Diabetologie und Stoffwechsel 2018; 13(02): 151-165
DOI: 10.1055/s-0043-121597
CME-Fortbildung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diabetes und Soziales

Diabetes mellitus and social aspects
Oliver Ebert
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RA Oliver Ebert
Nägelestraße 6a
70597 Stuttgart
Email: ebert@rek.de

Publication History

Publication Date:
04 May 2018 (online)

 

Abstract

Diabetes mellitus is one of the most common chronic diseases at all ages. Diabetes and consequential damages can have a significant impact on the capability on affected people.

Drug therapy resp. hypoglycemia can compromise the driving ability; problems in the choice of profession and in the daily work routine are possible.

This paper aims to highlight said social implications and gives legal background information.


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Diabetes mellitus ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen in allen Lebensaltern. Diabetes und seine Folgeschäden können sich erheblich auf das Leistungsvermögen der betroffenen Menschen auswirken. Die medikamentöse Therapie bzw. die Hypoglykämiegefahr kann die Fahreignung beeinträchtigen; Probleme bei der Berufswahl und im Arbeitsalltag sind möglich. Dieser Beitrag beleuchtet diese sozialen Implikationen und die rechtlichen Hintergründe.


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Teilnahme am Straßenverkehr

Hypoglykämien oder hyperglykämische Entgleisungen können die Fahrtauglichkeit beeinflussen. Patienten müssen daher über die Auswirkungen der Krankheit bzw. der Behandlung auf die Eignung zur Teilnahme am Straßenverkehr aufgeklärt werden.

Aktuelle Daten

Nach aktueller Datenlage gibt es in Deutschland ca. 7,6 Mio. Diabetespatienten [1] [2], dies dürfte einem Anteil von ungefähr 10 % aller Führerscheininhaber entsprechen [3]. Bei allen diesen Betroffenen können erhöhte, niedrige oder schwankende Blutzuckerwerte die Fahreignung beeinträchtigen, beispielsweise durch Konzentrationsstörungen oder temporäre Veränderung der Sehfähigkeit. Schätzungsweise 3 Mio. Patienten werden mit Medikamenten bzw. Insulin behandelt, die sich aufgrund blutzuckersenkender Wirkung auf die Fahreignung auswirken können.

Trotz dieses hohen Anteils an der Gesamtzahl der Führerscheininhaber gibt es bislang aber keine Belege dafür, dass Diabetespatienten ein relevant höheres Risiko im Straßenverkehr darstellen. Studien [4] [5] ergaben, dass sich Unfälle aufgrund von Hypoglykämien nur mit einer Rate von 0,01 – 0,49 pro 100 000 km oder 0,007 – 0,01 pro Jahr ereignen. Dies bedeutet, dass im Mittel ein Unfall infolge einer Unterzuckerung erst nach einer Fahrleistung von ca. 400 000 km beobachtet werden konnte. Auch im Vergleich zu Krankheiten wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Schlafapnoe ist das relative Unfallrisiko bei Diabetes mellitus erheblich geringer: Für Personen mit dem Schlafapnoesyndrom zum Beispiel ist das Risiko für einen Verkehrsunfall um das 2,4-Fache erhöht, bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sogar bis um das 4,4-Fache [6] [7].

Bei Unfällen, in denen Hypoglykämie eine Rolle spielt, dürften oft Verhaltensfehler des Patienten ursächlich sein, insbesondere Fehleinschätzungen oder Fehler beim Selbstbehandlungsverhalten wie z. B.

  • falsche Insulin- oder Medikamentendosierung,

  • Verwechslung der Insulinsorten,

  • Unterzuckerung nach vorausgegangenem Alkoholkonsum oder

  • unzureichende Blutzuckerselbstkontrollen.

Nicht immer sind diese möglichen Hypoglykämieursachen für die Menschen mit Diabetes mellitus unmittelbar zu erkennen. Patienten, die ein Risiko für schwere Hypoglykämien haben, sollte daher dazu geraten werden, vor Fahrtantritt eine Messung der Blutglukose durchzuführen und immer ein BG-Messgerät sowie geeignete Snacks zur Stabilisierung des Blutzuckerspiegels griffbereit im Fahrzeug mitzuführen [8].


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Begutachtungsleitlinien

Das Bundesverkehrsministerium gibt seit 1973 die „Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung“ heraus, die eine Hilfe bei der fachlichen und einheitlichen Beurteilung der Kraftfahreignung sind. Entsprechend den europaweiten legislativen Maßgaben soll ein Konsens in Form von harmonisierten Leitlinien entwickelt werden, der auf nationaler und europäischer Ebene Akzeptanz findet. Die Begutachtungsleitlinien werden regelmäßig aktualisiert und dem Stand der Forschung bzw. der Normensituation angepasst. Verantwortlich für die Umsetzung ist die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt); die Überarbeitung erfolgt kapitelweise durch Expertengruppen der jeweiligen Fachgebiete unter Leitung der BASt.

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat den Stand der Wissenschaft in einer europaweit ersten evidenzbasierten S2e-Leitlinie Diabetes & Straßenverkehr zusammengefasst. Von den darin formulierten Empfehlungen sollte nicht ohne hinreichende Begründung abgewichen werden [8].

Hintergrund

Rechtliche Bedeutung

Die Begutachtungsleitlinien sowie die Empfehlungen der S2e-Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft bilden die Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Werden sie angewandt, bedarf es keiner expliziten Begründung. Die Leitlinien müssen Grundlage der Eignungsuntersuchung sein, sind jedoch nicht unumstößlich. In begründeten Ausnahmefällen ist es daher möglich und zulässig, von den Empfehlungen der Leitlinien abzuweichen. Wird von den Leitlinien abgewichen, sollte dies allerdings nachvollziehbar und möglichst umfassend begründet bzw. dokumentiert werden. Beispiele für dieses Vorgehen sind: Untersuchungen haben zu Zeiten der vorherigen Begutachtungsleitlinien begonnen und sollen nach diesen fortgesetzt werden oder ein Einzelfall ist fachlich anders zu würdigen.

In den Begutachtungsleitlinien findet sich eine Zusammenstellung von körperlichen und/oder geistigen Einschränkungen, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen können. Für zahlreiche Krankheiten werden dort Vorgaben und Voraussetzungen definiert, die ärztliche Gutachter bei der Bewertung der Fahreignung berücksichtigen müssen.

Die Empfehlungen zur Bewertung des Diabetes mellitus sind im Kapitel 3.5 der Begutachtungsleitlinien zusammengestellt. An der seit 01.05.2014 gültigen, deutlich überarbeiteten Fassung [9] war der Ausschuss Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft maßgeblich beteiligt.

Beim Diabetes mellitus hängt das Risiko einer „Gefährdung der Verkehrssicherheit […] in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen“ [9] ab. Die Teilnahme am Straßenverkehr ist daher in der Regel kein Problem, sofern und solange Hypoglykämien rechtzeitig wahrgenommen werden (können).

Merke

In den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung ist klargestellt, dass „gut eingestellte und geschulte“ [6] Menschen mit Diabetes sowohl Pkw als auch Lkw sicher führen können – dies gilt auch für die Personenbeförderung (Taxis, Omnibus).

Voraussetzung ist allerdings, dass Unterzuckerungen rechtzeitig wahrgenommen werden.

Unterscheidung nach Fahrzeuggruppen

Die Begutachtungsleitlinien unterteilen die Führerscheinklassen in 2 Gruppen:

  • Gruppe 1: Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L, T.
    „Bei Therapie mit Diät, Lebensstilanpassung oder medikamentöser Therapie mit niedrigem Hypoglykämierisiko besteht keine Einschränkung, solange eine ausgeglichene Stoffwechsellage besteht und keine Folgekomplikationen vorliegen. Bei Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko ist bei ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung nach Einstellung und Schulung das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 möglich, Stoffwechselselbstkontrollen werden empfohlen.“ [9].

  • Gruppe 2: Führer von Fahrzeugen der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung (FzF).
    „Für das Führen von Fahrzeugen der Gruppe 2 ist grundsätzlich eine stabile Stoffwechselführung über drei Monate nachzuweisen. Bei Therapie mit Diät und Lebensstilanpassung soll eine fachärztliche Nachbegutachtung durchgeführt werden. Bei Therapie mit oralen Antidiabetika mit niedrigem Hypoglykämierisiko müssen regelmäßige ärztliche Kontrollen gewährleistet sein, eine fachärztliche Nachbegutachtung ist erforderlich. Bei Therapie mit höherem Hypoglykämierisiko (Sulfonylharnstoffe und ihre Analoga) sowie mit hohem Risiko (Insulin) ist neben regelmäßigen ärztlichen Kontrollen alle drei Jahre eine fachärztliche Begutachtung erforderlich, bei der Beurteilung der Fahreignung sind Therapieregime, Einstellung und Fahrzeugnutzung zu berücksichtigen. Geeignete Stoffwechselselbstkontrollen sind regelmäßig durchzuführen.“ [9].


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Wesentliches Risiko: Hypoglykämie

Bei der Bewertung der Fahreignung ist in erster Linie auf das Hypoglykämierisiko und die Fähigkeit zur Hypoglykämiewahrnehmung abzustellen.

„Wiederholte schwere Hypoglykämien im Wachzustand“ schließen in der Regel die Fahreignung so lange aus, „bis wieder eine hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sichergestellt ist“.

„Schwere Hypoglykämie“ meint dabei die „Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person. ‚Wiederholte Hypoglykämie‘ bedeutet das zweimalige Auftreten einer schweren Hypoglykämie innerhalb von 12 Monaten“ [9].

Cave

Ein Patient muss bis auf Weiteres als nicht mehr fahrgeeignet angesehen werden, wenn innerhalb von 1 Jahr mehr als eine so schwere Unterzuckerung auftrat, dass er sich nicht mehr selbst helfen konnte bzw. notärztliche Hilfe benötigte.

Der Patient muss darüber entsprechend aufgeklärt werden.


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Hyperglykämie kann ebenfalls relevant sein

Neben Hypoyglykämien sind auch die mit einer Therapieumstellung verbundenen Risiken zu beachten. Die Leitlinie sagt dazu: „Wer nach einer Stoffwechseldekompensation erstmals oder wer neu eingestellt wird, darf kein Fahrzeug führen, bis die Einstellphase durch Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage (inkl. der Normalisierung des Sehvermögens) abgeschlossen ist.“ [9].

Merke

Auch ausgeprägt hyperglykämische Stoffwechsellagen sind zu berücksichtigen.

Es gibt zwar keine starren Normwerte, aber Arzt und Patient müssen die jeweilige Situation verantwortungsvoll einschätzen. Nach den Begutachtungsleitlinien schließen „auch Hyperglykämien mit ausgeprägten Symptomen wie z. B. Schwäche, Übelkeit oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen“ das Führen von Kraftfahrzeugen aus [6].


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Fahreignung meist nur temporär beeinträchtigt

In den seltensten Fällen wird aufgrund des Diabetes die Fahreignung dauerhaft beeinträchtigt bzw. ausgeschlossen sein. Denn sobald eine „zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien“ wieder sichergestellt ist, kann die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen meist wieder attestiert werden. Nach den Begutachtungsleitlinien kann die Fahreignung in der Regel „auf der Grundlage einer fachärztlichen (diabetologischen) Begutachtung und durch geeignete Maßnahmen wie das Hypoglykämie-Wahrnehmungstraining, Therapieänderungen und vermehrte Blutzuckerselbstkontrollen wiederhergestellt werden“.

Es stehen daher zahlreiche Instrumentarien zur Verfügung, um einem Patienten wieder die Teilnahme am Straßenverkehr zu ermöglichen. Als Maßnahme der Therapieänderung könnte beispielsweise der Umstieg auf Insuline mit anderem Wirkprofil infrage kommen. Häufig kann bereits eine erhöhte Zahl an Blutzuckerselbstkontrollen dazu beitragen, dass der Patient die Stoffwechsellage besser einschätzen bzw. vorhersehen kann, sodass überraschende Hypoglykämien vermieden werden können. Auch durch ein kontinuierliches Glukosemonitoringsystem (CGMS) und die damit verbundene Alarmierungs- und Warnmöglichkeit bei abfallenden Blutzuckerwerten lassen sich die mit einer Hypoglykämiegefahr verbundenen Risiken minimieren.


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Mehrere schwere Hypoglykämien

Auch mehrere schwere Unterzuckerungen müssen nicht zwingend zum Ausschluss der Fahreignung führen. In nicht wenigen Fällen kommt es lediglich aufgrund von Verhaltensfehlern des Patienten zu schweren Hypoglykämien. Ist verlässlich zu erwarten, dass solche Fehler künftig vermieden werden, dann besteht grundsätzlich kein relevantes Risiko mehr. Durch den Zusatz „in der Regel“ lassen die Begutachtungsleitlinien daher bei der Bewertung der Fahreignung auch begründete Ausnahmen zu. Dies könnte dann beispielsweise der Fall sein, wenn die schweren Unterzuckerungen eindeutig auf einen Verhaltensfehler oder Wissensmangel des Patienten zurückgeführt werden können. Ist durch Schulung hinreichend sichergestellt, dass sich diese Fehler nicht mehr wiederholen, dann dürfte das krankheitstypische Risiko insoweit wieder kompensiert sein.


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Aufklärungspflicht beachten

Behandler müssen über die mit der Krankheit und Therapie einhergehenden Risiken im Straßenverkehr aufklären (Sicherungsaufklärung). Es kann erforderlich sein, die Aufklärung in gewissen Zeitabständen zu wiederholen. Insbesondere beim Übergang von oralen Antidiabetika (OAD) auf Insulin oder bei der Umstellung auf Insuline mit verändertem Wirkprofil sollte eine entsprechende Aufklärung erfolgen.

Cave

Wenn aus medizinischer Sicht keine Fahreignung besteht, dann muss dies dem Patienten unmissverständlich kommuniziert werden – generell sollte eine mündliche und schriftliche Aufklärung erfolgen.

Die Aufklärung sollte umfassend und ausführlich dokumentiert werden; im Zweifelsfall empfiehlt sich auch die Hinzuziehung von Zeugen (Praxispersonal).

Fährt der Patient in Kenntnis dieser gesundheitlichen Einschränkungen, dann droht ihm eine Strafbarkeit aus § 315c StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs; StGB: Strafgesetzbuch). Der ärztliche Rat, nicht mehr am Straßenverkehr teilzunehmen, kommt faktisch daher einem Fahrverbot gleich.

Gesetzestext

§ 315c StGB (Auszug)

(1) Wer im Straßenverkehr

1. ein Fahrzeug führt, obwohl er

[...]

b) infolge geistiger oder körperlicher Mängel

nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen,

[...]

und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist der Versuch strafbar.

(3) Wer in den Fällen des Absatzes 1

1. die Gefahr fahrlässig verursacht oder

2. fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Eine Teilnahme am Straßenverkehr ist jedoch wieder möglich, sobald eine hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sichergestellt sind.


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Ärztliche Schweigepflicht

Nicht selten wird von Ärzten berichtet, dass Patienten uneinsichtig sind und entgegen ärztlichem Rat am Straßenverkehr weiterhin teilnehmen. Häufig besteht dann der Irrglaube, dass in solchen Fällen eine Meldung oder Anzeige bei der Polizei bzw. Führerscheinbehörde vorgeschrieben oder zumindest zulässig sei. Tatsächlich gibt es aber keine gesetzliche Verpflichtung, solche Patienten zur Anzeige zu bringen. Vielmehr ist der damit einhergehende Bruch der strafrechtlich (§ 203 StGB) wie berufsrechtlich (vgl. § 9 MBO [Musterberufsordnung]) verankerten Schweigepflicht in der Regel nicht zulässig.

Cave

Ohne vorherige Einwilligung des Patienten dürfen patienten- bzw. behandlungsspezifische Daten nur auf der Basis einer gesetzlichen Erlaubnis oder Verpflichtung offenbart werden.

Beispiele dafür sind vorgeschriebene Übermittlungen an die KV (Kassenärztliche Vereinigung) gemäß §§ 294 ff. SGB V (Sozialgesetzbuch) oder nach dem Infektionsschutzgesetz. Die strafrechtliche Schweigepflicht gilt auch für das Praxispersonal.

Ausnahme „Notstandslage“

Ein Bruch der Schweigepflicht wäre in solchen Fällen daher nur straflos, wenn eine sog. „Notstandslage“ vorlag: Dafür ist aber in der Regel erforderlich, dass tatsächlich eine konkrete (nicht nur theoretische) Gefahr für Leib und Leben anderer besteht. Wenn jedoch lediglich das (abstrakte) Risiko erhöht wird, dann reicht dies für die Annahme einer rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstandslage in der Regel nicht aus. Aber selbst wenn der Arzt nach einer kritischen Güterabwägung zum Schluss kommt, dass er sich in einer solchen Notstandslage befindet, wäre dies noch nicht ausreichend: Der Bruch der Schweigepflicht muss die Ultima Ratio sein. Dies bedeutet, dass alle anderen zumutbaren Maßnahmen erfolglos geblieben sein müssen, sodass die Gefahr nur noch durch Bruch der Schweigepflicht verhindert werden kann. Arzt bzw. Praxispersonal müssen daher den Nachweis erbringen (können), dass die Voraussetzungen einer solchen Notstandssituation vorlagen. Ansonsten drohen eine Strafverfolgung nach § 203 StGB, berufsrechtliche Konsequenzen und das Risiko, vom Patienten auf Schadensersatz verklagt zu werden.


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Vorgehen

Bleibt ein Patient uneinsichtig und erwägt der Arzt eine Meldung an die Straßenverkehrsbehörde oder Polizei, muss dies dem Patienten zuvor zwingend und unmissverständlich angedroht werden. Hilfreich ist es, wenn der Patient eine entsprechende Belehrung bzw. Androhung unterschreibt. Falls der Patient sich anschließend immer noch uneinsichtig zeigt, sollte für den konkreten Einzelfall juristischer Rat bei der Ärztekammer bzw. einem Anwalt eingeholt werden.

Merke

Nur wenn auch von der Ärztekammer oder einem Anwalt keine ernsthaften Bedenken geäußert werden, sollte man über den Bruch der Schweigepflicht nachdenken.


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Fahrerlaubnis-Verordnung

Abklärung der Fahrtauglichkeit

Grundsätzlich ist jeder (Mit-)Behandler verpflichtet, den Patienten auf die krankheits- bzw. therapiebedingten Risiken hinzuweisen und im Erfordernisfall vom Führen von Kraftfahrzeugen abzuraten. Im Zweifel sollte der Patient zur Abklärung an einen Facharzt mit verkehrsmedizinischer Zusatzqualifikation verwiesen werden, der zur Bewertung der Fahreignung ein entsprechendes Gutachten erstellt. Eine regionale Suche nach Ärzten mit der gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) geforderten Qualifikation ist über die Website der Deutschen Diabetes Gesellschaft möglich [10].


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Anordnung eines verkehrsmedizinischen Gutachtens

Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen. Solche Bedenken bestehen insbesondere bereits dann, wenn der Behörde Tatsachen bekannt werden, die auf eine Diabeteserkrankung hindeuten.

Die Behörde kann dann auch bestimmen, über welche Qualifikation der Gutachter verfügen muss. In der Regel wird ein für die Fragestellung zuständiger Facharzt (Internist/Diabetologe) mit verkehrsmedizinischer Qualifikation vorgeschrieben. Dieser soll nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein; Ausnahmen können aber zugelassen werden.

Gesetzestext

§ 11 FeV (Auszug)

[…]

(2) Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen. Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung bestehen insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 hinweisen. Die Behörde bestimmt in der Anordnung auch, ob das Gutachten von einem

  1. für die Fragestellung (Absatz 6 Satz 1) zuständigen Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation,

  2. Arzt des Gesundheitsamtes oder einem anderen Arzt der öffentlichen Verwaltung,

  3. Arzt mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ oder der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“,

  4. Arzt mit der Gebietsbezeichnung „Facharzt für Rechtsmedizin“ oder

  5. Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, der die Anforderungen nach Anlage 14 erfüllt,

  6. erstellt werden soll. Die Behörde kann auch mehrere solcher Anordnungen treffen. Der Facharzt nach Satz 3 Nummer 1 soll nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein.

[...]


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Diabetes und Beruf

Die Diabeteserkrankung sowie die damit verbundene Medikation (OAD, Insulin) können auch die Berufswahl bzw. die Tauglichkeit für bestimmte Tätigkeiten beeinträchtigen. Allerdings ergibt sich daraus nur noch in Ausnahmefällen eine wesentliche Hürde zur Berufsausübung.

Gefährdung und Maßnahmen

Nach den Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) [8] ist eine individuelle Beurteilung der jeweiligen Gefährdungssituation vorzunehmen. Dabei ist für den konkreten Einzelfall eine Gefährdungsanalyse vorzunehmen, die die Wechselwirkung von arbeitsplatz- und tätigkeitsspezifischen Faktoren sowie etwaigen gesundheitlichen Einschränkungen berücksichtigt. Von deren Ergebnis hängt ab, ob von einem bestimmten Berufswunsch abzuraten ist bzw. ob eine Tätigkeit mit Diabetes ausgeübt werden kann.

In erster Linie sind im Fall des Diabetes zunächst die spezifisch mit Erkrankung bzw. Therapie einhergehenden Risiken zu ermitteln. Dies ist insbesondere die Gefahr einer Selbst- und Fremdgefährdung durch Hypoglykämien [12]. Problematisch ist nicht nur das Risiko schwerer, d. h. fremdhilfebedürftiger Hypoglykämien – denn auch weniger ausgeprägte Hypoglykämien können zu Konzentrationsstörungen bzw. nachlassender körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit führen.

Cave

Leistungsabfälle können insbesondere bei Tätigkeiten an Maschinen, in Überwachungsfunktionen oder bei höchsten Präzisionsanforderungen nicht unerhebliche Gefährdungslagen begründen.

Therapeutisch kann das Risiko für das Auftreten von Hypoglykämien meist durch Anpassung der Stoffwechseleinstellung bzw. eine Anpassung der Therapie verringert werden. Dazu zählt z. B. der Wechsel auf Insuline mit anderem Wirkprofil. Das Unterzuckerungsrisiko kann auch verringert werden durch

  • eine Erhöhung der Zahl der Blutzuckerselbstmessungen,

  • den Einsatz eines Systems zur kontinuierlichen Glukosemessung,

  • zusätzliche Schulungen oder

  • ggf. die Teilnahme an einem Hypoglykämie-Wahrnehmungstraining (z. B. BGAT [Blood Glucose Awareness Training] oder Hypos).

Zusätzlich müssen im Kontext der Diabeteserkrankung auch die Risiken betrachtet werden, die sich in Ausübung der spezifischen Tätigkeit ergeben. Problemsituationen finden sich insbesondere bei Berufen und Tätigkeiten, die den Tagesablauf nicht hinreichend planbar machen und/oder die Behandlung erschweren – etwa bei Schicht- oder Akkordarbeit, nur unregelmäßigen Essenszeiten oder stark wechselnden körperlichen Belastungen. Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften, organisatorische Maßnahmen oder Optimierung der Arbeitsabläufe können aber meist das Risikopotenzial so weit verringern, dass die Diabeteserkrankung der Tätigkeit nicht entgegenstehen muss.

Merke

Es empfiehlt sich eine enge Zusammenarbeit des Hausarztes/Diabetologen mit dem Betriebsarzt.

Eine konkrete Orientierungshilfe, wie die Arbeitsfähigkeit von Diabetespatienten erhalten werden kann, bietet der „Leitfaden für Betriebsärzte zu Diabetes und Beruf“ [10]. Er ist in Zusammenarbeit von Deutscher Diabetes Gesellschaft (DDG) und Deutscher Gesetzlicher Unfallversicherung e. V. (DGUV) entstanden. Darin ist zusammengestellt, welche Berufe besondere Risiken bergen können und wie Arbeitsmediziner und Arbeitgeber zu einer sachgerechten Bewertung kommen.


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Berufswahl

Bei der Berufswahl spielt der Diabetes somit nur noch in wenigen Berufsbildern eine entscheidende Rolle. Die vom Ausschuss Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft herausgegebenen „Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Diabetes mellitus“ [14] stellen daher klar: Menschen mit Diabetes ohne andere schwerwiegende Erkrankungen oder ausgeprägte Diabetesfolgeerkrankungen können inzwischen nahezu alle Berufe ausüben, für die sie persönlich geeignet erscheinen und die sie ergreifen wollen.

Berufsbeispiel

Dachdecker

Bis vor wenigen Jahren wurden Diabetespatienten beispielsweise generell als nicht geeignet angesehen, den Beruf des Dachdeckers auszuüben. Bei Betrachtung des konkreten Risikos ergibt sich jedoch, dass das mit einer Hypoglykämie verbundene Gefahrenpotenzial selbst bei diesem Berufsbild überschaubar ist. Selbstverständlich besteht die Gefahr, aufgrund hypoglykämischer Ausfälle das Gleichgewicht zu verlieren bzw. zu stürzen. Diese Gefahr kann sich auch ohne Diabetes realisieren, beispielsweise wenn man das Gleichgewicht verliert, daneben tritt oder durch Alkoholkonsum. Aus diesem Grund müssen Arbeitssicherungsmaßnahmen getroffen werden. Für einen Dachdecker, der wie vorgeschrieben abgesichert ist, stellt die Hypoglykämie in dieser Hinsicht dann kein relevant erhöhtes Gefahrenpotenzial mehr dar.

Langzeitentwicklung sollte betrachtet werden

Auch wenn aufgrund der aktuellen Stoffwechselsituation aus medizinischer Sicht keine Einschränkungen vorliegen, gilt: Bei der Entscheidung für einen Beruf sollte bedacht werden, dass der Gesundheitszustand des Patienten sich in Zukunft unvorhersehbar verschlechtern kann. Wenn die Tätigkeit dann nicht mehr ausgeübt werden kann/darf, droht die Berufsunfähigkeit. Chronisch kranke Menschen können sich dagegen nur selten durch eine entsprechende Berufsunfähigkeitsversicherung absichern.

Cave

Insbesondere Tätigkeiten, zu deren Ausübung dauerhaft eine hohe körperliche bzw. geistige Leistungsfähigkeit erforderlich ist, sollten bei der Berufswahl eher kritisch gesehen werden.

Vor allem Patienten, die eine Tätigkeit als Berufskraftfahrer wählen wollen, sollten sich über die möglichen Probleme im Klaren sein: Es gibt zwar – entgegen häufigen Fehlmeinungen – kein generelles Verbot für Menschen mit Diabetes, Lkw oder Taxi zu fahren. Patienten mit stabiler Stoffwechseleinstellung, die keine schweren Hypoglykämien zeigen, regelmäßige Selbstkontrollen vornehmen und Hypoglykämien rechtzeitig erkennen können, sind grundsätzlich geeignet zum Fahren von Lkw. Sie können daher eine entsprechende Fahrerlaubnis erhalten. Soweit aus ärztlicher Sicht keine Bedenken bestehen, dürfen auch mit Insulin behandelte Patienten als Taxi- oder Busfahrer tätig sein und Personen befördern.

Keine Kraftfahreignung besteht allerdings, wenn der Patient über keine hinreichende Fähigkeit zur Hypoglykämiewahrnehmung (mehr) verfügt. Kommt es innerhalb von 12 Monaten im Wachzustand zu mehr als einer schweren (= fremdhilfebedürftigen) Hypoglykämie, besteht in der Regel zunächst keine Fahreignung mehr. Eine fahrerlaubnispflichtige Teilnahme am Straßenverkehr ist dann erst wieder möglich, wenn wieder eine stabile Stoffwechsellage und eine Fähigkeit zur rechtzeitigen und zuverlässigen Hypoglykämiewahrnehmung bestehen.

Berufsbeispiel

Tauglichkeitsvorschriften

Bei einigen Berufsbildern bzw. in den dafür geltenden Tauglichkeitsvorschriften (z. B. Polizist, Pilot, Soldat) [12] gilt die insulinpflichtige Diabeteserkrankung pauschal als Ausschlusskriterium. Obwohl sie ansonsten über die geforderte Eignung verfügen, werden entsprechende Bewerber/Anwärter daher in der Regel pauschal abgelehnt. Es kann dann gar nicht erst eine Berufsausbildung begonnen werden. Nicht selten werden von Arbeits- und Betriebsmedizinern aber veraltete Eignungsrichtlinien zur Beurteilung der Einsatzfähigkeit von Menschen mit Diabetes zugrunde gelegt. Die Möglichkeiten der modernen Diabetestherapie werden häufig nicht berücksichtigt. Auch werden Ermessensspielräume bei der Beurteilung oft nicht genutzt bzw. wird die gesetzlich geforderte Einzelfallprüfung nicht bzw. nicht lege artis vorgenommen [16]. Zudem dürften die in manchen Tauglichkeitsbestimmungen enthaltenen pauschalen Ausschlusskriterien wohl diskriminierend und somit rechtswidrig sein [17].


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Vorstellungsgespräch

Angabe der Diabeteserkrankung

Unklarheit besteht oft darüber, ob die Diabeteserkrankung im Bewerbungsgespräch angegeben werden muss; auch dazu werden oft falsche oder missverständliche Informationen vermittelt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist eine allgemein gehaltene „Gesundheitsfrage“ ohne einen konkreten Anlass unzulässig. Fragen nach dem Gesundheitszustand dürfen zulässigerweise nur dann gestellt werden, wenn eine Erkrankung die Eignung des Bewerbers „entweder erheblich beeinträchtigt oder aufhebt“ [15]. Eine Ausnahme besteht also nur dann, wenn die Krankheit sich derart auf die auszuübende Tätigkeit auswirkt, dass diese schlechthin gar nicht erst ausgeübt werden kann.

Eine Krankheit muss im Bewerbungsgespräch daher nur im Ausnahmefall angegeben werden, insbesondere wenn

  • diese ansteckend ist,

  • aufgrund der Krankheit eine erhebliche Gefährdung zu befürchten ist, die sich auch nicht anders abwenden lässt (z. B. durch Arbeitsschutzmaßnahmen, Blutzuckerkontrollen etc.), oder

  • die Tätigkeit aufgrund der Krankheit gar nicht erst ausgeübt werden kann.

Im Fall der Diabeteserkrankung liegen diese Voraussetzungen in nur wenigen Berufen vor. Die Krankheit muss daher regelmäßig nicht angegeben werden; eine entsprechende Frage muss nicht beantwortet werden. Ein denkbarer Ausnahmefall könnte dagegen beispielsweise der Beruf des Tief(see)tauchers sein: Bei seiner Ausübung muss man einen Schutzanzug anlegen und kann diesen unter Wasser auch nicht ablegen – im Fall einer Hypoglykämie wäre die schnelle Aufnahme von Kohlenhydraten daher nicht bzw. nur schwer möglich.

Eine anlasslose Frage nach Krankheiten dient – ebenso wie Fragen nach der sexuellen Orientierung, der Familienplanung oder einer Gewerkschaftszugehörigkeit – vielmals nur der Diskriminierung. Derartige Fragen werden von der Rechtsprechung als unzulässig angesehen und müssen daher nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden. Der Bewerber darf die Antwort auf solche Fragen aber nicht nur verweigern, sondern er kann auch wahrheitswidrige Angaben machen, ohne dass ihm daraus Sanktionen erwachsen dürfen.

Merke

Die Antwort auf eine pauschale Frage nach einer Diabeteserkrankung kann daher in der Regel verweigert werden, alternativ kann der Patient dann auch wahrheitswidrig das Bestehen einer Diabeteserkrankung verneinen.


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Angabe der Schwerbehinderteneigenschaft

Auch die Frage nach einem Schwerbehindertenausweis muss nach neuester Rechtsauffassung nicht mehr wahrheitsgemäß beantwortet werden. Denn eine wahrheitsgemäße Angabe führt in der Praxis oftmals dazu, dass es aufgrund von Diskriminierung zu einer Ablehnung kommt [19]. Der Patient darf daher auch die Antwort auf die Frage nach einer Schwerbehinderteneigenschaft wahrheitswidrig verneinen. Er muss selbst dann keine rechtlichen Konsequenzen befürchten, wenn er später seine mit dem Schwerbehindertenstatus verbundenen Rechte geltend macht.

Selbstverständlich sollte der Patient dann aber seine (engsten) Kollegen über den Diabetes informieren, damit diese wissen, was im Notfall zu tun ist. Allerdings sollte man zumindest in der Probezeit noch vorsichtig sein, denn dann kann der Arbeitgeber problemlos und ohne Angabe von Gründen kündigen.


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Diabetes kann Kündigungsgrund sein

Nach Ablauf der Probezeit kann – zumindest in Betrieben, die mit mehr als 10 Arbeitnehmern dem Kündigungsschutzgesetz unterliegen – nicht mehr ohne Grund gekündigt werden [20]. Die Diabeteserkrankung allein reicht dann als Grund nicht aus. Allerdings ist eine Kündigung wegen Krankheit natürlich trotzdem möglich: Dies ist der Fall, wenn (z. B. aufgrund hoher Fehlzeiten) eine sog. „negative Zukunftsprognose“ dahin gehend besteht, dass der Arbeitnehmer die Tätigkeit krankheitsbedingt nicht mehr wird ausüben können.

Eine Krankheit ist auch kein Freibrief für Fehlverhalten: Eine Kassiererin im Supermarkt muss die Weisung des Arbeitgebers befolgen, dass an der Kasse und vor Kunden kein Blutzucker gemessen werden darf. Selbstverständlich darf die Blutzuckerkontrolle nicht verboten werden – der Arbeitnehmer hat aber sicherzustellen, dass Kollegen oder Kunden dadurch nicht gestört oder belästigt werden. Auch ein Koch mit Diabetes wird hinnehmen müssen, dass er seinen Blutzucker nicht neben offenen Lebensmitteln in der Küche kontrollieren darf. Widersetzt er sich einer entsprechenden Anordnung des Arbeitgebers, muss er mit einer verhaltensbedingten Kündigung rechnen.

In Betrieben mit bis zu 10 Mitarbeitern gibt es keinen gesetzlichen Kündigungsschutz. In ihnen kann jederzeit und ohne Angabe eines Grundes innerhalb der gesetzlichen bzw. der im Arbeitsvertrag vereinbarten Frist gekündigt werden.

Merke

Patienten, die in Kleinbetrieben mit bis zu 10 Mitarbeitern beschäftigt sind, sollten daher besonders zurückhaltend mit der Offenbarung der Krankheit sein.


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Schwerbehindertenausweis bei Diabetes

Für viele Patienten ist der Erhalt eines Schwerbehindertenausweises ein wichtiges Anliegen. Menschen mit einer Behinderung genießen besonderen staatlichen Schutz. Wer als schwerbehindert anerkannt ist, erhält einen Schwerbehindertenausweis. Mit diesem können zahlreiche Nachteilsausgleiche in Anspruch genommen werden.

Wer gilt als „behindert“?

Um einen Schwerbehindertenausweis zu erhalten, muss zunächst ein Antrag auf „Feststellung einer Behinderung“ beim zuständigen Versorgungsamt gestellt werden.

Gesetzestext

§ 2 SGB IX (Auszug)

(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.

(2) Menschen sind […] schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt [...].

Jede im Antrag angegebene Gesundheitsstörung wird von der Behörde dann auf einer Skala von 0 bis 100 eingestuft, dem sog. Grad der Behinderung („GdB“). Die einzelnen GdB werden dann allerdings nicht addiert, sondern es wird eine Gesamtbewertung vorgenommen. Ab Erreichen eines Gesamt-GdB von 50 liegt eine Schwerbehinderung vor; der Patient hat dann Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis.


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Welche Vorteile bietet ein Schwerbehindertenausweis?

Mit einem Schwerbehindertenausweis können zahlreiche „Nachteilsausgleiche“ in Anspruch genommen werden.

Kündigungsschutz, Urlaub, Überstunden

Einer der wichtigsten Nachteilsausgleiche ist der erhöhte Kündigungsschutz im Arbeitsleben. Dieser ist unabhängig von der Betriebsgröße und greift daher auch in Kleinbetrieben bis 10 Mitarbeiter, die nicht dem Kündigungsschutzgesetz unterfallen. Die rechtswirksame Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters setzt voraus, dass der Arbeitgeber zuvor die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt hat. Eine Kündigung, die ohne diese Zustimmung erfolgte, ist immer unwirksam.

Gesetzestext

§ 85 SGB IX

Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes.

Schwerbehinderte Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, haben Anspruch auf 5 Tage bezahlten Sonderurlaub. Bei Teilzeitbeschäftigung reduziert sich der Urlaubsanspruch entsprechend.

Gesetzestext

§ 125 SGB IX (Auszug)

(1) Schwerbehinderte Menschen haben Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr; verteilt sich die regelmäßige Arbeitszeit des schwerbehinderten Menschen auf mehr oder weniger als fünf Arbeitstage in der Kalenderwoche, erhöht oder vermindert sich der Zusatzurlaub entsprechend. [...]

(2) Besteht die Schwerbehinderteneigenschaft nicht während des gesamten Kalenderjahres, so hat der schwerbehinderte Mensch für jeden vollen Monat der im Beschäftigungsverhältnis vorliegenden Schwerbehinderteneigenschaft einen Anspruch auf ein Zwölftel des Zusatzurlaubs nach Absatz 1 Satz 1. Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, sind auf volle Urlaubstage aufzurunden. Der so ermittelte Zusatzurlaub ist dem Erholungsurlaub hinzuzurechnen und kann bei einem nicht im ganzen Kalenderjahr bestehenden Beschäftigungsverhältnis nicht erneut gemindert werden.

[…]

Häufig besteht der Irrtum, dass Schwerbehinderte keine Überstunden leisten müssten. Dies ist so nicht zutreffend. Tatsächlich müssen schwerbehinderte Menschen auf Verlangen von Mehrarbeit freigestellt werden; sie müssen also nicht mehr als die gesetzliche Regelarbeitszeit leisten.

Merke

Überstunden können von Schwerbehinderten somit nur dann verweigert werden, wenn diese über die normale gesetzliche Arbeitszeit von 8 Stunden werktäglich hinausgehen.

Schwerbehinderte sind allerdings von Bereitschaftsdiensten, die Mehrarbeit bedeuten, freizustellen [18].


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Weitere Nachteilsausgleiche, Steuerfreibeträge

Daneben bringt der Schwerbehindertenausweis auch weitere Entlastungen: So haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf begleitende Hilfe im Arbeitsleben, beispielsweise auf technische Arbeitshilfen oder Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz.

Auch eröffnet der Schwerbehindertenstatus bessere Chancen auf Verbeamtung bzw. Übernahme in den öffentlichen Dienst – denn behinderte Menschen sind bei gleicher Eignung und Befähigung grundsätzlich bevorzugt einzustellen.

Für viele Patienten sind auch die mit dem Schwerbehindertenausweis verbundenen Steuerfreibeträge relevant. Die Höhe des Pauschbetrags hängt vom Grad der Behinderung ab und wird durch das Einkommensteuergesetz (EStG) geregelt.

Gesetzestext

§ 33b EStG (Auszug)

(1) Wegen der Aufwendungen für die Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, für die Pflege sowie für einen erhöhten Wäschebedarf können behinderte Menschen […] einen Pauschbetrag nach Absatz 3 geltend machen (Behinderten-Pauschbetrag). […]

(2) Die Pauschbeträge erhalten

  1. behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung auf mindestens 50 festgestellt ist;

  2. behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung auf weniger als 50, aber mindestens auf 25 festgestellt ist, wenn

    • dem behinderten Menschen wegen seiner Behinderung nach gesetzlichen Vorschriften Renten oder andere laufende Bezüge zustehen, und zwar auch dann, wenn das Recht auf die Bezüge ruht oder der Anspruch auf die Bezüge durch Zahlung eines Kapitals abgefunden worden ist, oder

    • die Behinderung zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hat oder auf einer typischen Berufskrankheit beruht.

(3) Die Höhe des Pauschbetrags richtet sich nach dem dauernden Grad der Behinderung. Als Pauschbeträge werden gewährt bei einem Grad der Behinderung

  • von 25 und 30: 310 Euro,

  • von 35 und 40: 430 Euro,

  • von 45 und 50: 570 Euro,

  • von 55 und 60: 720 Euro,

  • von 65 und 70: 890 Euro,

  • von 75 und 80: 1060 Euro,

  • von 85 und 90: 1230 Euro,

  • von 95 und 100: 1420 Euro.

Für behinderte Menschen, die hilflos im Sinne des Absatzes 6 sind, und für Blinde erhöht sich der Pauschbetrag auf 3700 Euro.

[…]

Bei Kindern mit Diabetes wird in der Regel problemlos bis zum 16. Lebensjahr eine „Hilflosigkeit“ festgestellt und zusätzlich zum Behinderungsgrad auch das sog. Merkzeichen „H“ zuerkannt. Die Eltern können dann gemäß § 33b Abs. 3 EStG einen erhöhten Steuerfreibetrag von 3700 Euro in Anspruch nehmen.


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Altersrente

Für ältere Menschen ist besonders wichtig: Schwerbehinderte können früher, unter bestimmten Voraussetzungen bereits mit 63 Jahren, ohne Abzug vorzeitig in Altersrente gehen.

Wer Abzüge bei der Rente in Kauf nimmt, kann sogar schon mit 60 Jahren die Rente in Anspruch nehmen. In diesem Fall wird allerdings für jeden Monat eines Rentenbeginns vor Vollendung des 63. Lebensjahres ein Abschlag in Höhe von 0,3 % fällig. Wer also bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres die Rente in Anspruch nimmt, müsste einen monatlichen Rentenabzug von 10,8 % (= 36 Monate × 0,3 %) in Kauf nehmen.

Gesetzestext

§ 236a SGB VI (Auszug)

(1) Versicherte, die vor dem 1. Januar 1964 geboren sind, haben frühestens Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wenn sie

  1. das 63. Lebensjahr vollendet haben,

  2. bei Beginn der Altersrente als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 Neuntes Buch) anerkannt sind und

  3. die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben.

Die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Altersrente ist frühestens nach Vollendung des 60. Lebensjahres möglich.

(2) Versicherte, die vor dem 1. Januar 1952 geboren sind, haben Anspruch auf diese Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres; für sie ist die vorzeitige Inanspruchnahme nach Vollendung des 60. Lebensjahres möglich. Für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1951 geboren sind, werden die Altersgrenze von 63 Jahren und die Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme wie folgt angehoben: […]

Cave

Aufgrund diverser Übergangsregelungen hängen die jeweils geltenden Altersgrenzen gemäß § 236a Abs. 2 SGB VI vom Geburtsjahr ab.

Für Personen, die in der Zeit vom 1. Januar 1952 bis zum 31. Dezember 1963 geboren sind und keinen Vertrauensschutz genießen, gilt: Die Altersgrenze für eine abschlagsfreie Rente wird schrittweise von 63 auf 65 Jahre angehoben. Die Altersgrenze, ab der die Rente frühestens – jedoch mit Abschlägen – in Anspruch genommen werden kann, steigt parallel dazu von 60 auf 62 Jahre.


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Gleichstellung

Menschen mit einem GdB von 30 können auf Antrag mit Schwerbehinderten gleichgestellt werden und genießen dann denselben Kündigungsschutz. Voraussetzung dafür ist, dass sie infolge ihrer Behinderung ohne Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können.

Gesetzestext

§ 2 SGB IX (Auszug)

[…]

(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).


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Grad der Behinderung bei Diabetes

Einstufung

Bei der Bewertung der Gesundheitsbeeinträchtigungen hat sich die Behörde an der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zu orientieren. In der dortigen Anlage sind für nahezu alle Krankheiten entsprechende Vorgaben zur Einstufung (= „Versorgungsmedizinische Grundsätze“) festgelegt.

Gesetzestext

Anlage zu § 2 VersMedV (Auszug)

15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdB rechtfertigt. Der GdB beträgt 0.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdB beträgt 20.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdB beträgt 30 bis 40.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdB beträgt 50.

Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdB-Werte bedingen.

Eine Schwerbehinderung liegt danach unter folgenden Umständen vor: Die Menschen mit Diabetes, „die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung“.

Damit der Diabetes zu einer Anerkennung als „schwerbehindert“ führt, müssen also folgende Voraussetzungen vorliegen:

  • Insulintherapie mit täglich mindestens 4 Insulininjektionen,

  • selbstständige Anpassung der Insulindosis (intensivierte konventionelle Insulintherapie [ICT], Pumpentherapie [CSII]) und

  • erhebliche Einschnitte, die gravierend die Lebensführung beeinträchtigen.

Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen müssen dokumentiert sein.

Eine Diabeteserkrankung mit Insulintherapie allein reicht inzwischen nur noch selten aus, um diese Voraussetzungen nachzuweisen. Selbst ein hoher Therapieaufwand – also sehr häufiges Messen und Spritzen – stellt nach aktueller Rechtslage noch keine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung dar.


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Erhebliche Einschnitte

Das Bundessozialgericht hat in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass es nicht allein auf den Therapieaufwand ankommen kann. Vielmehr muss „die betreffende Person durch Auswirkungen des Diabetes mellitus auch insgesamt gesehen erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt sein“. Solche „erheblichen Einschnitte“ könnten auf Besonderheiten der Therapie beruhen – etwa „wenn ein Erkrankter aufgrund persönlicher Defizite für eine Injektion erheblich mehr Zeit benötigt als ein anderer, im Umgang mit den Injektionsutensilien versierter Mensch“. Auch ein unzulänglicher Therapieerfolg, also eine schlecht eingestellte Stoffwechsellage, kann sich als solcher Einschnitt der Lebensführung auswirken.

Merke

Ein hoher Therapieaufwand für Messen und Spritzen reicht nicht für die Anerkennung als „schwerbehindert“ aus – vielmehr muss der Betroffene insgesamt durch die Krankheit erheblich in der Lebensführung und der Teilhabe am Alltagsleben beeinträchtigt sein.

Als erhebliche Einschnitte zählt meist noch nicht, wenn es aufgrund der Krankheit bei Planung des Tagesablaufs, Gestaltung der Freizeit, Mahlzeitenzubereitung und Mobilität zu Einschränkungen oder Belastungen kommt. Denn selbst wenn diese Aktivitäten „mit einem erhöhten planerischen Aufwand verbunden“ bzw. nur „unter erschwerten Bedingungen (weitere Blutzuckermessungen; beim Schwimmen erneutes Anlegen der Pumpe), letztlich aber nicht ausgeschlossen“ seien, lasse dies noch keinen Rückschluss auf gravierende Teilhabeeinschränkungen zu – so zumindest das Landessozialgericht Halle (Urteil vom 27.08.2014, L 7 SB 23/13).

Selbst benachteiligende Umstände bei den erforderlichen Blutzuckermessungen und beim Spritzen (separater Raum bzw. Toilette) seien „der Krankheit immanent und können nicht als gesondert zu berücksichtigende Teilhabeeinschränkungen bewertet werden“. Die Schwerbehinderteneigenschaft könne allein aufgrund eines Diabetes nur dann angenommen werden, wenn „die zu berücksichtigende Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsstörungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft so schwer wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung beeinträchtigt“.

Eine Schwerbehinderung allein aufgrund des Diabetes kann daher meist nur noch festgestellt werden, wenn der Betroffene nachweist: Durch den Diabetes kommt es zu ganz massiven Beeinträchtigungen im Alltagsleben.

Merke

Gut eingestellte Patienten haben kaum mehr Aussicht, allein aufgrund der Diabeteserkrankung einen Schwerbehindertenausweis zu erhalten.


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Tipps zur Antragstellung

Im Antrag auf Feststellung einer Behinderung sollte der Patient ausführlich auf alle genannten Voraussetzungen eingehen – wer sich nur auf den hohen Aufwand seiner Insulin- bzw. Insulinpumpentherapie stützt, wird damit wahrscheinlich keinen Erfolg haben. Der Patient sollte daher belegen (können), dass er erhebliche Einschränkungen erfährt, die sich „gravierend“ auf seine Lebensführung auswirken. Dazu sollte möglichst umfassend geschildert werden, wie und inwieweit ein reguläres Alltagsleben durch den Diabetes beeinträchtigt wird.

Die Feststellung einer Schwerbehinderung kann allerdings dann erfolgen, wenn neben der Diabeteserkrankung noch weitere erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen vorliegen. Relevant sein können insbesondere Störungen des Bewegungsapparats, Bandscheibenvorfälle, Allergien oder Folgeerkrankungen wie Neuropathie, Retinopathie oder Nephropathie. Diese Erkrankungen werden dann jeweils gesondert bewertet und mit einem GdB eingestuft. Bei der Gesamtbewertung kann dies im Ergebnis dann doch zur Feststellung einer Schwerbehinderung führen.


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Für Kinder und Jugendliche bis 16. Lebensjahr: Hilflosigkeit

Hilflos sind Menschen, die infolge von Gesundheitsstörungen für einige häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen – nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz „nicht nur vorübergehend“. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn

  • die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder

  • die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.

Merke

Bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes wird bis zum 16. Lebensjahr ohne weitere Nachweise eine Hilflosigkeit festgestellt.

Gesetzestext

Anlage zu § 2 VersMedV (Auszug)

A5 – Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen

[…]

d) Bei angeborenen oder im Kindesalter aufgetretenen Behinderungen ist im Einzelnen folgendes zu beachten:

[…]

jj) Beim Diabetes mellitus ist Hilflosigkeit bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres anzunehmen.

[…]

Ein Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen H berechtigt zur kostenlosen Beförderung im Nahverkehr. Darüber hinaus können weitere Steuererleichterungen (z. B. Absetzbarkeit von Fahrten) oder soziale Vergünstigungen (z. B. ermäßigte Eintrittsgebühren) in Anspruch genommen werden.

Gesetzestext

§ 145 SGB IX (Auszug)

(1) Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung […] hilflos […] sind, werden von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises […] unentgeltlich befördert; die unentgeltliche Beförderung verpflichtet zur Zahlung eines tarifmäßigen Zuschlages bei der Benutzung zuschlagpflichtiger Züge des Nahverkehrs. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. […]

Kernaussagen
  • Die Diabeteserkrankung ist kein grundsätzliches Hindernis für das Führen von Kraftfahrzeugen. Auch das Führen von Lkw über 3,5 t und die Personenbeförderung sind inzwischen für insulinpflichtige Patienten regelmäßig möglich.

  • Voraussetzung ist, dass Hypoglykämien rechtzeitig wahrgenommen werden.

  • Eine Fahreignung liegt in der Regel nicht mehr vor, wenn innerhalb von 12 Monaten im Wachzustand wiederholt eine schwere, d. h. fremdhilfebedürftige Hypoglykämie auftritt.

  • Eine Fahreignung kann erst dann wieder angenommen werden, wenn eine hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sichergestellt sind.

  • Bei der Berufswahl spielt der Diabetes nur noch in wenigen Berufsbildern eine entscheidende Rolle.

  • Die vom Ausschuss Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft herausgegebenen „Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Diabetes mellitus“ stellen daher klar: Menschen mit Diabetes ohne andere schwerwiegende Erkrankungen oder ausgeprägte Diabetesfolgeerkrankungen können inzwischen nahezu alle Berufe ausüben, für die sie persönlich geeignet erscheinen und die sie ergreifen wollen.

  • Eine Diabeteserkrankung mit Insulintherapie allein reicht in der Regel nicht mehr aus, um die Voraussetzungen zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft zu erfüllen. Selbst ein hoher Therapieaufwand – also sehr häufiges Messen und Spritzen – stellt nach aktueller Rechtslage keine für die Anerkennung erforderliche gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung dar.

  • Die Frage nach einem Schwerbehindertenausweis muss im Bewerbungsgespräch nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden.


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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Karsten Müssig, Düsseldorf.


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Oliver Ebert

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Rechtsanwalt, Jahrgang 1969. 1990–1994 Studium der Rechtswissenschaften in Konstanz und Paris (Sorbonne). Fachanwalt für IT-Recht, Digital Health Consultant und Medizinjournalist. Ehrenamtlich Vorsitzender des Ausschusses Soziales der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG). Unterstützung der Pressestelle von DiabetesDE und DDG zum Thema Diabetes & Recht.

Interessenkonflikt

Der Autor ist Vorsitzender des Ausschusses Soziales der Deutschen Diabetes-Gesellschaft.


Korrespondenzadresse

RA Oliver Ebert
Nägelestraße 6a
70597 Stuttgart
Email: ebert@rek.de


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