Einleitung
Einleitung
Die Publikation eines Zusammenhangs von mehreren Patienten mit interstitiellen Lungenerkrankungen
und ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Betrieb der Flockindustrie hat in den vergangenen
vier Jahren in den USA eine öffentliche Diskussion ausgelöst, welche neben der Klärung
medizinischer und arbeitstechnischer Aspekte des Krankheitsgeschehens das Spannungsfeld
des Wissenschaftlers im Interessenkonflikt der Verantwortung gegenüber den betroffenen
Patienten, den Forderungen des Arbeitgebers und wirtschaftlichen Interessen der Industrie
widerspiegelt.
Vorgeschichte
Vorgeschichte
Im November 1994 und im Februar 1996 wurden zwei ansonsten gesunde junge Männer von
ihren Pneumologen zur weiteren Abklärung einer unklaren interstitiellen Lungenerkrankung
dem Arbeitsmediziner David Kern vorgestellt. Kern leitete seit 1986 die arbeits- und
umweltmedizinische Abteilung des Memorial Hospital in Pawtucket, Rhode Island, welches
wiederum zur Medical School der Brown University in Providence, Rhode Island, gehört
[[8], [24]]. Beide Patienten waren über mehrere Jahre in einem Beflockungsbetrieb in Rhode
lsland tätig gewesen [[10]].
Bereits 1990 und 1991 waren fünf Patienten mit nichtgranulomatösen interstitiellen
Lungenerkrankungen in einem anderen Zweigbetrieb derselben Firma in der kanadischen
Provinz Ontario aufgefallen und später beschrieben worden [[16]], zwei weitere bioptisch gesicherte Fälle traten danach dort auf.
Aus diesen Gründen informierte Kern neben der Firmenleitung auch das National Institute
for Occupational Safety and Health (NIOSH), und führte in Form einer retrospektiven
Kohortenstudie eine gesundheitliche Evaluation der im Beflockungsbetrieb Beschäftigten
durch [[8], [10], [13], [24]].
Arbeitsprozess
Arbeitsprozess
Unter dem Begriff der „Beflockung” (flocking) versteht man ein elektrostatisch-mechanisch durchgeführtes Verfahren zum Aufbringen
von geschnittenen oder gemahlenen synthetischen oder natürlichen Fasern (dem sogenannten
flock) auf ein mit Klebstoff beschichtetes Substrat (Gewebe, Papier, Kunststoff, Metall).
So kann je nach Art, Länge und Menge des Flockes eine velour-, samt- oder wildlederähnliche
Oberfläche erzeugt werden. Als synthetische Faser wird häufig Nylon (Polyamid), Kunstseide
oder Polyester benutzt. Beflocktes Gewebe wird neben umfangreicher Verwendung für
Polsterbezüge bei Sitzmöbeln und in der Automobilindustrie für eine Vielzahl weiterer
Einsatzbereiche produziert (Tab. [1]).
Hinsichtlich der Gefährdungsbeurteilung von Arbeitnehmern in der Nylon-Beflockungsindustrie
müssen Verfahrensabläufe und mögliche arbeitstechnische Verfahrensunterschiede dargestellt
werden [[4], [27]]: Zunächst muss ein Fasermaterial definierter Länge (Flock) durch das Schneiden
von kontinuierlichen Nylonfilamenten („Kabeln”) gewonnen werden. Dies kann mittels
einer guillotineähnlichen Schneidmaschine mit Ober- und Untermesser durch entsprechenden
Kabelvorschub in gewünschter Faserlänge erfolgen. Die dabei entstehenden Fasergrößen
liegen erheblich oberhalb der Alveolargängigkeit. In den Produktionsanlagen in den
Betrieben der USA, innerhalb derer die Erkrankungen auftraten, wurden sehr viel schneller
arbeitende Rotationsschneidemaschinen eingesetzt, welche mit mehreren Messern die
kontinuierlich einfahrenden Kabel schneiden, so dass die Faserlänge aus der Rotationsgeschwindigkeit
der Messer und der Geschwindigkeit des Faservorschubs bestimmt wird. Die dortigen
Nylonkabel waren mit Titandioxid vorbehandelt, welches ein Abstumpfen einzelner Messer
der Rotationsschneidemaschine begünstigt. Bei stumpfen Messern kann sich der Anteil
an Fasertrümmern erhöhen, ebenso entsteht bei stumpfen Messern Schmelzwärme, dadurch
können aus dem erhitzten Kabelmaterial Schmelz- und Schneidtrümmer in alveolargängigen
aerodynamischen Durchmessern herausgelöst werden. In den betroffenen Betrieben der
USA erfolgte zudem eine Oberflächenbehandlung vor dem eigentlichen Schneidvorgang, indem die Nylonkabel ein Durchlaufbad passierten.
Diese Oberflächenbehandlung ist erforderlich, um die ansonsten nicht leitfähigen Nylonfasern
im weiteren Verfahrensablauf elektrostatisch für die Beflockung ausrichten zu können.
Durch den Schneideprozess kommt es dann allerdings zu einem erheblichen Abrieb der
Oberflächenpräparation. Die dortige Präparation enthielt Gerbsäuren, einen Ammoniumether
aus Kartoffelstärke und eine Alkohol-Ammoniumsulfatmischung. In anderen Betrieben
wird die Oberflächenpräparation erst nach dem Schneiden auf die Fasern aufgebracht.
Der geschnittene Flock wurde anschließend getrocknet, gemahlen (um beim Schneiden
verschweißte Fasern zu trennen), gesiebt (um Überlängen auszuschließen) und in Säcke
abgepackt. Für die dann erfolgende Beflockung wurde in der untersuchten Fabrik in
Rhode Island zunächst ein Acrylklebstoff auf Wasserbasis auf eine Rolle bzw. Warenbahn
eines Baumwoll-Polyester-Gewebes aufgetragen (Abb. [1a]). Beim dort angewandten Verfahren schneite das in einer Kammer befindliche Fasermaterial
(Flock) durch einen Siebboden schwerkraftbedingt und durch ein Wechselstromfeld elektrostatisch
ausgerichtet auf die darunter befindliche klebstoffbeschichtete Warenbahn (Abb. [1b]). Unter dieser Warenbahn verliefen mehrere Schlägerwellen, welche durch Vibration
eine zusätzliche Verfestigung der Fasern im Klebstoff bewirkten. Nach einer Aushärtung
des Klebstoffes durch Wärmebehandlung (Abb. [1c]) konnte dann das beflockte Gewebe bedruckt und veredelt werden. Der bei diesem Beflockungsverfahren
entstehende hohe Faserüberschuss wurde mittels Absaugdrüsen entfernt (Abb. [1d]) und durch Luftschläuche in Zyklone gesogen, die Flock vom Luftstrom trennen sollten.
Insgesamt bestanden aber hohe Gesamtstaubkonzentrationen in den Beflockungsräumen
(durchschnittlich um 40 mg/m3), bedingt auch durch das Handhaben offener Säcke, durch nicht geschlossene Zyklone
und durch das Reinigen der Produktionshallen von losem überall abgelagertem Flock
mittels Druckluftschläuchen („Abblasen”). Die NIOSH-Untersuchungen umfassten zusätzliche
qualitative und quantitative Staubuntersuchungen auf Metalle, flüchtige organische
Verbindungen, Bakterien, Endotoxine und Pilze. Mikroskopisch zeigten die geschnittenen
Nylonflockproben kleine alveolargängige „Schwänzchen” (tail) an den Schnittenden (Querschnitte von 1 µm), während die eigentlichen Fasern Größen
von 15 µm Durchmesser und 1 mm Länge aufwiesen (Abb. [2]) [[3], [4], [27]]. Diese schnittbedingten kleinen Nylonfetzen werden in erster Linie für die pulmonalen
Entzündungsreaktionen verantwortlich gemacht. Mit solchen Nylonfasern, welche früher
als biologisch inert angesehen wurden, wurden bereits bei Ratten pulmonale Entzündungsreaktionen
hervorgerufen, und zwar sowohl nach intratrachealer Applikation von eingesammeltem
Staub der Fabrik in Rhode Island, als auch mit labortechnisch hergestelltem Nylonfragmentstaub
bei völligem Fehlen von Oberflächenpräparationsstoffen [[19]]. An weiteren inhalativen Expositionen der Arbeitnehmer wurden im Acrylkleber enthaltener
Ruß sowie nichtfasriges Zeolith als mineralisches Trocknungspuder, um das Zusammenklumpen
von Flock bei hoher Luftfeuchtigkeit zu verhindern, erwähnt [[4], [10]].
Tab. 1Anwendungsgebiete der elektrostatischen Beflockung
Automobil- und Fahrzeugbau |
Armaturenverkleidungen Fensterführungsprofile Himmelauskleidungen Kofferraumauskleidungen
Polstergewebe |
Spielzeugindustrie |
Modelleisenbahnzubehör (Geländeformteile, Grasmatten, Bäume) Formschaumpuppen Gartenzwerge
Tischfussballspiele Karnevalshüte |
Möbelindustrie und Raumausstattung |
Wände- und Deckenverkleidungen (Dekoration, Schalldämpfung) Velourstapeten Fußbodenbeläge
Spiegel-, Schrankrückwände Lautsprecherwände Polsterstoffe Kunststoffstühle Fußabstreifermatten
Besteckeinsätze Schubkästenböden |
Täschner- und Etuiindustrie |
Kofferschalen Brillenetuis Musikinstrumentenkoffer Etuieinsätze für Zirkel Trockenrasiereretuis |
Textil- und Lederindustrie |
Wildleder- und Fellimitation Dessinbeflockung (T-Shirts, Gardinen) Schuhinnenfutter
Samtbänder |
Dekorations- und Werbeartikel |
Christbaumschmuck Ostereier Köpfe für Perücken Geschenkpapier |
Abb. 1Schema des Verfahrensablaufs der Beflockung [[26]]:
a) Klebstoffauftrag,
b) Beflockung,
c) thermische Trocknung,
d) Reinigung und Absaugung von überschüssigem Flock.
Abb. 2Elektronenmikroskopische Aufnahme des geschnittenen Endes einer Nylon-Faser mit „Schwänzchen”
(Querschnitt der Flock-Faser ca. 15 µm, Querschnitt des Schwänzchen ca. 1 µm) [[3], [4]].
Untersuchung
Untersuchung
Um mögliche weitere Patienten mit unklaren interstitiellen Lungenerkrankungen in dem
Beflockungsbetrieb in Rhode Island zu finden, wurden zunächst alle zwischen Juni 1990
und September 1996 über mindestens 18 Monate beschäftigten Personen erfasst (n = 165).
Beim Vorliegen von Atemwegssymptomen wurden die Betroffenen zu weiteren Untersuchungen
eingeladen, diese beinhalteten auch eine Bodyplethysmographie, eine Diffusionskapazitätsbestimmung
und eine Röntgenaufnahme des Thorax. Bei Auffälligkeiten erfolgte eine HR-Computertomographie.
Zeigten sich Hinweise für eine interstitielle Lungenerkrankung, erfolgte dann eine
Überweisung zur bronchoalveolären Lavage oder zur offenen oder transbronchialen Lungenbiopsie.
Bei histologischer Sicherung wurde bei diesen Patienten dann eine weitere Differentialdiagnostik
durchgeführt. Das Krankheitsbild der Beflockungslunge wurde als Ausschlußdiagnose
definiert, wenn eine interstitielle Lungenerkrankung gesichert werden konnte und zusätzlich
persistierende Beschwerden bei anamnestischer Tätigkeit in der Beflockungsindustrie
vorlagen. Die Abschätzung der alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenz erfolgte
vergleichend mit einem Register für interstitielle Lungenerkrankungen des US-Bundesstaats
New Mexico. Schließlich konnten 39 von 148 zum Untersuchungszeitpunkt Beschäftigten
und zusätzlich drei frühere Mitarbeiter weitergehend untersucht werden, dabei fanden
sich acht Personen (sieben Männer, eine Frau), auf die die genannten Kriterien der
Flockarbeiterlunge zutrafen. Der Median der Latenzzeit zwischen Expositionsbeginn
und Beschwerdebeginn betrug sechs Jahre, zwischen Beschwerdebeginn und Diagnosestellung
waren es 15 Monate. Die geschlechtsadjustierte Inzidenzrate war in Bezug auf das Vergleichsregister
um den Faktor 48 für interstitielle Lungenerkrankungen erhöht und für Lungenfibrosen
um den Faktor 258. Hinsichtlich der Ätiologie des Krankheitsbildes stellt Kern neben
den Nylonfasern die zur Oberflächenbehandlung verwendeten Materialien zur Diskussion
(Gerbsäure, Kartoffelstärkemehl, Ammoniumsulfat und aliphatische Alkohole). Seitens
seiner Untersuchung und aus der Literatur fand er aber keine ausreichenden Hinweise
für eine wesentlich kausale Rolle dieser Stoffe. Des weiteren fanden sich bronchoskopisch
keine Rußablagerungen (als Klebstoffbestandteil) im Sinne einer Anthrakose, ebenso
keine Pneumokoniosezeichen bei möglicher Zeolithexposition. Bisher nicht näher definierte
thermische Zersetzungsprodukte beim Trocknungsprozess wurden spekulativ diskutiert,
Mycotoxine von Schimmelpilzen wurden aufgrund arbeitstechnischer Abläufe und der Literatur
ursächlich als unwahrscheinlich bewertet [[10], [13]].
Krankheitsbild
Krankheitsbild
Pathologie
Zur Charakterisierung der pathoanatomischen Veränderungen in Verbindung mit den beruflichen
Expositionen in Nylonfaserfabriken fand im Januar 1998 auf Einladung des National
Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) ein Workshop mit Klinikern und
Pathologen statt [[6]]. Die dort erfolgte Synopsis von bisher insgesamt 20 Patienten aus insgesamt vier
Fabrikationsstätten (Rhode Island, Ontario, zweimal Massachusetts) ergab unter den
beteiligten Wissenschaftlern und in Übereinstimmung mit den von Kern publizierten
Fällen [[10]] einen Konsensus hinsichtlich des histopathologischen Bildes:
Gewebeproben (transbronchial oder durch offene Lungenbiopsie entnommen) lagen von
15 Patienten vor. Vorherrschend war eine lymphozytäre Bronchiolitis und Peribronchiolitis
mit lymphoider Hyperplasie, gekennzeichnet von lymphoiden Aggregationen. In unterschiedlich
ausgeprägter Weise fanden sich bei den einzelnen Gewebsproben Kriterien weiterer histopathologischer
Unterteilungsmöglichkeiten: diffuse alveolar damage (DAD), bronchiolitis obliterans with organizing pneumonia
(BOOP) und desquamative interstitial pneumonitis (DIP). Drei der acht Patienten aus der Gruppe von Kern hatten in der bronchoalveolären Lavage
eine der chronisch-eosinophilen Pneumonie entsprechende Eosinophilie zwischen 25 und
40 %. Riesenzellen (giant cells), wie sie bei der Hartmetallfibrose gesehen werden
können, und Granulombildungen waren histologisch lediglich in einem der 15 Fälle,
und auch dort nur in schwacher Ausprägung, zu finden.
Klinik
Auch das während dieses NIOSH-Workshops zusammengefasste klinische Bild der Patienten
entspricht im wesentlichen den Auffälligkeiten der 8 Patienten von Kern: Bei allen
20 Patienten bestanden Dyspnoe und produktiver oder unproduktiver Husten über Monate
oder Jahre vor der ersten Vorstellung, eine verminderte Total- oder Vitalkapazität
lag in der Hälfte der Fälle vor, 19 Patienten hatten eine eingeschränkte Diffusionskapazität,
CT- und HRCT-Untersuchungen zeigten milchglasartige Trübungen, teilweise mit Betonung
der Peripherie, teilweise auch bei als unauffällig befundeter Röntgenübersichtsaufnahme
des Thorax. Mediastinale, hiläre oder pleurale Veränderungen wurden nicht gefunden.
Therapeutisch stand eine Expositionskarenz im Vordergrund: Von 17 Patienten wird eine
Arbeitsaufgabe berichtet, davon versuchten 6 eine spätere Wiederaufnahme der Arbeit,
diese zeigten aber alle dann ein erneutes Auftreten der subjektiven und objektiven
Symptome. 8 der 20 Arbeiter erhielten eine initial hochdosierte systemische Kortikosteroidtherapie
und 6 wurden mit inhalativen Steroiden behandelt. Die weiteren 6 Arbeiter erhielten
keinerlei medikamentöse Therapie und zeigten eine Besserung sämtlicher Symptome nach
Beendigung der Tätigkeit. 2 der 3 Arbeiter, die ihre Tätigkeit nicht aufgegeben hatten,
hatten einen steigenden Medikamentenbedarf einschließlich oraler Kortikosteroide,
einer wurde innerhalb der Firma an einen Arbeitsplatz ohne entsprechende Exposition
umgesetzt. Einige Patienten zeigten eine komplette Restitution, bei anderen besserte
sich die Symptomatik nur partiell, so dass Belastungslimitierungen bis hin zur Erfordernis
einer Sauerstoffdauertherapie bestehen blieben [[6]].
Auseinandersetzung
Auseinandersetzung
Nachdem ihm Ende 1994 der erste Patient zur arbeitsmedizinischen Untersuchung vorgestellt
wurde, suchte Kern die Beflockungsfirma in Rhode Island zu einer Betriebsbegehung
zur Frage möglicher Ursachen auf, konnte aber keine arbeitsbedingte Erklärung finden
[[10]]. Bei diesem Besuch unterzeichnete er einen Vertrag zur Wahrung von Betriebsgeheimnissen
der Firma. Nach Vorstellung des zweiten Patienten Anfang 1996 teilte Kern der Firma
den erhärteten Verdacht einer durch berufliche Expositionen bedingten Erkrankung mit,
daraufhin wurde er von der Firma mit der Untersuchung möglicher Ursachen beauftragt
und von der Firma ebenfalls eine Untersuchung durch das National Institute for Occupational
Safety and Health angefordert [[27]]. Während seiner Ermittlungen Ende 1996 bereitete Kern darüber auch ein Abstract
für die Jahrestagung der American Thoracic Society im Mai 1997 in San Francisco vor,
um auf die Problematik aufmerksam zu machen und diese zu diskutieren. Die Einsendung
des Abstractentwurfes wurde allerdings von der Firma nicht gestattet, weil darin Chemikalien
genannt worden seien, welche als Betriebsgeheimnis gemäß der 1994 getroffenen Vereinbarung
zu werten seien. Nach Meinung Kerns waren unter einer solchen Vereinbarung Informationen
über Produktionsverfahren zu verstehen, nicht aber die Mitteilung von Berufskrankheiten
[[9]]. Auch ein überarbeiteter Abstractentwurf ohne Identifizierungshinweise auf den
Betrieb (nicht einmal das Wort „flock” erschien) wurde von der Firmenleitung untersagt,
aus diesem Grund informierte Kern dann die Verwaltung des Memorial Hospital und die
medizinische Fakultät der Brown University. Seitens der Krankenhausverwaltung wurde
Kern dann allerdings aufgefordert, das Abstract zurückzuziehen, zum einen wegen der
1994 getroffenen Vereinbarung über die Wahrung von Betriebsgeheimnissen, zum zweiten,
weil kein formaler Vertrag über die von Kern durchgeführte Gesamtuntersuchung bestand,
aber bereits Gelder für medizinische Untersuchungen von der Beflockungsfirma an das
Krankenhaus gezahlt worden waren und die Krankenhausverwaltung Schadenersatzforderungen
bei eventuellen wirtschaftlichen Einbußen der Firma fürchtete. Auch seitens der Brown
University wurde Kern mitgeteilt, dass er das Abstract nicht publizieren dürfe. Kern
aber reichte dennoch seine Ergebnisse ein und stellte sie im Mai 1997 beim ATS-Meeting
vor [[14]], daraufhin wurde er von seinem Krankenhaus und von der Universität brieflich benachrichtigt,
dass sein 1999 auslaufender Fünfjahresvertrag nicht verlängert werden würde. Zeitgleich
erfolgte zusätzlich die Ankündigung der Schließung seiner arbeitsmedizinischen Abteilung
aus wirtschaftlichen Gründen, obwohl diese Abteilung die einzige Ausbildungsstätte
für Medizinstudenten der Brown University im Fach Arbeitsmedizin war [[8], [24]]. Eine Vielzahl von Protestschreiben an Universität und Krankenhaus und eine landesweit
und international im medizinischen Schrifttum ausgelöste Diskussion behandelte die
Frage, welches das höher zu wertende Gut ist: Die Einhaltung von Vereinbarungen zur
Wahrung produktionstechnischer Betriebsgeheimnisse oder die Verantwortung zur Mitteilung
gesundheitsschädigender Einflüsse am Arbeitsplatz bei einer wissenschaftlichen Konferenz
mit der Zielsetzung, auf Gefahren für weitere Beschäftigte in anderen Firmen aufmerksam
zu machen und damit möglichen Erkrankungen vorzubeugen. Neben vielen Artikeln in der
Tagespresse (Boston Globe, Pawtucket Times, Providence Journal-Bulletin), einer Vielzahl von Protestschreiben von Arbeitsmedizinern und mehreren Stellungnahmen
von medizinischen Fachgesellschaften findet sich 1997 im New England Journal of Medicine eine Leserbriefdiskussion der verschiedenen Interessengruppen [[2], [7], [12], [17], [23]]. Ein Kommentar in Science weist auf Vertuschungsversuche der für die Firma unvorteilhaften Forschungsergebnisse
hin [[22]]. Die Veröffentlichung von Kern's Originalarbeit über die Untersuchung im Beflockungsbetrieb
in Rhode Island im August 1998 in den Annals of Internal Medicine [[10]] wird von einem Editorial begleitet, welches trotz aller Interessenkonflikte die
soziale Verantwortung medizinischer Tätigkeit fokussiert [[5]]. Zusätzlich stellt eine Medizinjournalistin in derselben Ausgabe die Chronologe
der Ereignisse und Aussagen der Beteiligten dar [[24]]. Auch in den Annals folgt 1999 eine ausführliche Leserbriefdiskussion [[1], [11], [15], [18], [20], [25]].
Konsens
Konsens
Die Gemeinsamkeiten der histopathologischen und klinischen Befunde weisen auf eine
Induktion der Erkrankungen in Betrieben der Nylonflockindustrie mit ungenügender Arbeitshygiene
hin. Die Verbesserung der Symptomatik nach Tätigkeitsaufgabe, die Verschlechterung
bei erneuter Tätigkeitsaufnahme, das epidemiologisch gehäufte Auftreten von 20 Erkrankungen
einer seltenen Krankheitsentität bei einer Zahl von insgesamt etwa 500 Beschäftigten
in vier Fabriken, die unter den Arbeitern der Fabrik in Rhode Island um etwa den Faktor
50 gesteigerte Inzidenz interstitieller Lungenerkrankungen gegenüber der Allgemeinbevölkerung
und der inzwischen geführte Nachweis einer ausgeprägten akuten pulmonalen Entzündungsreaktion
bei Ratten nach intratrachealer Applikation von Stäuben der Fabrik in Rhode Island
lassen den Zusammenhang der Induktion des Krankheitsbildes durch die spezifischen
Arbeitsplatzexpositionen offensichtlich erscheinen. Weitere toxikologische Untersuchungen
zur Wirkung der Nylonfaserfragmente und zur möglichen und bisher nicht ausgeschlossenen
ätiologischen Bedeutung anderer im Produktionsprozess auftretender Stoffe (Oberflächenbehandlung,
thermische Zersetzungsprodukte) werden benötigt.
Allgemeine Präventionsstrategien einschließlich technischer und persönlicher Schutzmaßnahmen
zur Expositionsminderung sowie arbeitsmedizinische Überwachungsuntersuchungen werden
für die Nylon-Beflockungsindustrie empfohlen.
Fragen
Fragen
Hinsichtlich der Ätiologie der erkrankten Patienten mit interstitiellen Lungenerkrankungen
sind in Ergänzung zu den wenigen erwähnten und diskutierten Stoffen in der Arbeit
von Kern zusätzlich eine Vielzahl weiterer Substanzen zu untersuchen. In der Veröffentlichung
über die erkrankten Mitarbeiter im Beflockungsbetrieb in Ontario wird auf über 100
verschiedene Chemikalien im dortigen Produktionsprozess hingewiesen [[16]]. Erste Arbeiten zur Erfassung der Belastung [[21]] und zur ursächlichen Bedeutung der Schadstoffe im Fabrikstaub sind bereits veröffentlicht
[[19]]. Die Notwendigkeit einer spezifischeren Eingrenzung der ätiologischen Agentien
als auch des Krankheitsbildes besteht weiter und kann zumindest teilweise auch durch
arbeitshygienische Optimierungen der Verfahrensabläufe, welche unter präventiver Intention
ohnehin dringend erforderlich sind, beantwortet werden.
Die Frage der gegenseitigen Abwägung und Wertung medizinischer und sozialer Verantwortung,
wissenschaftlicher und akademischer Freiheit und wirtschaftlichen Interessen im kommerziellen
Wettbewerb muß primär unter dem Vorrang der Berücksichtigung individual- und kollektivmedizinischer
Aspekte der in diesem Industriezweig beschäftigten Menschen diskutiert und beantwortet
werden.