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DOI: 10.1055/s-0043-121815
Klavikulafrakturen im alpinen Skirennsport – 160 km/h
Verantwortlicher Herausgeber dieser Rubrik:
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
16. Februar 2018 (online)
- Prävention durch Protektoren und Krafttraining
- Operative Versorgung vor allem bei Sportlern
- Nachbehandlungsschema konservativ und operativ ähnlich
- Dem Sportler die Angst nehmen
- Fear Avoidance und Graded Exposure
Im Winter ist kaum ein Sport so beliebt wie das Skifahren. Vielen ist das Risiko bewusst – nicht zuletzt durch dramatische Unfälle, die durch die Medien gingen. Dabei muss es nicht immer zu lebensgefährlichen Verletzungen kommen. Stürzt ein Sportler etwa auf den Arm, entsteht schnell eine Klavikulafraktur. In deren Therapie geht es darum, nicht nur den Körper wiederherzustellen, sondern dem Sportler die Angst zu nehmen, wieder auf die Piste zurückzukehren.
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Nicole Bartkowski ist Physiotherapeutin und arbeitet im Fachteam obere und untere Extremität im Institut für Physiotherapie im Kantonsspital Winterthur. Ihre Schwerpunkte liegen in der Sportphysiotherapie, dem Kraft- und Ausdauertraining sowie der orthopädisch-chirurgischen Rehabilitation. In der Betreuung und Reha ihrer Patienten profitiert sie vor allem von ihrer Erfahrung als Hochleistungssportlerin im Fechten auf internationalem Niveau.
Der alpine Skirennsport gehört zu den populärsten und gefährlichsten Wintersportarten. Allein in der Schweiz verletzen sich jährlich etwa 100.000 Wintersportler, davon 43.000 im alpinen Skisport. Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung in Aarberg entstehen dadurch jährlich Kosten von mehr als 13 Milliarden CHF, umgerechnet rund 11 Milliarden Euro [1]. Vor allem bei den Abfahrtswettkämpfen, bei denen die Athleten mit bis zu 160 km/h brutale 45-Grad-Gefälleneigungen hinunterrasen [2], kommt es regelmäßig zu teils schweren Verletzungen an Bewegungsapparat und Kopf. Innerhalb eines Skiweltcups verletzen sich 4,1 Prozent der Athleten. Am häufigsten treten dabei Rupturen des vorderen Kreuzbands (35,6 Prozent), der Rotatorenmanschette (24 Prozent) und anteriore glenohumerale Instabilitäten (22 Prozent) auf. Aber auch Verletzungen der oberen Extremität wie Klavikulafrakturen sind mit 11 Prozent bei Freizeitsportlern und 6,8 Prozent bei Leistungssportlern häufig [3–8].
Klavikulafrakturen werden besonders bei Leistungssportlern operativ versorgt, um Fehlstellungen zu vermeiden.
Prävention durch Protektoren und Krafttraining
Einige dieser Verletzungen lassen sich mit mittlerweile gängigen und qualitativ hochwertigen Protektoren verhindern. Die Sportler schützen damit ihre Kniegelenke, Kopf, Wirbelsäule, Ellenbogen und Hände [9]. Die ventrale Schulterpartie bleibt aber weitestgehend ungeschützt. Ein gezieltes und präventives Krafttraining zur Vorbereitung auf die Ski-Saison ist daher trotz guter Protektoren unerlässlich. Hiervon profitieren nicht nur Leistungs-, sondern auch Freizeitsportler [9–11]. Das Krafttraining erhöht zudem signifikant die Knochendichte, was das Risiko für Frakturen der Klavikula ebenfalls reduziert [12].
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Operative Versorgung vor allem bei Sportlern
Kommt es dennoch zu einer Klavikulafraktur (meist Klavikulaschaftfraktur), entsteht diese häufig im Rahmen von Stürzen, bei denen sich der Athlet mit der Hand und dem Arm abfängt. Eine operative Therapie ist dann indiziert, wenn die geteilten Knochenstücke stark verschoben oder zertrümmert sind. Insbesondere im Leistungssport will man vermeiden, dass es später zu Fehlstellungen kommt. Häufig wird darum insbesondere bei Leistungssportlern das operative Verfahren bevorzugt (64 Prozent) [13–15]. Auch weil Fehlstellungen durch die ungünstige Mechanik eine erhöhte Rezidivrate bedeuten [13]. Ein Nachteil gegenüber der konservativen Therapie ist allerdings, dass bei einer weiteren OP die Implantate aus Titan ein Jahr später entfernt werden müssen.
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Nachbehandlungsschema konservativ und operativ ähnlich
Die Rehabilitation nach einer OP und die konservative Versorgung unterscheiden sich kaum ([TAB. 1, S. 26)]. Um die Extremität ruhigzustellen, bekommen die Patienten einen Rucksack- bzw. Gilchrist-Verband [16]. Innerhalb der folgenden vier Wochen sollten sie nicht schwerer als drei Kilogramm heben und den Arm nicht über 90 Grad abduzieren. In der Physiotherapie geht es in dieser Zeit darum, die Mobilität zu steigern und die Belastungsfähigkeit wiederaufzubauen (REHABILITATIONSSCHEMA, S. 24). Nach vier Wochen wird der Patient erneut geröntgt, um eine vollständige Heilung zu bestätigen. Ab der fünften Woche darf er mit gezieltem Krafttraining beginnen. Allmählich steht dann der Leistungsaufbau im Vordergrund.
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Dem Sportler die Angst nehmen
Neben der strukturellen Heilung liegt in der Reha von Skisportlern ein besonderes Augenmerk darauf, dass der Athlet sein Selbstvertrauen wieder so aufbaut, dass er sorgenfrei in die sportliche Extremsituation zurückkehren kann. Besonders wichtig ist deshalb die interdisziplinäre Zusammenarbeit [17–19], vor allem mit den Psychologen [20]. Häufig sorgen sich Athleten, ob sie je wieder die alte Leistungsfähigkeit erreichen. Der daraus resultierende Stress kann im Wettkampf die Konzentration und Leistungsbereitschaft senken. Wie sich der Sportler dahingehend während der Reha entwickelt, können Therapeuten etwa mit dem DASH-Fragebogen zur Erfassung der Funktionseinschränkung überprüfen. Oder sie nutzen psychologische Fragebögen wie die KEB (Kurzskala zur Erfassung von Erholung und Beanspruchung im Sport) [21–23].
Negativer, überlastend wirkender Stress entsteht oft aus dem sozialen Umfeld – Freunde oder Familie sind häufig übermotiviert und reden dem Patienten Risiken ein, gerade während der Rehaphase. Um die mentale Kontrolle zu verbessern, eignen sich im Rahmen der Sportphysiotherapie verschiedene Copingstrategien wie die Angstvermeidung oder das Graded Exposure. Zudem sind exakte Planungen mithilfe von SMART-Zielen im Sinne der Goal-Setting-Theorie (PHYSIOPRAXIS 5/16, S. 42) und gezielte Interventionen zur Wiederherstellung des vollen Selbstvertrauens (Fear-Avoidance-Modell, PHYSIOPRAXIS 7-8/10, S. 46) unumgänglich [4, 30].
Latenz-, Granulations- und Exsudationsphase (1. bis 21. Tag)
Ziele
In der Latenz-, Granulations- und Exsudationsphase wird das verletzte Gebiet geschützt, der Leistungsabfall durch die Atrophie der muskuloskeletalen Strukturen (Knochendichte, Muskelgewebe, neuronale Ansteuerung) eingedämmt und die Beweglichkeit erhalten. Der Übergang der ersten drei Phasen und auch der nachfolgenden verläuft fließend. Mögliche Ziele nach SMART sind:
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Mobilität auf 90° horizontale Abduktion innerhalb der ersten vier Wochen post-OP steigern durch aktive, passive Mobilisation in unterschiedlichen Ausgangsstellungen und in Kombination mit anderen Bewegungsmustern
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Erhalt der Kraftfähigkeit der Rumpfmuskulatur und der Muskulatur der unteren Extremitäten durch Variation des normalen, periodisierungsorientierten Hypertrophietrainings
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Verletzungsanalyse (Videoanalyse des Unfalls)
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nach den ersten vier Wochen: spezifischer Aufbau von Kraft und Funktionalität sowohl der geschädigten als auch der umgebenden Strukturen, auch mit erläuterndem Hinblick auf die Prävention durch das durchgeführte Krafttraining [9, 10, 24–27]
Maßnahmen
Aufklärung:
Information über den rehabilitativen Verlauf, der Prognose zur Heilung, wie wichtig es ist, das vorgegebene Bewegungslimit einzuhalten und die Zeit zu beachten, in der der Sportler wieder in das Training einsteigen darf
Ab dem 1. Tag
Beweglichkeit:
relative Immobilisation im flexiblen Gilchrist- oder Rucksack-Verband; passive Schultermobilisation (2x täglich, 5x20 Wiederholungen in alle Richtungen < 90° Abduktion)
Ausdauer:
aerobes Training auf dem Fahrradergometer, ohne dabei die Hände zum Abstützen zu verwenden (mit sehr hohem Widerstand und im Rahmen eines Intervallprogramms, z. B. Beginn mit 3x90 Sekunden, 1x täglich + 1x täglich 30 Minuten aerobe Ausdauer)
Ab der 2. Woche zusätzlich:
Kraft:
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2x täglich Wandliegestützen, individuell im schmerzhaft tolerierbaren Rahmen (3x15 Wiederholungen, anfänglich 25 % des vollen Bewegungsausmaßes, nicht über VAS 2/10 nach Belastung, dann wöchentlich um zunächst 10 %, ab der 5. Woche um jeweils 25 % steigern)
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Hypertrophietraining der unteren Extremität und Rumpfmuskulatur (zunächst 3, später 5 Sätze, zwischen 75 und 85 % des 1 RM, 3x/Woche, z. B. Beinpresse, Hip Extensions, Hip Thrusts, Hüftgelenkabduktion gegen Widerstand, Beinbeugen- und strecken in der Maschine, Split Squats ([ABB. 1)] mit Gewichtsweste, wobei die Schnalle zur Fixation auf der betroffenen Seite geöffnet werden kann [28])
Verlaufskontrolle:
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1x pro Woche Sportler mit dem DASH und KEB testen, Absprache mit Trainer und Arzt, um ggf. die Trainingsinhalte anzupassen: weniger Hypertrophie, dafür verstärkt in Richtung Metabolismus mit höheren Wiederholungszahlen und weniger Intensität
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Einschalten eines Psychologen, sofern sich etwa angstprovozierende Interpretationen der bevorstehenden sportlichen Aufgaben manifestieren sollten oder das Selbstvertrauen spezifisch aufgebaut werden muss
Ab der 3. Woche zusätzlich:
Ausdauer:
auf dem Fahrradergometer langsam damit beginnen, die Hände auf dem Lenker abzustützen; Schmerzen sollten nicht stärker als VAS 2/10 sein
Beweglichkeit:
aktive Mobilisation des Glenohumeralgelenks (indirekt auch des Sterno- und Akromioklavikulagelenks) in alle Richtungen soweit schmerzfrei möglich; 2x täglich
Kraft:
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Liegestützen auf dem Boden; 2x täglich über jeweils 3 Sätze (Wiederholungen an die eigene Toleranz anpassen) ([ABB. 2 UND 3])
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Zugübungen für den Rücken an der Maschine, Gewichte werden jedoch nicht gezogen, sondern die Polster mit den Ellenbogen waagrecht nach hinten gedrückt – Hypertrophiesystem
Sonstiges:
Wenn der Patient in mehr als zwei Therapieeinheiten innerhalb einer Woche Übungen aus Angst nicht ausführt, sollte der Therapeut Maßnahmen einsetzen, um das Angstvermeidungsverhalten zu reduzieren.
Regenerationsphase (ab der 5. Woche)
Kraft:
Rückkehr zum normalen Training und Normalisierung des Krafttrainings mit Übungen wie Bankdrücken, Split Squats ([ABB. 4]), Ruderübungen, Latzug, Rudern am TRX ([ABB. 5]), Military Press oder Split Squats mit Langhantelstange ([ABB. 6]): anfangs 15 Wiederholungen und maximal 60 % des 1 RM, bis auf Maximalkraftniveau nach 6 Wochen; 3/Woche [9, 10]
Verlaufskontrolle:
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1x pro Woche motorische Leistungen (Beweglichkeit, Trainingswiderstand, Bewegungsrhythmus) mit den Leistungen der Woche zuvor vergleichen
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Sportler bei Beginn der Vollbelastung nach 4 und 8 Wochen mit dem DASH und KEB testen, Absprache mit Trainer und Arzt, um evtl. Training anzupassen und einen Psychologen einzuschalten
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Fear Avoidance und Graded Exposure
Fear-Avoidance-Modelle sind gerade im Leistungssport und insbesondere bei Sportarten, die viel Selbstüberwindung und Mut abverlangen, wichtig. Hierbei nimmt der Therapeut durch eine stufenweise, stark funktionsorientierte Herangehensweise dem Athleten die Sorge vor einer erneuten Verletzung und der damit verbundenen Aktionslimitierung. Mit einem Skisportler mit Klavikulafraktur kann er zum Beispiel einen intensiven Aufprall simulieren, den dieser mit der Hand abstützt. Eine Möglichkeit, das zu erreichen, sind etwa Clap Push-ups, die auf normale Push-ups aufbauen und später TRX Push-ups einleiten [31].
Verbindet man die Angstgefühle mit funktionellen Aufgaben, spricht man von Graded Exposure. Bei den Graded-Exposure-Programmen (GE) baut man stufenweise die durch Angst ausgelösten motorischen Hemmungen ab, ohne jedoch wie beim Graded Activity den Zeitfaktor speziell zu betrachten. Dabei listet der Therapeut mit dem Patienten zunächst auf, welche Situationen Angst vor dem Versagen hervorrufen. Auch das einwirkende Umfeld kann eine Rolle spielen (Familie, Trainer, Sponsoren). Je nach Sportler steigert der Therapeut die Intensität dann durch „Fluten“ (schwerste Konfrontationen oder Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, z. B. reaktives Medizinball-Stoßen einbeinig auf dem Posturomed) oder „stufenweise“ (mit den leichtesten Anforderungen beginnend, z. B. isolierte Bewegungen ohne Krafteinwirkung) [32]. Das Fluten soll eine enorme Herausforderung für den Athleten sein. GE ist insbesondere sinnvoll für mentale Strategiewechsel, die Selbstbestärkung, bei der Therapeut und Patient eine Übung reflektieren, die vorher unmöglich erschien, und das Selbstmanagement, indem der Patient etwa beim Aufwärmen mental die bevorstehende Abfahrtsstrecke durchläuft und besonders die komplizierten Passagen beachtet.
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