Psychiatr Prax 2017; 44(07): 374-375
DOI: 10.1055/s-0043-120053
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wir brauchen noch Lehrbücher – Pro

We Still Need Textbooks – Pro
Mathias Berger
Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Psychische Erkrankungen (Department), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Mathias Berger
Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Psychische Erkrankungen (Department), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Hauptstraße 5
79104 Freiburg

Publication History

Publication Date:
05 October 2017 (online)

 

Im Jahr 2010 erschien von Straus et al. das Buch: Evidence-based medicine – how to practice and teach it [1].

Die Kernaussage des Buches war:

  1. Burn your traditional textbooks

  2. Cancel your full-text journal subscriptions

  3. Invest in evidence-based journals and online evidence services.

Amüsant war die Tatsache, dass es sich bei diesem Buch um ein ziemlich traditionelles Textbuch handelt, das nur eine CD-ROM als Beilage hat, auf der man weitere Erläuterungen zu dem Buchtext erhält. In der Tat stellt sich die Frage, ob bei der ständig zunehmenden Informationsflut von wissenschaftlichen Studien und deren Publikationen und dem sich damit wesentlich schneller als in früheren Zeiten verändernden „State of the Art“ umfassende Lehrbücher mit Neuauflagen in mehrjährigen Abständen noch zeitgemäß sind. Die Tatsache, dass die Verkaufszahlen von Lehrbüchern in der Medizin jedoch keineswegs rückläufig sind, spricht dafür, dass sie noch immer entscheidende Vorteile besitzen. Das scheint vor allem die Haptik eines Buches mit seiner Übersichtlichkeit, der Möglichkeit von Anstreichungen, Anmerkungen und Lesezeichen zu sein. Mit anderen Worten halte ich eine physische, von eigenen Kommentierungen mitgeprägte Vorstellung von einem Themengebiet in der Hand. Das besitzt offensichtlich gegenüber den elektronischen Dokumentationen weiterhin hohe Attraktivität. Dennoch erscheint es hoffnungslos unzeitgemäß, an der tradierten Form von Lehrbüchern festzuhalten, die mit einigen entscheidenden Nachteilen verbunden sind:

Häufig lassen die Lehrbücher in der Tradition der sogenannten „eminenzbasierten Medizin“ nicht wirklich erkennen, ob die dargestellten Fakten primär die Meinung des Autors oder die gegenwärtige Evidenzlage wiedergeben. Erstere erhält häufig eine pseudowissenschaftliche Untermauerung, in der die Stellungnahmen mit einzelnen Literaturstellen „belegt“ werden. Deren Auswahl ist jedoch in der Regel primär von dem Autor selektiert. Gänzlich unrealistisch scheint das Bemühen, dass ein einzelner Autor ein ganzes Fach in der Medizin in seinem Lehrbuch auf adäquatem wissenschaftlichen Niveau abhandelt. Ein dritter großer Nachteil von Lehrbüchern ist die Gefahr eines schnellen Veraltens, d. h. die Unmöglichkeit, auf klinisch relevante Entwicklungen etwa in Diagnostik und Therapie zeitnah zu reagieren und damit „State of the Art“ zu bleiben. Auf weitere Nachteile konventioneller Lehrbücher, wie deren Umfang und Gewicht, d. h. sie nur am Schreibtisch lesen zu können, das Fehlen der Möglichkeit des interaktiven Austauschs des Autors und seines Lesers oder die fehlende Möglichkeit, sich anders als über das Lesen den Stoff anzueignen, sei nur kursorisch hingewiesen.

Mit der Einführung des neuen Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie im Jahr 1994 ergab sich das Problem, dass ein entsprechendes Lehrbuch bisher nicht existierte, das den Inhalt des neuen Facharztes widerspiegelte und somit eine Neukonzeption nötig war. Das eigene daraufhin konzipierte Facharzt-Lehrbuch [2] hat sich in der Form eines Hybrids zwischen einem klassischen Schriftwerk und den vielfältigen Möglichkeiten des Internets entwickelt. Es stellt eine konsequente Umsetzung des Gedankens der evidenzbasierten Medizin und eine strikte Abwendung von einer schwer durchschaubaren Mischung von wissenschaftlichen Evidenzen und subjektiven Meinungen der jeweiligen Kapitelautoren dar. Das heißt, die Kapitel stellen zwar die Sichtweise von renommierten Spezialisten der jeweiligen Themata dar, sind aber an allen Stellen, wo eindeutige wissenschaftliche Evidenzen vorliegen, entsprechend unterlegt. Im Zusammenhang mit dem deutschen Cochrane-Zentrum wurde der Weg gewählt, dass alle relevanten qualitätsgeprüften Metaanalysen der Cochrane Collaboration und der University of York in die Texte eingepflegt sind. Das heißt, das Lehrbuch legt großen Wert darauf, dass nicht qualitätsungeprüfte (non-repraised) Metaanalysen oder Einzelstudien in ihrer Bedeutung überbewertet werden. Auch sind die sorgfältig und mit hoher wissenschaftlicher Fundierung erstellten S3-Leitlinien der AWMF in die einzelnen Kapitel – deutlich in Einfügungen erkennbar – als Evidenzbelege einbezogen.

Eine kontinuierliche Aktualisierung des Lehrbuchs erfolgt über eine Lehrbuch-Homepage. Auf ihr werden in 3-monatigen Abständen alle Metaanalysen und Leitlinien aktualisiert und wenn notwendig, da diskrepant zum bisherigen Lehrbuchtext, von den Autoren kommentiert. Weitere Aktualisierungen erfolgen bezüglich Neueinführung von Medikamenten und Warnhinweisen. Von Beginn an wurde die Lehrbuch-Homepage mit einem Forum zur Kommunikation der Leser mit den Kapitelautoren ergänzt. Hierüber können Fragen oder Kommentare der Leser erfolgen und werden innerhalb von wenigen Tagen von den Kapitelautoren beantwortet. Die Möglichkeit des Internets wird weiterhin genutzt, indem das gesamte Buch auch als E-Book miterworben wird und zusätzliche Online-Kapitel zu Störungsbildern, die nicht im ICD-10 aufgeführt sind, ergänzt werden, wie etwa das Posttraumatische Verbitterungssyndrom, Stalking oder Burnout. Psychotherapeutische Techniken lassen sich über Videos wesentlich besser erlernen als über das Lesen langer Texte. Deswegen wurden zu Psychotherapietechniken etwa aus dem Bereich der Interpersonellen Psychotherapie, CBASP, DBT oder Traumatherapie 10-minütige Videos in Ergänzung zu dem Lehrbuchtext in das Internet gestellt. Da das Buch häufig auch zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung genutzt wird, wurden alle Kapitel des Buches in Fragen aufgegliedert, die, falls der Leser sie bei seiner Prüfungsvorbereitung nicht unmittelbar beantworten kann, ihn mit einem Klick auf die jeweilige Seite des Lehrbuchs führen, die die Information zu der gestellten Frage enthält.

Zusammenfassend wurde ein „Hybrid-Lehrbuch“ geschaffen, das die unbestreitbaren Vorteile eines umfassenden konventionellen Buchs einerseits und die vielfältigen Möglichkeiten des Internets im Hinblick auf Aktualisierung und Interaktion zwischen Leser und Autor sowie die Nutzung der Videotechnik andererseits umfasst. So scheint eine erfolgreiche Zukunft von Lehrbüchern und der Schutz vor Bücherverbrennungen sehr wohl möglich.


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Über die Autoren

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Mathias Berger

  • Literatur

  • 1 Berger M. Hrsg. Psychische Erkrankungen – Klinik und Therapie. München: Elsevier; 2015
  • 2 Straus SS. et al. Evidence-based medicine-how to practice and teach it. München: Churchill Livingstone, Elsevier; 2010

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Mathias Berger
Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Psychische Erkrankungen (Department), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Hauptstraße 5
79104 Freiburg

  • Literatur

  • 1 Berger M. Hrsg. Psychische Erkrankungen – Klinik und Therapie. München: Elsevier; 2015
  • 2 Straus SS. et al. Evidence-based medicine-how to practice and teach it. München: Churchill Livingstone, Elsevier; 2010

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