Handchir Mikrochir Plast Chir 2017; 49(05): 352-354
DOI: 10.1055/s-0043-118796
Der interessante Fall
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Spätfolgen einer Stichverletzung am Unterarm mit Inkorporation eines Fremdkörpers

Late sequelae of a stab injury in the forearm with incorporation of a foreign body
Roland Ludwig Stocker
,
Alexandra Macheiner
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Publication History

Publication Date:
17 October 2017 (online)

Fallbericht

Ein 33-jähriger gesunder Handwerker wurde aufgrund einer massiven Streckhemmung der Finger seiner rechten, dominanten Hand vorstellig. Er gab an, dass ihm vor ca. 4 Jahren erstmals ein leichtes Streckdefizit der Finger aufgefallen sei. Dieses Streckdefizit hätte in den vergangenen Jahren langsam, aber massiv zugenommen. Aufgrund der erheblichen Behinderung drohe ihm der Verlust des Arbeitsplatzes. Vor 2 Jahren sei bereits eine Rückstufung vom Kfz-Mechanikermeister zum Schweißer erfolgt. Trotz Vorstellung bei mehreren Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen, mehreren Röntgenuntersuchungen und einer Kernspintomographie der Hand und des Handgelenkes wäre keine Ursache gefunden worden. Die durchgeführte Physiotherapie hätte keine Besserung ergeben. Ein Unfall war primär nicht erinnerlich. Besondere Erkrankungen nicht bekannt.

Bei der klinischen Untersuchung fand sich eine Tenodese der Fingerbeuger. In Neutralstellung des Handgelenkes und Streckstellung der Fingergrundgelenke waren alle Finger in den Mittel- und Endgelenken gebeugt und konnten auch passiv nicht gestreckt werden ([ Abb. 1a ]). Bei Streckung des Handgelenkes, was nur bis 45° möglich war, kam es zu einer maximalen Beugung der Mittel- und Endgelenke der Finger ([ Abb. 1b ]), bei Beugung des Handgelenkes, die völlig frei möglich war, konnten die Finger in den Mittel- und Endgelenken gestreckt werden ([ Abb. 1c ]). Die Beweglichkeit des Daumens war frei. Die Sensibilität ungestört.

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Abb. 1 Tenodese der Fingerbeuger: a bei Neutralstellung des Handgelenkes sind die Finger in den Mittel- und Endgelenken gebeugt, jedoch noch nicht maximal flektiert. In den Grundgelenken können die Finger noch gestreckt werden; b bei maximaler Extension im Handgelenk sind die Finger in den Mittel- und Endgelenken maximal gebeugt und können auch passiv nicht gestreckt werden; c bei maximaler Beugung des Handgelenkes können die Finger auch in den End- und Mittelgelenken aktiv gestreckt werden.

Am distalen Unterarm fanden sich palmar zahlreiche alte Narben nach Schnittverletzungen. Darauf angesprochen, berichtete der Patient, dass er vor Jahren vorübergehend in einem Glaserbetrieb gearbeitet habe, konnte sich jedoch erst nach mehrfachem Befragen an eine Stichverletzung mit einem Glas vor 6 oder 7 Jahren erinnern. Diese war in seinen Augen minimal gewesen. Eine ärztliche Behandlung sei nicht erfolgt, denn er hätte keine Beschwerden gehabt, allerdings sei – so erinnerte er sich jetzt – der Faustschluss für einige Tage etwas „schwierig“ gewesen.

Die Röntgenaufnahme des Unterarmes zeigte im mittleren Drittel palmar einen Fremdkörper von ca. 2,3 × 2,8 cm, der mit etwa 1/3 seiner Ausdehnung intraossär schräg in der Elle lag und von der Dichte her einem Glasstück entsprach. Um den Fremdkörper herum waren mehrere Kalkdepots sichtbar. Eine zusätzlich durchgeführte Computertomographie bestätigte den Befund mit Lage des Fremdkörpers ca. 6 cm proximal einer ca. 5 cm langen, längsverlaufenden Narbe am distalen Unterarm ulnopalmar ([ Abb. 2a ] und [ Abb. 2b ]). Im weichteiloptimierten CT-Bild fanden sich narbigen Veränderungen im M. flexor digitorum profundus (FDP), während das Signal der benachbarten Muskeln völlig unauffällig war ([ Abb. 2c ]).

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Abb. 2 CT-Aufnahmen des Unterarmes: a der röntgendichte Fremdkörper steckt zu einem Drittel in der Ulna; an seiner Spitze finden sich Verkalkungen, proximal an der Ulna knöcherne Anbauten; der Fremdkörper ist gebogen, was nicht zu einer Fensterglasscheibe passt; b die axiale CT-Aufnahme zeigt, wie tief der Fremdkörper in der Ulna steckt; c im „weichteiloptimierten“ CT-Bild (Schnittebene knapp distal des Glasfremdkörpers) kommen die narbigen Veränderungen im M. flexor digitorum profundus zur Darstellung, während das Signal der benachbarten Muskeln völlig unauffällig ist.

Bei der Operation fanden sich N. und A. ulnaris unverletzt und der M. flexor digitorum superficialis (FDS) sowie der M. flexor carpi ulnaris sowohl im muskulären wie auch im sehnigen Anteil makroskopisch unversehrt. Der FDP war im Bereich des Fremdkörpers massiv vernarbt und induriert ([ Abb. 3 ]). Die Muskelnarbe im FDP mitsamt der Verkalkungen wurde reseziert. Das Glasstück steckte sehr fest in der Elle und konnte nur mit einem Meisel geborgen werden ([ Abb. 4 ]). Abstehende Knochenanteile wurden abgetragen. Unter passivem Strecken der Finger wurden die verkürzten Muskelanteile palpatorisch genau geortet und vorsichtig mit dem Skalpell treppenartig durchtrennt, bis eine Streckung des Handgelenkes bis etwa 50° und zugleich eine freie Streckung der Finger möglich war. Eine Muskelnaht war nicht erforderlich.

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Abb. 3 Intraoperatives Bild: die grünen Pfeile zeigen auf den Glasfremdkörper. Die Hautnarbe der ursprünglichen Verletzung war kaum mehr sichtbar. Das Foto wurde bewusst kontrastgesteigert und die Narbe zudem mit roten Punkten markiert, um besser sichtbar zu machen.
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Abb. 4 Das Bild zeigt das aus dem Knochen heraus gemeißelte, in toto geborgene Glasstück. Bei genauer Betrachtung fallen die hochgebogenen Randanteile links und rechts auf, die sich von der Unterlage abheben, der typischen Kurvatur eines Trinkglases entsprechend.

Postoperativ wurde eine palmare Lagerungsschiene bis zu den Fingerspitzen für eine Woche angelegt und frühzeitig aus der Schiene heraus mit Handtherapie begonnen. Der Patient konnte nach vier Wochen schmerzfrei wieder seine Hand normal verwenden und seinem Beruf nachgehen. Die Handtherapie wurde noch für weitere 6 Wochen berufsbegleitend durchgeführt.

Bei der Nachuntersuchung 21 Monate postoperativ zeigte sich eine komplett freie Beweglichkeit des Handgelenkes und der Finger bei regulärer Durchblutung und Sensibilität der gesamten Hand ([ Abb. 5 ]). Die Messung der Kraft mit dem Jamar®-Dynamometer ergab mit 54/54 kg auf Stufe III gute Werte.

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Abb. 5 Passiv maximale Extension im Handgelenk bei freier Streckung in allen Fingergelenken bei der Nachuntersuchung.
 
  • Literatur

  • 1 Brogan K, Nicol S. Flexor digitorum profundus entrapment in paediatric forearm fractures. J Surg Case Rep. 2014 pii: rju038. doi: 10.1093/jscr/rju038
  • 2 Deeney VF, Kaye JJ, Geary SP. et al. Pseudo-Volkmann’s contracture due to tethering of flexor digitorum profundus to fractures of the ulna in children. J Pediatr Orthop 1998; 18: 437-440
  • 3 Jeffery CC. Contracture of fingers due to fixation oft he flexor profundus digitorum tot he ulna. Hand 1976; 8: 32-35
  • 4 Rymaszeewski LA, Walker AP. Rupture of flexor digitorum profundus tot he index finger after a distal radius fracture. J Hand Surg Br 1987; 12: 115-116
  • 5 Twaróg Z. Flexion contracture oft he fingers as a result of digitorum profundus tenodesis at the site of radial metaphyseal fracture. Chir Narzadow Ruchu Ortop Pol 1993; 58: 389-392
  • 6 Jain V, Sen B, Agrawal M. et al. Volkmann sign of non-ischaemic origin. J Hand Surg Eur 2008; 33: 462-464
  • 7 Holden CE. Haemangioma of flexor digitorum profundus. Hand 1972; 4: 342-344