Schlüsselwörter
Alkoholentzug - Alkoholentzugsanfall - Levetiracetam - Carbamazepin
Key words
alcohol withdrawal treatment - epileptic seizure - levetiracetam - carbamazepine
Hintergrund/Einleitung
Bei ca. 10 bis 15% der Alkoholkranken treten generalisierte Anfälle als Komplikation
während der stationären Alkoholentzugsbehandlung auf [1]
[2]
[3], 85% davon schon in den ersten 6 Stunden nach Alkoholkarenz [2]. In der Literatur gibt es zurzeit sehr unterschiedliche Aussagen über einen effektiven
Antikonvulsionsschutz während einer Alkoholentzugsbehandlung. Es finden sich zum einen
Studien, in denen allein die Gabe von Clomethiazol oder eines Benzodiazepins als Anfallsschutz
im Alkoholentzug ausreicht [2]. Andererseits werden Antiepileptika wie Carbamzepin oder Oxcarbamazepin als Anfallschutz
empfohlen [4]. Wegen guter Verträglichkeit, einer raschen Aufdosierung und einer oralen aber auch
intravenösen Verfügbarkeit wird häufig Levetiracetam nach einem epileptischen Alkoholentzugsanfall
gegeben [5].
In den S3-Leitlienien für die Behandlung alkoholbezogener Erkrankungen wird der Einsatz
von Antikonvulsiva bei einem epileptischen Anfall in der Vorgeschichte oder andere
Risiken für das vermehrte Auftreten für epileptische Anfälle bei der Alkoholentzugsbehandlung
empfohlen. Lediglich Carbamazepin ist zur Anfallsverhütung beim Alkoholentzugssyndrom
zugelassen. Bei einer eingeschränkten Leber- oder Nierenfunktion können als Anfallsprophylaxe
auch Gabapentin oder Levetiracetam eingesetzt werden. Studien zeigen, dass Carbamazepin,
Valproinsäure, Gabapentin und Oxcarbazepin Symptome eines leicht bis mittelschweren
Alkoholsyndroms lindern können [4].
Tab. 1 Antikonvulsive Therapie in Abhängigkeit von der Anfallsanamnese.
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Anfallsanamnese
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N (422)
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epileptische Anfälle (6)
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negativ
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280
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2
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positiv
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142
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Levetiracetam
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117
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1
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Carbamazepin
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16
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1
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kein Antikonvulsivum
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9
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2
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Bei einer Kontraindikation für Carbamazepin als Antikonvulsionsschutz in der Alkoholentzugsbehandlung
wurde in der Suchtabteilung des Inn-Salzach-Klinikums Wasserburg Levetiracetam gegeben.
Im klinischen Alltag zeigten sich eine bessere Verträglichkeit, kaum Nebenwirkungen
und eine schnelle Aufdosierung in den Wirkungsbereich (ab 1 Gramm/Tag) bei der Gabe
von Levetiracetam. Jedoch gibt es zu diesem Antkonvulsivum als Anfallsschutz im Alkoholentzug
keine größere Anzahl an Studien.
Um diese Erfahrung zu objektivieren wurden retrospektiv bereits abgeschlossene stationäre
Alkoholentzugsbehandlungen untersucht. Von besonderem Interesse sind dabei folgende
Fragestellungen:
-
Lassen sich bei Personen mit einem erhöhten Risiko für Alkoholentzugsanfälle diese
durch eine prophylaktische Gabe eines Antikonvulsivums verhindern?
-
Unterscheiden sich die Antikonvulsiva Carbamazepin und Levetiracetam hinsichtlich
ihrer Wirksamkeit?
Methoden
Es wurden nach Aktenlage im Zeitraum Ende 2015 bis Anfang 2016 bereits abgeschlossene
stationäre Alkoholentzugsbehandlung ausgewertet. In einem Zeitraum von 127 Tagen wurden
bei 422 Patienten ein Alkoholentzug nach CIWA-A Standard [6] im stationären Rahmen durchgeführt. Die Personen waren weibliche und männliche Patienten
im Alter von über 18 und unter 65 Jahren. Personen ohne erhöhtes Risiko für einen
epileptischen Anfall wurden je nach Schweregrad des Alkoholentzugssyndroms nicht oder
mit der Gabe von Clomethiazol, Lorazepam oder Diazepam behandelt. Alle Personen erhielten
zusätzlich während der Behandlung Vitamin B1. Bei einer positiven Anamnese für ein
erhöhtes Risiko für das Auftreten eines epileptischen Anfalls, z. B. bei einem bereits
stattgehabten epileptischen Anfall in der Vorgeschichte, erhielten die Personen eine
Antikonvulsion konform der S3 Leitlinien [4] mit Carbamazepin. Levetiracetam wurde bei einer Kontraindikation für die Gabe des
Natrium-Kanal-Blockers, z.B. bei deutlich erhöhten Leberwerten, ersatzweise für Carbamazepin
gegeben.
Bei Gabe von Carbamazepin in der Retardform erhielten die Personen am ersten Tag 2
× 200 mg. Ab dem zweiten Tag wurde den Personen 3×200 mg/Tag verabreicht. Bei der
Gabe von Levetiracetam erhielten die die Personen am ersten Tag 750 mg, ab dem Folgetag
1 Gramm pro Tag. Die Gabe der Antikonvulsion erfolgte bis zur Beendigung der Alkoholentzugsbehandlung.
Danach wurde empfohlen, den Natrium-Kanal-Blocker mit je 200 mg/Woche zu reduzieren
und dann abzusetzen. Bei Levetiracetam wurde nach Abschluss des Alkoholentzugs das
Medikament um jeweils 500 mg/Woche reduziert und dann abgesetzt.
Nach Aktenlage wurden 4 Gruppen von Patienten verglichen:
-
Keine a-priori-Gabe eines Antikonvulsivums: Personen ohne einen epileptischen Anfall
in der Anamnese durchliefen eine CIWA-A standardisierte Entzugsbehandlung
-
Personen mit einem erhöhten Risiko für einen epileptischen Anfall erhielten Carbamazepin.
-
Personen mit einem erhöhten Risiko für einen epileptischen Anfall und Hinweisen auf
eine Kontraindikation für Carbamazepin erhielten Levetiracetam.
-
Personen mit einem erhöhten Anfallsrisiko, welche eine Antikonvulsion ablehnten, wurden
ausführlich über das erhöhte Anfallsrisiko aufgeklärt, erhielten jedoch kein Antikonvulsivum.
Ergebnisse
Insgesamt fanden sich laut Aktenlage bei einer Anzahl von 422 Patienten in einem Zeitraum
von 127 Tagen 6 epileptische Anfälle (1,42%) und ein fragliches Anfallsereignis. Alle
Patienten befanden sich stationär zum Alkoholentzug Ende 2015 bis Anfang 2016 in der
Klinik.
Bei 280 Personen erfolgte eine Alkoholentzugstherapie ohne Gabe einer Anfallsprophylaxe.
Diese hatten eine negative Anamnese bezüglich eines stattgehabten epileptischen Anfalls
oder es bestand kein Hinweis für ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines epileptischen
Anfalls. 117 Patienten mit positiver Vorgeschichte für epileptische Anfälle erhielten
laut Aktenlage Levetiracetam ab dem ersten Tag der Behandlung, 16 Patienten wurde
bei einer positiven Anfallsanamnese Carbamazepin verabreicht. 9 Personen erhielten
trotz Angabe von bereits erfolgten epileptischen Anfällen nach ausführlicher Aufklärung
über ein erhöhtes Komplikationsrisiko auf ihren Wunsch hin keine zusätzliche Gabe
eines Antikonvulsivums [Tab. 1].
Bei 2 Personen mit negativer Anfallsanamnese ereignete sich ein epileptischer Anfall
während der Entzugsbehandlung. Beide erhielten danach 1 g Levetiracetam/Tag. Im weiteren
Verlauf trat kein erneutes Anfallsereignis auf. Bei einer Person waren Anfälle in
der Vorgeschichte bekannt, noch während der Aufnahmesituation kam es zu 2 Anfallsereignissen.
Danach erhielt der Patient 1 g Levetiracetam pro Tag. Hierunter trat kein erneutes
Anfallsereignis mehr auf. Bei einer jungen Frau waren in der Kindheit epileptische
Anfälle aufgetreten. Sie weigerte sich, hier eine Anfallsprophylaxe einzunehmen. Gegen
Ende des Aufenthaltes mit noch einer Gabe von 2×0,5 mg Lorazepam ereignete sich ein
Alkoholentzugsanfall. Danach wurden 1 g Levetiracetam/d verabreicht. Hierunter kam
es zu keinem erneuten Anfall mehr. Eine Patientin mit der Vormedikation von 400 mg/d
Carbamazepin Retard als Medikation zur Stimmungsstabilisation bei einer bekannten
bipolaren affektiven Störung, einer positiven Anamnese für epileptische Anfälle und
bei einem möglichen Missbrauch von Benzodiazepinen erlitt am Tag der Aufnahme unter
einer Atemalkoholkonzentration von 2,4 Promille einen epileptischen Anfall. Sie hatte
nach ihrer Angabe die medikamentöse Stimmungsstabilisation zuletzt nur unregelmäßig
eingenommen. Es wurde danach Carbamazepin auf 3×200 mg/Tag aufdosiert. Unter dieser
Medikation trat kein erneuter Anfall mehr auf. Gegen Ende des Beobachtungszeitraums
ereignete sich ein Anfall bei einem Patienten mit bekannter Alkoholabhängigkeit und
Polytoxikomanie. Dieser befand sich in der Klinik zum Alkoholentzug. Bei ihm waren
Alkoholentzugsanfälle in der Vorgeschichte bekannt. Der Patient hatte 1 g Levetiracetam/Tag
als Anfallsschutz erhalten. Gegen Ende der Entzugsbehandlung konsumierte der Patient
die Medikamente Bupropion, Pregabalin und Fentanyl. Das Opiat konnte am Folgetag im
Drogen-Urin auf Station nachgewiesen werden. Nach dem Konsum kam es zu einem epileptischen
Anfall. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 2×1 Kapsel Clomethiazol als Entzugsmedikation
erhalten. Levetiracetam wurde daraufhin auf 1500 mg/Tag erhöht. Es trat im weiteren
Verlauf kein erneuter Anfall mehr auf.
Zu einem fraglichen Anfall kam es bei einer Person nach einem Alkoholrückfall im Ausgang.
Wieder auf Station wurden bei dem jungen Mann 3,5 Promille gemessen. Er war im weiteren
Verlauf ungehalten, distanzlos und bei fremdaggressivem Verhalten (er schlug auf einen
Mitpatienten ein und bedrohte das Pflegepersonal) waren Fixierungsmaßnahmen unumgänglich.
In der Fixierung habe er sich laut Pflege aufgebäumt, was vom Pflegepersonal als Anfall
angesehen und berichtet wurde. Zu motorischen Entäußerungen, einem Zungenbiss, Einnässen
oder Stuhlabgang kam es nicht. Am Folgetag war die Kreatinkinase (CK) mit 152 U/l
nicht erhöht. Bei einer so hohen Promillezahl, einem Antikonvulsionsschutz mit 1 g
Levetriracetam/d, keinen motorischen Entäußerungen und einem normalhohen CK-Laborparameter
am Tag nach dem Ereignis ging man nicht von einem epileptischen Anfall aus.
Diskussion
Insgesamt fand sich eine deutliche Reduktion der epileptischen Anfälle von 10–15%
laut Literatur auf 1,42% (6 von 422) während der stationären Alkoholentzugsbehandlungen.
Diese beträchtliche Reduktion ist sehr wahrscheinlich auf die konsequente Therapie
mit einem Antikonvulsivum bei Patienten mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten
von Alkoholentzugsanfällen zurückzuführen. In den Ergebnissen zeigte sich ein erhöhtes
Auftreten von Anfällen bei Personen mit erhöhtem Anfallsrisiko, welche nach expliziter
Aufklärung die Einnahme eines Antikonvulsivums ablehnten (2 von 9).
Es zeigte sich kein signifikanter Unterschied in der Anfallsreduktion durch Levetiracetam
(1 Anfall bei 117 Patienten) im Vergleich zur Gabe des Natrium-Kanal-Blockers Carbamazepin
(1 Anfall bei 16 Patienten) (Chi2=2,55, p(exact)=0.24). Es wurden bei beiden Präparaten
während des Beobachtungszeitraums keine schwerwiegenden Nebenwirkungen beobachtet.
Ein Patient berichtete von einer deutlichen stimmungsstabilisierenden Wirkung durch
die Gabe von Levetiracetam, obwohl als Nebenwirkung bei Levetiracetam eine Agitation,
Nervosität und Reizbarkeit berichtet werden [5]. Im Unterschied konnte Levetiracetam (mind. 1 g/Tag) schneller als Carbamazepin
(600 bis 1000 mg/Tag) in einen wirksamen Bereich aufdosiert werden. Die einfache Handhabung
bei Aufdosierung und Gabe und eine tendenziell deutlichere Reduktion der Anfälle unter
Levetiractam deuten auf eine leichte Überlegenheit von Levetiractam gegenüber Carbamazepin
hin. Jedoch besteht laut S3-Leitlinien heute die alleinige Indikation von Carbamazepin
bei der Anfallsprophylaxe im Alkoholentzug [4]. Interessant wären weitere Untersuchungen bezüglich der Anfallsreduktion durch die
konsequente Gabe eines Antikonvulsivums bei erhöhtem Risiko für einen epileptischen
Anfall, wie auch ein weiterer Vergleich der Präparate Carbamazepin und Levetiracetam
als Anfallsprophylaxe im Alkoholentzug.
Es liegen für die untersuchten Patientengruppen keine weiteren Angaben hinsichtlich
der Schwere der Abhängigkeit und möglichen Komorbiditäten vor. Es erfolgte auch kein
Ausschluss von Patienten aus dieser Auswertung nach definierten Kriterien, sondern
alle Alkoholentzugsbehandlungen die in dem beschriebenen Zeitraum wurden analysiert.
Am Ende sollte noch auf einen wichtigen Punkt bei einem erfolgten epileptischen Anfall
während eines stationären Aufenthaltes eingegangen werden. Bei einem provozierten
epileptischen Anfall sollte der Betroffene über ein Fahrverbot schriftlich aufgeklärt
werden. Bei einer diagnostizierten Alkoholabhängigkeit ist dann eine zusätzliche Begutachtung
zur Fahrtauglichkeit erforderlich [7].
Heute gibt es sehr unterschiedliche Möglichkeiten des Anfallsschutzes in der Alkoholentzugsbehandlung.
Im täglichen klinischen Umgang bei der Alkoholentzugstherapie hat sich die Gabe von
Levetiracetam als Anfallsschutz als einfach, wirksam und nebenwirkungsarm dargestellt.
Es lässt sich bereits am ersten Tag der Behandlung in den wirksamen Bereich ab 1 g/Tag
aufsättigen. Interessant wäre ein Austausch über Erfahrungen mit Levetiracetam in
der Alkoholentzugsbehandlung.