Passagere Erblindung nach Vollnarkose
Ein 62-jähriger Mann unterzog sich ambulant einer rechtsseitigen Schulterarthroskopie
in
Intubationsnarkose. Der mittlere arterielle Druck wurde unter kontinuierlicher Gabe
von nicht-kolloidalen Infusionslösungen perioperativ > 70 mmHg dokumentiert. Nach
Beendigung der Narkose erwachte der Patient vollständig erblindet. Er erhielt eine
intravenöse Volumentherapie mit Ringer-Laktat-Lösung. Im weiteren Verlauf gab er an,
zunächst wieder Farben und Umrisse erkennen zu können. Bei der notfallmäßigen Vorstellung
in unserer Klinik war der Visus bis auf ein leichtes Verschwommensehen wieder normalisiert.
Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen oder andere neurologische Symptome bestanden
nicht. An Vorerkrankungen waren eine Adipositas und eine medikamentös behandelte arterielle
Hypertonie bekannt. Der arterielle Blutdruck betrug 193 mmHg systolisch. Die kraniale
Bildgebung mittels CCT zeigt [Abb. 1]. Duplexsonografisch fanden sich geringe Gefäßwandunregelmäßigkeiten im Bulbus caroticus
beidseits. Stenosen der Aa. cerebri posteriores bestanden nicht. Laborchemisch zeigte
sich ein Hb-Wert von 16,1 g/dl (Norm 13,5 – 16 g/dl) sowie ein Blutzucker von 146 mg/dl
und ein postoperativer CK-Wert von 444 U/l (Norm < 190 U/l). Das EKG mit Rhythmusstreifen
erbrachte einen normfrequenten Sinusrhythmus.
Abb. 1 Natives CCT in axialer (links) und sagittaler (rechts) Schichtung.
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Welche Diagnose stellen Sie?
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Welche Differenzialdiagnosen sind zu erwägen?
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Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Die bilaterale ischämische Optikusneuropathie in Folge eines operativen Eingriffs
in Intubationsnarkose ist eine sehr seltene anästhesiologische Komplikation. Nach
nicht-ophthalmologischen Eingriffen beträgt die Inzidenz einer persistierenden Erblindung
0,0008 %. Die Prävalenz eines perioperativen Visusverlustes hängt stark von der Art
des operativen Eingriffes ab und liegt zwischen 0,12 – 8,64/10 000. Das höchste Risiko
besteht bei herz- und wirbelsäulenchirurgischen Eingriffen in Bauchlage. Der pathophysiologische
Mechanismus einer ischämischen Schädigung des Sehnerven ist hierbei der am weitaus
häufigste ([Tab. 1]) [1]
[2].
Tab. 1
Differenzialdiagnosen eines perioperativen Visusverlustes. Häufige Differenzialdiagnosen
eines perioperativen Visusverlustes.
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ZAV
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ZVV
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ION
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PRES
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Mechanismus
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embolisch-ischämisch externer Druck
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thrombotisch-ischämisch externer Druck
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hämodynamisch-ischämisch
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Störung der Autoregulation Endotheldysfunktion
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Klinik
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Gesichtsfelddefekt LR gestört RAPD
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Gesichtsfelddefekt Verschlechterung im Liegen RAPD
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Gesichtsfelddefekt
LR gestört
RAPD
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Gesichtsfelddefekt Kopfschmerz Agnosie LR erhalten kein RAPD
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ophthalmologischer Befund
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kirschrote Makula
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retinale Blutungen cotton wool spots dilatierte Venen
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Papille abgeblasst, geschwollen
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normal (abgesehen von Gesichtsfelddefekt)
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cMRT Befund
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normal
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normal
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normal
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bilaterale parieto-occipital betonte T2-Hyperintensitäten
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mögliche Therapie
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Acetazolamid, Bulbusmassage, ggf. Fibrinolyse
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Pentoxyfillin, Hämodilution, ggf. Fibrinolyse
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Ausgleich einer Anämie, Hämodilution
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Blutdrucksenkung, je nach Auslösung (Noxen ausschalten, immunsuppressiv?)
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ZAV = Zentralarterienverschluss, ZVV = Zentralvenenverschluss, ION = ischämische Optikusneuropathie,
PRES = posteriores reversibles Enzephalopathiesyndrom, LR = Lichtreaktion, RAPD = relatives
afferentes Pupillendefizit
Schulteroperationen bergen aufgrund der sitzenden Lagerung („beachchair-Lagerung“)
ebenfalls ein Risiko. Neben dem Visusverlust sind schwere zerebrale oder spinale Ischämien
auch bei jüngeren Patienten ohne erhöhtes zerebrovaskuläres Risiko in der sitzenden
Position berichtet worden. Eine intraoperative Überstreckung oder Rotation der Halswirbelsäule
erhöht das Risiko [3].
Neben der intraoperativen Lagerung sind als weitere Risikofaktoren Adipositas, männliches
Geschlecht, arteriosklerotische Vorerkrankungen, lange Operationsdauer, hoher Blutverlust
und der Einsatz kolloidaler Infusionslösungen bekannt [1]
[4]. Histopathologische Studien sind nur in Einzelfällen durchgeführt worden. Hierbei
zeigte sich neben einem interstitiellen Ödem des Nervus opticus ein Myelinverlust
sowie eine Erythrozytendiapedese als Hinweise auf die ischämische Genese [5].
Fundierte wissenschaftliche Daten sind nach wie vor rar. In den ersten Tagen bis Wochen
kann es postoperativ noch zu einer progredienten Visus- und Gesichtsfeldeinschränkung
kommen. Die Prognose hinsichtlich einer vollständigen Restitution ist in der Regel
schlecht, Defektheilungen sind die Regel.
Differenzialdiagnostisch kommt bei einem akuten postoperativen Visusverlust ein beidseitiger
Zentralarterien- oder Venenverschluss mit ebenfalls schlechter Prognose in Frage [6]. Des Weiteren ist eine postoperative kortikale Erblindung im Rahmen eines posterioren
reversiblen Enzephalopathiesyndroms (PRES) eine mögliche Differenzialdiagnose. Hierbei
ist unter anderem der Zusammenhang zu einer perioperativen arteriellen Hypertonie
sowie die klinische Präsentation mit begleitenden Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen
sowie Verwirrtheit entscheidend. In diesem Falle bestünde die Therapie in einer Senkung
des arteriellen Blutdrucks [7].
Therapeutisch gibt es keine etablierten Strategien oder einheitlichen Empfehlungen
zur Behandlung der postoperativen ischämischen Optikusneuropathie. Aufgrund der bekannten
Risikofaktoren kann die Korrektur einer Anämie oder hämodynamische Stabilisierung
erfolgreich sein [1]
[5]. Die größte Bedeutung kommt der Prophylaxe zu: Hypotensive arterielle Blutdruckwerte
und venöse Stauungen im Kopfbereich sollten soweit möglich vermieden werden. In unserem
Fall führten wir die intravenöse Flüssigkeitsgabe fort und beließen die erhöhten arteriellen
Druckwerte zunächst. Entscheidend bei diesem Vorgehen in der Abgrenzung zum PRES ist
die Kenntnis des Krankheitsbildes der postoperativen ischämischen Optikusneuropathie
und deren Risikofaktoren sowie die Kenntnis der perioperativen arteriellen Blutdruckwerte.
Klinisch kann das Vorhandensein eines relativen afferenten Pupillendefizites oder
eine funduskopisch geschwollene abgeblasste Papille hinweisend auf eine ischämische
Optikusneuropathie sein [5]. Eine sichere Abgrenzung kann mittels kranialer MRT gelingen. Bei einem PRES zeigt
diese typischerweise bilaterale parietookzipital betonte T2-Hyperintensitäten als
Ausdruck des vasogenen Ödems. CT-morphologisch ergaben sich keine Hinweise auf ein
Ödem. In unserem Fall wurde in der Akutsituation kein ophthalmologischer Befund erhoben.
Es wurde augenärztlicherseits eine ambulante Gesichtsfeldperimetrie im Verlauf empfohlen,
welche in der ersten postoperativen Woche durchgeführt wurde. Im Vergleich zu einem
präoperativen ophthalmologischen Normalbefund zeigten sich keine Veränderungen. Der
Patient hatte subjektiv im Verlauf keinerlei Symptome mehr. Insgesamt hielt die Symptomatik
bis zur vollständigen Wiedererlangung des Visus einige Stunden an.
Lehrreich an diesem Fall ist das Auftreten der bilateralen ischämischen Optikusneuropathie
trotz Einhalten eines mittleren arteriellen Blutdruckes von > 70 mmHg allerdings beim
Vorliegen anderer Risikofaktoren (männliches Geschlecht, Adipositas, sitzende Lagerung)
sowie der glücklicherweise sehr seltene günstige Verlauf mit vollständiger Wiedererlangung
des Visus.