physiopraxis 2018; 16(01): 36-38
DOI: 10.1055/s-0043-120535
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Mythos Kryotherapie – Väterchen Frost kann in Rente gehen

Nils E. Bringeland

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Publikationsdatum:
05. Januar 2018 (online)

 

Manchmal lohnt es sich, Altbekanntes zu überdenken. Schaut man genau hin, ist etwa die Wirkung von Kryotherapie nicht nachgewiesen. Weder scheint sie bei Schwellungen zu helfen noch bei Schmerzen. Im Gegenteil: Kälteanwendungen während der Wundheilung können sogar schaden, sagt Physiotherapeut Nils E. Bringeland.


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Nils E. Bringeland ist Physiotherapeut, Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter der SRH Hochschule für Gesundheit Gera, Campus Karlsruhe. Er beschäftigt sich seit Jahren mit therapeutischen Interventionen zur Wundheilung und Narbentherapie, wozu er auch Fortbildungen im S.O.F.T. -Konzept anbietet. Er hat das Buch „Narbentherapie“ publiziert und betreibt die Seite www.narbentherapie.de.

Seit jeher gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, wie sinnvoll Eisanwendungen nach Verletzungen sind. Während Patienten nach operativen Eingriffen oder bei Schmerzen wie selbstverständlich nach etwas „zum Kühlen“ fragen, wissen Fachleute, dass es streng genommen keine Evidenz gibt, dass Kälte bei Schwellungen oder Schmerzen hilft. Um die Zusammenhänge zu verstehen, bietet es sich an, die Kryotherapie im Hinblick auf die Wundheilungsphasen zu betrachten.

Regeln wie das PECH-Schema empfehlen immer noch Eis als Erstintervention.

Übermäßige Schwellung als Folge der Kälte

Unmittelbar nach einer Verletzung beginnt die Entzündungsphase, in der zunächst die Gerinnungskaskade ausgelöst wird. Bereits hier kommt häufig, beispielsweise auf dem Sportplatz, Eis als Erstintervention zum Einsatz – so sieht es das PECH-Schema vor. Ziel ist es, unter anderem die Schwellung und gegebenenfalls eine Einblutung möglichst gering zu halten [1]. Es ist jedoch fraglich, ob man das damit tatsächlich erreicht. Der Körper reagiert auf die Kälte unmittelbar mit einer Vasokonstriktion. Sobald man die Kälte entfernt, ist der Körper bestrebt, das heruntergekühlte Gewebe wieder mit Nährstoffen zu versorgen. Somit leitet er eine reaktive Hyperämie, eine Vasodilatation, ein [2]. Es gelangt folglich mehr Blut ins verletzte Areal, als ursprünglich vorgesehen war. Und in der kurzen Zeit der Kryotherapie ist der Körper kaum in der Lage, eine entsprechende Stabilisation aufzubauen. Es ist also denkbar, dass die Schwellung sogar als Folge der Kryotherapie zunimmt.


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Vasokonstriktion schafft der Körper alleine

Und für den positiven Effekt der Vasokonstriktion braucht es die Kälte auch nicht. Damit nicht zu viel Blut verloren geht, kommt es unter physiologischen Bedingungen ohnehin innerhalb weniger Minuten um die Schädigung herum zu einer Vasokonstriktion. Diese wird durch vasoaktive Substanzen aus den geschädigten Zellen, Hormonen und durch das vegetative Nervensystem initiiert. Um das umliegende Gewebe allerdings weiter ausreichend zu versorgen, kommt es in benachbarten Strukturen zu einer Vasodilatation. Außerdem steigern die intakten Gefäße ihre Permeabilität, wodurch mehr Blutplasma und Nährstoffe in das Interstitium übergehen können [3]. Dadurch entstehen die Symptome Rötung, Wärme und Schwellung. Diesen Prozess verursachen Prostaglandine, vasoaktive Substanzen aus den nun aktivierten Thrombozyten und Histamin aus den Stammzellen. Er dauert etwa drei bis sieben Tage und beseitigt Erreger und Blutgerinnsel. In dieser Zeit setzen sich auch Thrombozyten an den Wänden der geschädigten Zellen an und bilden größere Aggregate, um die Wunde zu verschließen, während sich darin ein dreidimensionales Netzwerk aus Thrombospondin, Fibronektin und Fibrinmolekülen bildet. Dieses Gerüst ist im Verlauf der Wundheilung eine Art Leitsystem für die an der Proliferation beteiligten Zellen – insbesondere für die Fibroblasten.


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Forscher vermuten: Kälte könnte Ödeme erzeugen

Dass nach einer Verletzung eine Schwellung bzw. ein Ödem oder ein Erguss auftreten, sehen viele als problematisch an, weil meistens durch das zusätzliche Volumen unter anderem ein höherer Druck auf das Wundgebiet entsteht und somit eventuell Schmerzen. Unter einem Druckanstieg im Gewebe leidet zudem die Durchblutung, wodurch es zu einem Mangel an Nährstoffen und Sauerstoff kommen kann. Da diese jedoch für den entzündungsbedingt hohen Metabolismus essenziell sind, tritt ein Mangelzustand auf, welcher sich ebenfalls in Schmerzen äußern kann, etwa als ischämischer Schmerz. Ein weiterer Punkt ist, dass die Gewebeschichten im Körper auf bestimmte Spannungszustände eingestellt sind. Ändern sich diese, kann keine physiologische Bewegung mehr stattfinden, und es entstehen Bewegungseinschränkungen [4].

Ein Review dazu, dass Eis generell Schmerzen lindert, gibt es nicht.

In vielen Kliniken und Praxen kommt daher Kryotherapie zum Einsatz, in der Annahme, diese würde die Schwellung reduzieren und somit die Beweglichkeit erhöhen. Der Effekt ist jedoch bisher nicht nachgewiesen, obwohl sich einige Studien detailliert damit beschäftigt haben [5]. Selbst einen Nachweis für die Schmerzreduktion gibt es bisher nur für einzelne Krankheitsbilder. Ein aktuelles Review zur generellen Schmerzlinderung existiert nicht. Bezogen auf die Schwellung stehen sogar gegenteilige Thesen im Raum: Einige Forscher vermuten, dass Kälteanwendungen die Lymphgefäße derart schädigen können, dass persistierende Ödeme entstehen [6]. Somit würde ein völlig konträrer Effekt zur Schwellungsreduktion eintreten.


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Kälte reduziert Zytokinausschüttung

Im weiteren Verlauf der Wundheilung – wenige Stunden nach der Verletzung – wandern Leukozyten und deren Unterformen, neutrophile Granulozyten, in das Wundgebiet ein und haben hier mehrere Funktionen. Sie aktivieren unter anderem Makrophagen, phagozytieren Bakterien und es kommt zur Synthese von Proteinasen, also proteinspaltenden Enzymen [3]. Hierdurch baut sich beschädigtes und devitales Gewebe ab. Die Zellen synthetisieren aber auch Zytokine, welche als Wachstumsfaktoren aktiv sind und Makrophagen, Endothelzellen und Fibroblasten in das Wundareal leiten. Dadurch dass TNF-α und Interleukin-1 freigesetzt werden, aktivieren die Zytokine als Entzündungsförderer zudem Fibroblasten und Epithelzellen und fördern damit die Entzündung.

Mittlerweile ist bekannt, dass sich Kryotherapie negativ auf die Ausschüttung eben dieser Zytokine auswirkt [7]. Auch vor diesem Hintergrund ist es fraglich, wie sinnvoll es ist, durch Kühlung den physiologischen Wundheilungsvorgang zu stören. Nicht umsonst hat sich diese Entzündungsreaktion in der Evolution herausgebildet.


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Spätfolgen von Kälte

Ab dem dritten Tag beginnen die Fibroblasten zunächst mit der Synthese von Kollagen Typ 3, welches eine Grundstabilität der Wunde gewährleistet und zudem als Grundgerüst dazu dient, das Gewebe in das Zielgewebe, Kollagen Typ 1, umzubauen. Zu einem späteren Zeitpunkt der Wundheilung wird weniger Kollagen produziert, und die Fibroblasten geben zunehmend Proteoglykane und Glykosaminoglykane in das Wundgebiet ab. Damit das Kollagen sich ausrichten kann, benötigt es physiologische Bewegungsreize.

Mehr Bewegung ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn die beteiligten Strukturen dies auch leisten können. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass das menschliche Gewebe, insbesondere die an Aktivität beteiligten Strukturen, zu einem Großteil aus Grundsubstanz bestehen. Diese hat thixotrope Eigenschaften: Als nichtnewtonsche Flüssigkeit ist die Viskosität abhängig von Bewegung und Temperatur. Bei Bewegung nimmt die Viskosität ab – die Grundsubstanz wird somit flüssiger. Bei Kälte dagegen wird sie visköser und somit schwergängiger. Dieses Verhalten ist beispielsweise bei Knete oder Ketchup bekannt [4, 8].

Wenn sich das Bewegungsausmaß also nach der Kühlung des Wundareals verbessert, ist anzunehmen, dass dies auf die reduzierte Schmerzwahrnehmung zurückzuführen ist. Als Folge der verminderten Mobilität des Gewebes nimmt voraussichtlich die mechanische Belastung zu, was auch das Wundgebiet in seinem Heilungsprozess beeinflussen kann. Ob das sinnvoll ist, bleibt fraglich. Denn durch zu viel Bewegung unter Kühlung können hypertrophe oder sklerotische Narben entstehen, da sich der Körper vor einer Überlastung schützt. Konkret heißt das, dass der Körper auf eine Überlastung im Wundgebiet auf zwei Arten reagiert: Entweder synthetisieren die Fibroblasten mehr Kollagen und es kommt zu einer überschießenden Narbengewebsbildung, oder die gebildeten Myofibroblasten kontrahieren stärker, wodurch Gewebeeinziehungen entstehen [3]. Diese Effekte werden jedoch häufig nicht mit Kryotherapie in Verbindung gebracht, da sie teilweise erst Monate nach dem Trauma ersichtlich sind.


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Rheuma als mögliche Nebenwirkung

Ähnlich ist es bei anderen potenziellen Folgen einer zu intensiven Kälteanwendung: Wird das Wundgebiet langfristig gekühlt, können die physiologischen „Aufräumarbeiten“ nicht einsetzen. Der Körper behilft sich trotzdem, indem er die Aktivität der T-Lymphozyten umstellt. Diese arbeiten vorübergehend autoaggressiv, um den Wundgrund für die Neogenese des Ersatzgewebes vorzubereiten. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Funktion manchmal nicht mehr rückgängig gemacht wird und die Patienten nach einer langfristigen, großflächigen Kryotherapie sogar eine autoaggressive Erkrankung wie Rheuma entwickeln können [6].


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Schmerzmedikamente statt Kälte? Ja, aber…

Ähnliche Effekte wie mit einer Kryotherapie bezüglich Schmerz- und Schwellungsreduktion erreicht man mit Schmerzmedikamenten wie Ibuprofen und Diclofenac [8, 9]. Diese gehören zu den nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und wirken entzündungshemmend. Bei ihnen kommt jedoch hinzu, dass die Wirkstoffe die bindegewebige Wundheilung, genauer die Prostaglandinsynthese, hemmen. Hierdurch kann sich die extrazelluläre Matrix schlechter neu bilden, und das Risiko für eine Narbenhypertrophie steigt [10]. Eine negative Auswirkung auf die Entzündungsphase haben vor allem glukokortikoid- und salicylhaltige Medikamente, etwa Hydrocortison und Aspirin. Sie hemmen zudem den Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF), welcher für die Proteinsynthese und Angiogenese relevant ist [11, 12]. Als Folge davon ist bei hohen Konzentrationen die Wundkontraktion und Narbenfestigkeit vermindert. Zudem zeigen Studien, dass NSAR die Osteoblastentätigkeit hemmen und so die knöcherne Heilung verlangsamen [7]. Leidiglich Ibuprofen scheint eine Ausnahme zu sein – es fördert die Knochenbildung sogar [9, 13]. Komplett auf Schmerzmedikamente zu verzichten, ist natürlich nicht sinnvoll. Sie haben durchaus ihren Sinn, sollten jedoch so viel wie nötig und so wenig wie möglich eingesetzt werden.

Grundsätzlich lassen sich Schmerzen durch Physiotherapie gut lindern. Effektive Techniken zur vegetativen Regulation wie Lymphdrainage, Massage oder Myofasziales Release helfen ebenso wie die Patientenaufklärung über Schmerzphysiologie und -auslöser. Und warum statt Kälte nicht öfter mal zu Wärmeanwendungen greifen? Für wassergefiltertes Infrarot A etwa ist bekannt, dass es die Wundheilung fördert [14].

Nils E. Bringeland


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