktion (nach [17]).
Nierenfunktion CrCl (ml/min)
|
Apixaban/Edoxaban/Rivaroxaban
|
Dabigatran
|
RelBltg –
|
RelBltg +
|
RelBltg –
|
RelBltg +
|
CrCl = Kreatininclearance; DOAK = direkte orale Antikoagulanzien; RelBltg = Blutungsrisiko
im Rahmen des Eingriffs
|
≥ 80
|
≥ 24 h
|
≥ 48 h
|
≥ 24 h
|
≥ 48 (− 72) h
|
50 – 79
|
≥ 24 h
|
≥ 48 (− 72) h
|
≥ 36 h
|
≥ 72 (− 96) h
|
30 – 49
|
≥ 24 h
|
≥ 48 (≥ 72 – 96) h
|
≥ 48 h
|
≥ 96 h
|
15 – 29
|
≥ 36 h
|
≥ 48 (≥ 96) h
|
keine Indikation für DOAK
|
< 15
|
keine Indikation für DOAK
|
Eine 87-jährige Patientin wurde nach einem Sturz morgens um 6 Uhr in die Klinik eingeliefert.
Einnahme von Abixaban bei Vorhofflimmern (5 mg 1 – 0 – 1) zuletzt am Vorabend um 18 Uhr.
Die Diagnostik zeigte eine pertrochantäre Femurfraktur rechts (A2 nach AO) ([Abb. 4]).
Abb. 4 Pertrochantäre Femurfraktur rechts bei einer 87-jährigen Patientin.
Die Nierenfunktion war normal. Gemäß klinikinterner Leitlinie wurde Abixaban pausiert
und die Operation am Abend des Unfalls um 20 Uhr mit einem Marknagel durchgeführt
([Abb. 5]).
Abb. 5 Postoperatives Röntgenbild nach Marknagelosteosynthese.
Postoperativ wurde Abixaban ab dem 2. postoperativen Tag wieder eingenommen. Es zeigte
sich zwar ein diffuses Hämatom als Einblutung durch die Fraktur, es bestand aber kein
operativer Interventionsbedarf ([Abb. 6]).
Abb. 6 Ausbildung eines flächigen – nicht interventionsbedürftigen – Hämatoms postoperativ.
Eine thrombembolische Komplikation trat nicht auf.
Interdisziplinäres Management – Angiologie/interventionelle Radiologie/Gefäßchirurgie
Die häufige Einnahme von gerinnungshemmenden Medikamenten deutet auf kardiovaskuläre
Erkrankungen hin. Bei etwa 20% der Patienten besteht auch eine periphere arterielle
Verschlusskrankheit (pAVK), die z. T. nicht bekannt ist [18].
Praxistipp
Bei geriatrischen Patienten mit Verletzungen der unteren Extremität (insbesondere
bei Frakturen des Sprunggelenks) kommt dem optimalen Weichteilmanagement zur Vermeidung
von Wundheilungsstörungen und Infektionen eine große Bedeutung zu. Daher sollte neben
einer möglichst weichteilschonenden Operationstechnik präoperativ der Gefäßstatus
abgeklärt werden.
Bei klinisch unklarem Pulsstatus sollte mittels FKDS (farbcodierte Doppler-Sonografie)
und/oder CT-Angiografie eine relevante pAVK ausgeschlossen werden. In einigen Fällen
kann durch Stentimplantation bzw. perkutane transluminale Angioplastie mittels Katheterintervention
oder ggf. auch durch Anlage eines Bypasses durch die Gefäßchirurgie die periphere
Durchblutung verbessert werden. Damit kann möglichen Wundheilungsstörungen vorgebeugt
werden (s. [Fallspiel 3]).
Fazit
Zur Prophylaxe von Weichteilkomplikationen sollte bei Frakturen des Sprunggelenks
präoperativ eine Gefäßabklärung erfolgen.
Eine 79-jährige Patientin erlitt eine bimalleolare Sprunggelenkfraktur. Bei der klinischen
Untersuchung waren keine Fußpulse tastbar. Notfallmäßig wurde die Fraktur geschlossen
reponiert und ein Fixateur externe angelegt ([Abb. 7]).
Abb. 7 Bimalleolarfraktur einer 79-jährigen Patientin nach geschlossener Reposition und
Fixateur-Anlage.
Die Patientin wurde in der Angiologie vorgestellt und dort mittels Duplexsonografie
der V. a. einer pAVK gestellt. Die CT-Angiografie bestätigte den Verdacht mit mehreren
Stenosen der A. tibialis anterior (Pfeile, [Abb. 8 a]). Eine perkutane transluminale Angioplastie führte zu einer deutlich verbesserten
Durchblutung ([Abb. 8 b]).
Abb. 8 Angiografie mit Stenosen der A. tibialis anterior.
a Stenosen der A. tibialis anterior.
b Verbesserte Durchblutung nach perkutaner transluminaler Angioplastie.
Anschließend erfolgte mittels perkutaner Schraubenosteosynthese und eingeschobener
minimalinvasiver Plattenosteosynthese die operative Versorgung ([Abb. 9]). Postoperativ heilten die Wunden primär ohne Komplikationen aus.
Abb. 9 Postoperatives Röntgenbild nach perkutaner Schraubenosteosynthese und eingeschobener
polyaxial winkelstabiler Plattenosteosynthese.
Interprofessionelles Management – Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen
Eine vertrauensvolle und enge interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen den behandelnden
Ärzten und den anderen Berufsgruppen im Krankenhaus wie Pflegekräften, Therapeuten
und den Mitarbeitern des Sozialdienstes ist gerade in der Alterstraumatologie essenziell.
Durch regelmäßige Teamsitzungen, an denen neben den Ärzten auch die anderen genannten
Berufsgruppen teilnehmen, und die tägliche gemeinsame Arbeit auf der Station wird
eine optimale Kommunikation sichergestellt. Es können gemeinsam (realistische) Behandlungsziele
definiert und geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um diese Ziele zu erreichen. Während
des gesamten Behandlungsprozesses muss ein regelhafter Austausch über die Fortschritte
in der Behandlung, aber auch über mögliche Probleme oder Komplikationen sichergestellt
und die Therapie ggf. angepasst werden.
Merke
Bei der interdisziplinären Behandlung muss eine engmaschige Kommunikation zwischen
den verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen z. B. durch Teamsitzungen 1 – 2 ×
wöchentlich hergestellt werden.
Pflege
Die Pflegekräfte haben den meisten Kontakt zu den Patienten. Die Pflege sollte aktivierend-therapeutisch
durch geriatrisch geschultes Pflegepersonal erfolgen. Gerade im Hinblick auf die Entstehung
bzw. Prophylaxe eines Delirs kommt den Pflegekräften eine entscheidende Rolle zu.
Zum einen stellt eine möglichst große Kontinuität in der Pflege einen prophylaktischen
Faktor im Hinblick auf die Entstehung eines Delirs dar. Zum anderen sind die Pflegekräfte
auch für reorientierende Maßnahmen bei den Patienten, mit denen ein Delir wirkungsvoll
vermieden werden kann, zuständig. Zusätzlich können Symptome eines Delirs am frühzeitigsten
durch geschultes Pflegepersonal erkannt werden.
Merke
Um ein Delir frühzeitig zu erkennen, sollten durch die Pflegekräfte regelmäßig Screening-Tools
zum Einsatz kommen.
Bei auffälligem Ergebnis sollten gemeinsam mit den behandelnden Ärzten entsprechende
diagnostische und therapeutische Maßnahmen ergriffen werden [19].
Therapiebereiche
In der (frühen) postoperativen Phase kommt den Therapeuten eine große Bedeutung zu.
Neben der klassischen Physiotherapie sollen in der Alterstraumatologie zusätzlich
auch Ergotherapie, Logopädie und psychologische Interventionen eingesetzt werden.
Wird in einem Krankenhaus die sogenannte Geriatrische Frührehabilitative Komplexbehandlung
(GFK) durchgeführt, müssen mindestens 2 der 4 zuvor genannten Therapiebereiche teamintegriert
zum Einsatz kommen [20]. Nur mithilfe intensiver und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten ausgerichteter
Therapie aus den verschiedenen Bereichen kann es gelingen, die Patienten wieder mobil
zu machen und zu helfen, langfristig die Selbstständigkeit wiederzuerlangen bzw. zu
erhalten.
Sozialdienst
Gemäß den Behandlungsprinzipien in der Alterstraumatologie beginnt die Entlassplanung
bereits bei der Aufnahme. Auch im OPS-Code der GFK ist das Soziale Assessment als
Mindestmerkmal fest verankert. Dabei wird der Status der Patienten in 5 Bereichen
erhoben (s. [Übersicht]) [20].
Übersicht
OPS-Code der GFK ist das Soziale Assessment der Geriatrischen Frührehabilitativen
Komplexbehandlung (GFK)
In der frühen Phase ist zunächst die Erfassung rechtlicher Verfügungen wie Patientenverfügungen,
Vorsorgevollmachten und gesetzlicher Betreuung bedeutend.
Praxistipps
Erfahrungsgemäß liegt bei über 50% der Patienten eine rechtliche Verfügung vor, aus
der sich nicht selten perioperativ therapeutische Konsequenzen ergeben können [21].
Im umgekehrten Fall kann auch aufgrund eines komplizierten Verlaufs z. B. die Einrichtung
einer gesetzlichen Betreuung notwendig sein. Dafür ist die initiale Erfassung des
sozialen Umfeldes sehr hilfreich.
Möglichst früh wird durch den Sozialdienst je nach Behandlungssituation ein geeigneter
Weiterbehandlungsplatz für die Patienten organisiert. Ist eine Entlassung nach Hause
vorgesehen, steht die – interprofessionell abgestimmte – Versorgung mit ggf. notwendigen
Hilfsmitteln für das häusliche Umfeld im Vordergrund. Zusätzlich muss die Koordination
bereits bestehender Unterstützung durch soziale Dienste und die Kommunikation mit
der Familie des Patienten erfolgen. In einigen Fällen muss auch ein Platz in der Übergangspflege
oder ein dauerhafter Pflegeplatz organisiert werden.
Eine unzureichende bzw. zeitverzögerte Planung der Entlassung führt nicht selten zu
einem (unnötig) verlängerten Krankenhausaufenthalt, welcher im Sinne der Patienten,
aber auch der Kostenträger vermieden werden sollte.
Cave
Wird zu spät mit der Entlassplanung der Patienten begonnen, kann dies zu Verzögerungen
im Behandlungsablauf führen.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Benjamin Bücking, Marburg.