Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41(04): 175-176
DOI: 10.1055/s-0043-119251
Aus der Cochrane Library
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mundmotorische Übungsbehandlung für Kinder mit entwicklungsbedingten Aussprachestörungen

Lee A, Gibbon FE.
Non-speech oral motor treatment for children with developmental speech sound disorders.

Cochrane Database Syst Rev 2015;
3 CD009383.
DOI: 10.1002/14651858.CD009383.pub2.
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Publication History

Publication Date:
06 December 2017 (online)

 

Kinder mit entwicklungsbedingten Aussprachestörungen haben Schwierigkeiten bei der Bildung muttersprachlicher Laute. Den Sprechschwierigkeiten können strukturelle, sensorische oder neurophysiologische Ursachen zugrunde liegen (z. B. eine Hörschädigung), oftmals bleiben die Ursachen allerdings unbekannt. Einen von Sprachtherapeuten verwendeten Behandlungsansatz stellt die mundmotorische Übungsbehandlung dar. Unter mundmotorischen Übungen versteht man nichtsprachliche motorische Aktivitäten, deren Ziel die Stimulation oder Verbesserung der Sprachproduktion sowie die Behandlung spezifischer Sprechfehler ist. Beispiele sind Aufgaben wie Lächeln, Lippen spitzen, Wangen aufblasen, Seifenblasen pusten und Lippenmassage zur Förderung der Lippenbeweglichkeit für die Produktion labialer Laute wie ‚p‘, ‚b‘ und ‚m‘. Die Wirksamkeit dieses Behandlungsansatzes wird kontrovers diskutiert und die Evidenz zur Wirksamkeit mundmotorischer Übungsbehandlungen in der Therapie von Aussprachestörungen bedarf der Überprüfung.


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Ziele

Beurteilung der Wirksamkeit mundmotorischer Übungsbehandlungen in der Therapie von Kindern mit entwicklungsbedingten Aussprachestörungen, die Sprechfehler aufweisen.


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Literatursuche

Im April 2014 durchsuchten wir das Cochrane Central Register of Controlled Trials (CENTRAL), Ovid Medline (R) und Ovid Medline In-Process & Other Non-Indexed Citations, EMBASE, Education Resources Information Center (ERIC), PsycINFO und 11 andere Datenbanken. Wir durchsuchten auch fünf Studien- und Forschungsregister, sahen in den Referenzlisten relevanter Studien nach, die bei der Suche identifiziert wurden und nahmen Kontakt zu Wissenschaftlern auf, um mögliche weitere veröffentlichte oder unveröffentlichte Studien zu finden.


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Auswahlkriterien

Randomisierte und quasi-randomisierte kontrollierte Studien, die (1) mundmotorische Übungsbehandlungen mit Placebo oder einer Kontrollgruppe verglichen; oder die (2) mundmotorische Übungsbehandlungen als adjuvante Maßnahme zur Sprachtherapie mit sprachtherapeutischen Maßnahmen ohne mundmotorische Übungen bei Kindern zwischen drei und 16 Jahren mit sprachtherapeutisch diagnostizierten entwicklungsbedingten Aussprachestörungen verglichen. Personen mit geistiger Behinderung (z. B. Down Syndrom) oder körperlicher Behinderung wurden nicht ausgeschlossen.


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Datenerhebung und -analyse

Der Trials Search Co-ordinator der Cochrane Developmental, Psychosocial and Learning Problems Group und ein Review-Autor führten die Suchen durch. Zwei Review-Autoren überprüften unabhängig voneinander Titel und Abstracts, um irrelevante Studien herauszufiltern, extrahierten die Daten der eingeschlossenen Studien und beurteilten das Risiko für Bias (Verzerrungsrisiko) der jeweiligen Studien. Bei Ambiguität oder fehlenden Informationen im Text kontaktierten wir die Studienautoren.


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Wesentliche Ergebnisse

Dieses Review schloss drei Studien (aus vier Berichten) mit insgesamt 22 Kindern ein, die die Wirksamkeit von mundmotorischen Übungsbehandlungen als adjuvante Behandlungsmaßnahme zur konventionellen Sprachtherapie versus konventionelle Sprachtherapie bei Kindern mit Aussprachestörungen untersuchten. Eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) schloss vier Jungen zwischen 7 Jahren und 1 Monat und 9 Jahren und 6 Monaten ein. Alle hatten Aussprachestörungen, zwei davon zeigten zusätzliche Auffälligkeiten (in einem Fall diagnostiziert als „kommunikationsbeeinträchtigt“, im anderen Fall als „mehrfach behindert“). Eine der beiden quasi-randomisierten kontrollierten Studien schloss zehn Kinder (sechs Jungen und vier Mädchen) zwischen 5 Jahren und 8 Monaten und 6 Jahren und 9 Monaten mit Aussprachestörungen infolge von Zungenstoß ein. Die andere Studie schloss acht Kinder (vier Jungen und vier Mädchen) zwischen drei und sechs Jahren mit mittelschweren bis schweren Artikulationsstörungen ein. In zwei der Studien ließ sich keine Wirkung durch mundmotorische Übungen als adjuvante Behandlungsmaßnahme im Vergleich zu konventioneller Therapie ohne mundmotorische Übungen nachweisen – nach der Behandlung wiesen Interventions- und Kontrollgruppe vergleichbare Verbesserungen der Artikulation auf. Eine der Studien berichtete Leistungsveränderungen in einem nach der Intervention durchgeführten Artikulationstest, allerdings wurde ein ungeeigneter statistischer Test verwendet. Auch wurden die Ergebnisse nicht klar dargestellt. Keine der eingeschlossenen Studien untersuchte die Effekte mundmotorischer Übungen auf weitere primäre Endpunkte wie Sprachverständlichkeit, Sprechphysiologie und unerwünschte Ereignisse sowie auf sekundäre Endpunkte wie Hörerakzeptanz.

Bei der randomisierten kontrollierten Studie wurde das Risiko eines Selektionsbias als niedrig eingestuft. Die beiden quasi-randomisierten Studien verwendeten Randomisierungsverfahren, beschrieben allerdings nicht, wie die Randomisierungssequenz generiert wurde. Das Risiko eines Selektionsbias wurde daher als unklar bewertet. Das Risiko eines Leistungsbias wurde bei den drei eingeschlossenen Studien als hoch eingestuft, da, angesichts der Art der Intervention, keine Verblindung der Teilnehmer möglich war. Nur eine Studie nahm eine Verblindung von Behandlungsergebnissen vor und wies damit ein niedriges Risiko für einen Detektionsbias auf. Eine Studie wies ein weiteres hohes Risiko für Bias auf, da die Baseline-Charakteristika der Teilnehmer allem Anschein nach ungleich waren. Die Stichprobengrößen aller eingeschlossenen Studien waren sehr gering; es ist somit äußerst wahrscheinlich, dass die Teilnehmer dieser Studien nicht repräsentativ für ihre Zielpopulation sind. Vor dem Hintergrund der gravierenden methodischen Einschränkungen wird die Qualität der Evidenz, die sich aus den berücksichtigten Studien ergibt, insgesamt als niedrig eingestuft. Dies bedeutet, weitere Forschungsarbeiten werden mit großer Wahrscheinlichkeit unser Vertrauen in die Schätzung des Behandlungseffekts stark beeinflussen und die Schätzung wahrscheinlich verändern.


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Schlussfolgerungen der Autoren

Die drei eingeschlossenen Studien waren klein und wiesen eine Reihe schwerwiegender methodischer Einschränkungen auf. Darüber hinaus berücksichtigten sie nur wenige Varianten mundmotorischer Übungen im Rahmen der Behandlung von Kindern mit Aussprachestörungen unklarer Genese mit den Lauten ‚s‘ und ‚z‘. Somit schätzen wir die Übertragbarkeit der Evidenz als begrenzt und unvollständig ein. Die Ergebnisse dieses Reviews sind im Einklang mit denen vorheriger Reviews: Derzeit gibt es keine ausreichende Evidenz dafür, dass mundmotorische Übungsbehandlungen eine wirksame Behandlungsmaßnahme oder eine wirksame adjuvante Behandlungsmaßnahme für Kinder mit entwicklungsbedingten Aussprachestörungen darstellen. Das Fehlen starker Evidenz für die Wirksamkeit von mundmotorischen Übungsbehandlungen hat Implikationen für die therapeutische Entscheidungsfindung hinsichtlich der Behandlungsplanung. Um mundmotorische Übungsbehandlungen als Behandlungsmethode für Kinder mit Aussprachestörungen sorgfältig zu überprüfen, werden gut konzipierte Studien benötigt.

Übersetzung:
S. Kröckel, A. de Sunda
freigegeben durch Cochrane Deutschland

Kommentar

Kindliche Aussprachestörungen stellen eines der wichtigsten Störungsbilder innerhalb der Sprachtherapie dar. Ihre Prävalenz unter den 5–7-Jährigen wird auf bis zu 25 % geschätzt [1]. In der Diagnostik und Behandlung von Aussprachestörungen nehmen nichtsprachliche mundmotorische Übungen einen festen Platz ein. Ihre weite Verbreitung belegen u. a. Befragungen von US-amerikanischen und kanadischen Sprachtherapeuten [2, 3]. In aktuellen Leitlinien für den amerikanischen und deutschsprachigen Raum werden sie zwar nicht explizit als wirksame Therapiemethode empfohlen, allerdings als fester Bestandteil konventioneller Aussprachediagnostik und -therapie gelistet (www.asha.org, www.awmf.org).


Das 2015 veröffentlichte Cochrane Review von Lee & Gibbon zeigt nun jedoch, dass keine eindeutige Evidenz für die Wirksamkeit nichtsprachlicher mundmotorischer Übungen in der Artikulationstherapie mit Kindern vorliegt. Auch frühere Übersichtsarbeiten, die im Vergleich zum Cochrane-Verfahren weniger strenge Kriterien bei der Auswahl relevanter Studien angelegt hatten, stellen die Wirksamkeit nichtsprachlicher Aufgaben sowohl als ausschließliche als auch als ergänzende Therapiemaßnahme in Frage (z. B. [4]).


Fehlende Wirksamkeitsnachweise können als Beleg dafür gelten, dass sprechmotorisches Lernen nur durch spezifische, d. h. sprachliche Übungen erfolgen kann. Es muss angenommen werden, dass Sprechbewegungen einer hochspezialisierten neuronalen Kontrolle unterliegen, die unabhängig von der Steuerung nichtsprachlicher Bewegungen ist und somit auch nicht durch diese beeinflusst werden kann. Solche Überlegungen, ebenso wie Berichte von Patienten mit Leistungsdissoziationen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Aufgaben, haben dazu geführt, dass der Einsatz nichtsprachlicher Aufgaben bei der Behandlung neurogener Sprechstörungen (z. B Dysarthrien) zunehmend kritisch gesehen wird [5]. Das Cochrane Review kann nun möglicherweise auch ein Umdenken im Bereich kindlicher Aussprachestörungen anstoßen.


Autorinnen/Autoren

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Dr. Theresa Schölderle Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie (EKN), Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung, LMU München

Literatur


[1] Law J, Boyle J, Harris F et al. Prevalence and natural history of primary speech and language delay: findings from a systematic review of the literature. Int J Lang Commun Disord 2000; 35: 165–188


[2] Lof GL, Watson MM. A nationwide survey of nonspeech oral motor exercise use: implications for evidence-based practice. Language Speech and Hearing Services in Schools 2008; 39: 392–407


[3] Joffe V, Pring T. Children with phonological problems: A survey of clinical practice. Int J Lang Commun Disord 2008; 43: 154–164


[4] Lass NJ, Pannbacker M. The application of evidence-based practice to nonspeech oral motor treatments. Language Speech and Hearing Services in Schools 2008; 39: 408–421


[5] Staiger A, Schölderle T, Brendel B et al. Dissociating Oral Motor Capabilities: Evidence from Patients with Movement Disorders. Neuropsychologia 2017; 95: 40–53


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Dr. Theresa Schölderle Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie (EKN), Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung, LMU München