Einleitung
Einleitung
Das mangelhafte Befolgen rational begründeter und praktikabler ärztlicher Empfehlungen
zur medikamentösen Therapie durch Patienten ist in der Literatur gut dokumentiert.
Eine ungenügende Compliance bei der Nutzung von Asthmamedikamenten wurde bei durchschnittlich
30 bis 70 % der untersuchten Kinder und Erwachsenen wiederholt beschrieben (vgl. Mühlig,
Petermann & Bergmann[1], in diesem Heft). Compliance-Probleme entstehen insbesondere bei längerer Zeitdauer
einer Medikation und der Einnahme mehrerer Medikamente. Unter bestimmten Umständen
scheinen sich mehr Patienten non-compliant zu verhalten als verordnungskonform. Je
genauer die Analysemethode, desto geringer fällt dabei in der Regel die Compliance-Rate
aus. So sind die Selbstangaben der Patienten zur Compliance selbst in kontrollierten
Studien weit entfernt von dem, was die elektronischen Überwachungsgeräte zeigen.
Die Folgen der Non-Compliance schließen nicht nur Behandlungsmisserfolge, akute Exazerbationen,
kostspielige diagnostische Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte für den individuellen
Patienten, sondern auch enorme volkswirtschaftliche Belastungen und Fehlsteuerungen
im Gesundheitswesen ein. Auch die Ergebnisse klinischer Studien können durch die Non-Compliance
irreführend beeinflusst werden, da auch die Studienprobanden nur in etwa 50 % bis
70 % die empfohlene (vereinbarte) Medikamentendosis einnehmen. Unterstellt wird aber
bei der Auswertung und Interpretation der Studien meist eine 100 %ige Compliance.
Im Ergebnis können mindestens zwei falsche Schlussfolgerungen aus den Studienergebnissen
gezogen werden: Erstens, dass die Substanz nicht wirksam ist und damit ihr Einsatz
abgewiesen wird, oder zweitens, dass die Substanz aufgrund non-complianter Studienteilnehmer
in ihrer Wirksamkeit unterschätzt und deshalb in einer zu hohen Dosierung empfohlen
wird, so dass paradoxerweise Patienten mit einer guten Compliance in der Anwendungspraxis
überdosiert werden.
Eine gute Compliance ist also aus mehreren Blickwinkeln wünschenswert. Dabei stellen
die neuen Möglichkeiten der elektronischen Überwachung bzw. Messung des Compliance-Grades
mit dem Chronolog [1]
[2] oder Doser ([3]; vgl. Mühlig, Bergmann, Twesten & Petermann, in diesem Heft) für die Compliance-Forschung
und klinische Praxis einen großen Fortschritt dar. Aufgrund der gravierenden Mängel
und unzureichenden Validität anderer indirekter Erhebungsmethoden (wie Patientenbefragung,
Arzteinschätzung oder AM-Schwundmessung), aber auch der begrenzten Einsatzmöglichkeiten
direkter Messverfahren (Spiegelmessung, Markerkontrolle) gelten Medication Event Monitoring
System - MEMS heute als „¿Goldstandard” der Compliance-Messung ([4]; vgl. Beitrag Mühlig, Petermann & Bergmann, in diesem Heft). Bei der Verwendung
von elektronischen Monitoring-Systemen stellt sich aber die Frage, um welchen Preis
die Anwendung solcher Instrumente dem Patienten zugemutet werden kann. Dabei stellt
nicht die Kenntnis der Compliance-Daten an sich, sondern der Prozess der Datengewinnung
durch die angewandte Methodik das Problem dar.
Compliance-Messungen offen oder verdeckt?
Compliance-Messungen offen oder verdeckt?
Die Verwendung elektronischer Methoden zur Compliance-Messung bei Asthmapatienten
kann prinzipiell entweder offen erfolgen, indem der Patient vor Untersuchungsbeginn
vom Arzt über die Kontrollmöglichkeit voll informiert wird, oder verdeckt, d. h. der
Patient wird über die Compliance-Messung nicht aufgeklärt, sondern erhält das entsprechende
Gerät unter einem Vorwand. Die offenen Compliance-Messungen führen zu einem offensichtlichen
methodologischen Problem, da das Bewusstsein einer Einnahmekontrolle die Compliance
des Patienten signifikant verändern kann. So stellten Tashkin et al. (1991) [5] fest, dass unter den über die Compliance-Messung nicht informierten Patienten (n
= 85) 87 % eine verschreibungskonforme Einnahme angaben, die tatsächlich mit dem Chronolog
gemessene Compliance aber nur 52 % betrug. Die „eingeweihten” Patienten, die das Chronolog
als Feedback benutzen konnten (n = 112) gaben zu 89 % eine gute Compliance an, die
sie tatsächlich zu 78 % auch erreichten. Die höhere Compliance der informierten gegenüber
den nichtaufgeklärten Patienten war damit statistisch signifikant (p < .0001).
Dieses Ergebnis wurde in einer ähnlich angelegten Studie mit n = 205 Patienten bestätigt,
in der die informierten Patienten eine Compliance-Rate von 80 %, die nichtinformierten
Patienten aber von nur 60 % erreichten. Wurden die bisher nicht informierten Patienten
über die Natur der Chronologdaten informiert, so stieg die Compliance deutlich an.
Unter den informierten Untersuchungsbedingungen trat zudem kein drug dumping auf [6].
Detailliertere Daten in einer Studie von Yeung u. Mitarb. (1994) [7] belegen, dass bei einer offenen Compliance-Messung die aufgeklärten Patienten zu
rund 60 % über einen Untersuchungszeitraum von zwei bis drei Wochen voll compliant
waren, 20 % ausreichend compliant (≥ 70 % der Verschreibungsdosis) und nur 20 % non-compliant.
Demgegenüber zeigten 45 % der Patienten mit einer verdeckten Compliance-Messung eine
unzureichende Einhaltung der Dosis (≤ 51 % der Dosis).
In Studien, in denen den Patienten die genaue Funktionsweise einer elektronischen
Compliance-Messung erklärt wird, sind offenbar auch die Ergebnisse anderer Compliance-Parameter
wie Selbstangaben oder Arzneimittel-Schwundmessung weniger verfälscht als bei verdeckten
Untersuchungsbedingungen [8]
[9].
Ethische Probleme der verdeckten Messung
Ethische Probleme der verdeckten Messung
Die bisherigen Ergebnisse der elektronischen Compliance-Messung belegen, dass offene
Messungen das Compliance-Ergebnis massiv beeinflussen können, so dass das Monitoring
aus methodologischer Perspektive verdeckt durchgeführt werden sollte. Die methodologisch
zu favorisierende Wahl einer verdeckten Compliance-Kontrolle führt allerdings zu ethischen
Problemen, die u. a. in der möglichen Verletzung von Patientenrechten liegen.
Es muss berücksichtigt werden, dass es in der Regel bei der Behandlung eines (Asthma-)Patienten
zu einem impliziten Vertrag zwischen Patient und Arzt kommt, in dem der Arzt sich
verpflichtet, die bestmögliche Behandlung für den Patienten anzubieten und der Patient
umgekehrt die Verpflichtung eingeht, alles in seinen Möglichkeiten liegende zu tun,
um die Krankheit zu beherrschen und die Therapie zu unterstützen.
Da die Erhebung und der Gebrauch von Daten eines nicht-informierten Patienten u. U.
eine Verletzung seines Selbstbestimmungsrechtes und seiner Privatssphäre darstellt,
stellt sich die Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen dies ethisch zu legitimieren
ist. In der Diskussion werden vor allem drei kontroverse Positionen vertreten [10].
Auf der einen Seite wird argumentiert, dass es durch die wichtige Zielstellung der
Compliance-Forschung gerechtfertigt sei, das Verhalten der Patienten auch ohne deren
Einverständnis zu überwachen. Der besondere Vorzug der MEMS-Methode zur Erkennung
der Non-Compliance sei unmittelbar davon abhängig, dass sie getarnt durchgeführt werde,
da die Compliance-Ergebnisse durch das Wissen um den Einsatz des Messinstrumentes
selbst verfälscht würden (Heisenberg-Prinzip). Sobald der Patient wisse oder ahne,
dass sein Einnahmeverhalten kontrolliert werde, würde er entweder seine tatsächliche
Compliance erhöhen oder Täuschungsstrategien entwickeln, um eine hohe Compliance zu
fingieren (Drug dumping, White-coat-adherence). Patienten neigten dazu, ihr Therapieverhalten
nach den tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungen des Arztes auszurichten (soziale
Erwünschtheit), um als „gute Patienten” betrachtet zu werden. Auch wenn Probanden
über die Einzelheiten und Ziele einer Studie nicht informiert seien, könne allein
das Bewusstsein einer Studiendurchführung ihr Verhalten substanziell verändern (Hawthorne-Effekt).
Konträr zu dieser Position wird der Standpunkt vertreten, dass jegliche Unterlassung
einer vollständigen Aufklärung von Studienteilnehmern (informed consent) eine ethisch
nicht zu akzeptierende Verletzung der Patientenrechte bedeute und unterbleiben müsse
- auch wenn dadurch der Wert einer Studie erheblich beeinträchtigt oder gar infrage
gestellt werden sollte. Die ethische Maxime einer rückhaltlosen Patientenaufklärung
als Voraussetzung für eine freiwillige Teilnahme an wissenschaftlichen Studien erfordere
eine genaue Beschreibung der geplanten Vorgehensweisen und stehe prinzipiell im Widerspruch
zur Vorenthaltung irgendwelcher Informationen über die Studiendurchführung. Die Arzt-Patienten-Beziehung
sei zudem im Falle vorenthaltener Information massiv gefährdet, da die Patienten ohne
ihr Wissen vom Arzt überwacht würden und der Patient sich zu Recht „ausspioniert”
fühlte.
Die Kompromissposition besteht darin, dass der Patient vor Beginn der Studie nicht
über alle Details informiert werden müsse, aber nachträglich aufgeklärt werden sollte.
Eine Teilinformierung sei in dem Sinne denkbar, dass der Patient vorab über die Tatsache
einer Registrierung aufgeklärt wird, z. B. darüber, dass das Ausmaß der Arzneimitteleinnahme
untersucht werden solle, ohne aber detaillierte Informationen über die Compliance-Überwachung
(z. B. Feststellung des zeitlichen Einnahmemusters) zu erhalten [11]. Eine weitere Möglichkeit wird darin gesehen, den Patienten zu Beginn der Studie
anzukündigen, dass sie aus wichtigen methodischen Gründen anfangs noch nicht über
alle Aspekte der Studie informiert werden könnten, aber nach Beendigung der Datenerhebung
alle fehlenden Informationen erhalten würden [12].
Ethische Minimalstandards für eine verdeckte Compliance-Messung
Ethische Minimalstandards für eine verdeckte Compliance-Messung
Unter bestimmten, eng definierten Umständen wird es als vertretbar angesehen, die
Maßgabe des informed consent in Teilen aufzuheben oder einzuschränken. Es lassen sich
aus der Diskussion sechs Kriterien als ethische Minimalstandards für eine verdeckte
Compliance-Messung extrahieren, die erfüllt sein müssen, um einen solchen Verzicht
oder eine Einschränkung der Patientenaufklärung zu rechtfertigen [13]
[14]
[15].
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bei einer Konfrontation mit dem eigenen
non-complianten Verhalten für den Patienten emotional sehr unangenehme und peinliche
Situationen auftreten können, wenn er z. B. von seinem behandelnden Arzt als unkooperativ
oder sogar als Täuscher „entlarvt” wird. Rand (1994) [18] schlug deshalb vor, Chronologergebnisse nur anonymisiert zu verwenden. Dabei sollten
die den Patienten direkt betreuenden Ärzte und Schwestern möglichst gar nicht über
die Compliance-Daten des Patienten informiert werden (Trennung von Studienleiter und
Behandlern), um peinliche Konfrontationen zu vermeiden und die Arzt-Patienten-Beziehung
nicht zu gefährden.
Kasten 1:Ethische Minimalstandards für eine verdeckte Compliance-Messung.
| 1. Das Risiko für den Patienten muss auf ein äußerstes Minimum beschränkt sein, d.
h. der Studienteilnehmer darf durch die Zurückhaltung von Informationen über die Studiendurchführung
keinerlei vorhersehbaren Gefährdungen (inkl. körperlicher oder psychischer Schäden)
ausgesetzt werden. |
| 2. Die Vorenthaltung von Informationen darf weder die freie Willensentscheidung zur
Teilnahme, noch die übrigen Rechte bzw. das Wohlergehen des Patienten beeinträchtigen,
d. h. es dürfen keinerlei ernsthafte negative Auswirkungen entstehen, die über die
unmittelbaren Folgen der Nichtinformierung hinausgehen. Dabei disqualifiziert die
Einschränkung des Rechtes auf volle Informiertheit eine Studie dann nicht, wenn alle
anderen Kriterien für eine begründete Ausnahmeregelung erfüllt sind. |
| 3. Das Vorhaben muss einen außerordentlich hohen wissenschaftlichen Erkenntniswert
besitzen, der unter gründlicher Güterabwägung einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
der Patienten rechtfertigen kann. |
| 4. Die Studie kann nicht auf eine alternative Weise durchgeführt werden, ohne den
Studienzweck und die Untersuchungsziele ernsthaft zu gefährden. Das heißt, dass eine
volle Informierung des Patienten die Studiendurchführung praktisch verhindern würde. |
| 5. Der Patient ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt nachträglich über alle Aspekte der
Studiendurchführung zu informieren. |
| 6. Das Vorhaben muss durch eine Ethikkommission geprüft und gebilligt sein. |
Nachträgliche Patientenaufklärung als mögliche Lösung?
Nachträgliche Patientenaufklärung als mögliche Lösung?
Die nachträgliche Patientenaufklärung (debriefing) verfolgt prinzipiell den gleichen
Zweck wie die Information zum Zeitpunkt der Einverständniserklärung. Zwar hat der
Patient in diesem Fall nicht die Möglichkeit, seine Studienteilnahme nachträglich
„rückgängig” und die damit verbundenen Erfahrungen „ungeschehen” zu machen. Es eröffnet
den Teilnehmern aber die Option, ihre Einverständniserklärung rückwirkend aufzukündigen
und damit zumindest ihre Studiendaten zurückzuziehen, die dann vom Studienleiter nicht
weiter verwendet werden dürfen und umgehend zu vernichten sind. Sinnvoller erscheint
es allerdings, vorab das Einverständnis des Patienten zu einer unvollständigen Aufklärung
über die Studiendurchführung einzuholen und ihnen eine nachträgliche volle Patientenaufklärung
zum Studienende verbindlich zuzusagen. Damit wird den Patienten vor der Studiendurchführung
die Chance zur freien Entscheidung darüber gegeben, eine Teilnahme abzulehnen, falls
ihnen die Option der eingeschränkten Aufklärung suspekt erscheint.
Eine nachträgliche Patientenaufklärung kann auf verschiedene Weise erfolgen. Entscheidet
man sich für die rückhaltlose Informierung, werden die Teilnehmer mit der vollen Wahrheit
konfrontiert, auch wenn dies unangenehme oder peinliche Einsichten in das eigene Fehlverhalten
einschließt, mit denen sie bei der Einverständniserklärung nicht gerechnet haben.
Diese Art der Rückmeldung ist sicher nur im Einzelkontakt zu empfehlen. In schwierigeren
Fällen kann eine unvollständige oder„beschwichtigende” Aufklärung (deceptive debriefing)
ins Auge gefasst werden, wenn durch eine volle Information z. B. eine Beschädigung
des Selbstwertgefühls befürchtet werden muss. Eine solche unvollständige Aufklärung
wird aber meistens nicht notwendig sein. Im Regelfall können Studienteilnehmer über
die Ergebnisse der Studie insgesamt informiert werden, ohne auf ihre individuellen
Ergebnisse zu sprechen zu kommen. Im Einzelgespräch können ihnen dann - auf ihren
ausdrücklichen Wunsch hin - ihre individuellen Resultate zur Compliance mitgeteilt
werden. Eine unaufgeforderte (oder sogar gegen den Patientenwillen vorgenommene) Konfrontation
mit ihren persönlichen Compliance-Daten „aus pädagogischen Gründen” sollte aber generell
unterbleiben bzw. - falls in besonderen Problemfällen erforderlich - nur mit größter
Behutsamkeit erfolgen.
Wer hat Anspruch bzw. Zugriff auf Compliance-Daten?
Wer hat Anspruch bzw. Zugriff auf Compliance-Daten?
Die Privatsphäre oder das Recht des Patienten auf informationelle Selbstbestimmung
wird möglicherweise bei verschiedenen Gelegenheiten im medizinischen Alltag tangiert,
ohne dass ihm dadurch reale Nachteile entstehen. So kann es z. B. gelegentlich vorkommen,
dass Informationen über persönliche Verhältnisse von Patienten von einem zum anderen
Arzt weiter gegeben werden, ohne den Patienten um die Genehmigung dazu zu bitten,
und ohne die Weitergabe der Information aktenkundig zu machen. Elektronisch gespeicherte
Compliance-Daten sind aber besonders sensibel. Bereits vor einer Studie bzw. Anwendung
der Geräte muss dem Patienten gegenüber klargestellt werden, wer nach den Datenschutzbestimmungen
über die Daten verfügt, in welcher Art und in welchem Umfang sie gespeichert, aufbewahrt
oder verbreitet werden dürfen bzw. wann und unter welchen Umständen sie vernichtet
werden.
Selbstverständlich hat zunächst der untersuchte Patient selbst - bei artikuliertem
Interesse - ein Recht auf Kenntnis seiner dokumentierten Therapietreue, damit er ggfs.
Konsequenzen für sein eigenes Verhalten daraus ziehen kann. Mit welcher Deutlichkeit
ihm die Compliance-Daten und die möglichen Konsequenzen auf die weitere Therapieplanung
zu benennen sind, muss der Untersucher sicher auch unter Berücksichtigung der psychischen
Stabilität und sozialen Kompetenz des Patienten entscheiden.
Versicherungsrechtliche Aspekte bzw. finanzielle Konsequenzen des Patientenverhaltens
sollten bei der Entscheidung über eine elektronische Compliance-Messung aber keine
Rolle spielen, das heißt z. B. Krankenkassen sollten ohne Zustimmung der Patienten
prinzipiell keinen Einblick in die individuellen Daten erhalten. In diesem Zusammenhang
wird neuerdings die Frage thematisiert, ob es auf Patientenseite ein moralisches Recht
auf Non-Compliance vs. eine moralische Pflicht zur Compliance gibt [19]. Der Patient hat zwar (Urteils- und Entscheidungsfähigkeit sowie ausreichende Informiertheit
vorausgesetzt) nach unbestrittenen medizinethischen Maximen ein uneingeschränktes
Recht auf Ablehnung von medizinischen Behandlungsmaßnahmen, falls er an der Richtigkeit
eines ärztlichen Urteils oder einer bestimmten Verschreibung zweifelt. Aus diesem
grundsätzlichen Selbstbestimmungsrecht des Patienten lässt sich aber ethisch kein
„Recht auf Krankheit” oder Non-Compliance ableiten. Vielmehr steht dem grundsätzlichen
Patientenrecht auf Selbstbestimmung und autonomer Entscheidungsfreiheit die auch sozialversicherungsrechtlich
fixierte „Mitwirkungspflicht des Patienten” gegenüber. Es dürfte klar sein, dass jemand,
der von der Gemeinschaft Mittel für die Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit
in Anspruch nimmt, gegenüber dieser auch Verpflichtungen eingehen muss, die er einzuhalten
hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch ein verantwortungsloses Therapieverhalten
non-complianter Patienten und dessen Konsequenzen u. U. die Rechte anderer Versicherter
auf die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden,
da die entgangenen finanziellen Mittel an anderer Stelle der Gesundheitsversorgung
fehlen. Es scheint daher auch grundsätzlich diskutabel, ob ein non-complianter Patient
unter bestimmten Umständen (z. B. bei fahrlässiger, leichtsinniger oder verantwortungsloser
Haltung gegenüber der eigenen Gesundheit) zu Risikozuschlägen verpflichtet werden
könnte (wie z. B. auch bei Ausübung von Risikosportarten üblich). Allerdings müsste
dabei zum einen klar unterschieden werden, ob die Non-Compliance non-intentional (z.
B. durch die Krankheit selbst, Einschränkungen der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit)
oder durch die vorsätzliche Therapieverweigerung bzw. Fahrlässigkeit des Patienten
verursacht wurde. Zum anderen wäre eine verdeckte elektronische Compliance-Überwachung
ohne Zustimmung des Patienten für diesen Zweck sicherlich als äußerst problematisch
anzusehen.
Schlussfolgerungen
Schlussfolgerungen
Wissenschaftliche Compliance-Studien mit elektronischer Datenerfassung dienen nicht
dazu, Personen mit unzureichender Compliance zu diffamieren, sondern mögliche Gründe
für die Non-Compliance offen zu legen und den Therapieplan besser an die Voraussetzungen
und Bedürfnisse der Patienten anzupassen. Dabei muss letztlich akzeptiert werden,
dass das beschriebene Dilemma zwischen methodischer Stringenz und ethischer Legitimität
sich nicht vollständig auflösen lässt.
Bilanzierend ist der verdeckten Compliance-Messung aus methodologischen Gründen der
Vorzug zu geben, wenn die genannten ethischen Minimalstandards beachtet werden. Dabei
ist zu berücksichtigen, dass sich nicht nur die Durchführung, sondern auch das Aufwand-Nutzen-Verhältnis
empirischer Studien an ethischen Kriterien messen lassen muss. Eine methodisch unzureichende
wissenschaftliche Compliance-Untersuchung wäre in Anbetracht des Zeit- und Kostenaufwandes,
der zusätzlichen Belastungen für die Patienten, der mangelhaft fundierten Resultate
und der möglicherweise daraus gezogenen Fehlschlüsse u. E. letztlich ethisch weniger
legitim als eine zeitlich und inhaltlich begrenzte Einschränkung der Informationspflicht
gegenüber dem Patienten [20]. Aus diesem Blickwinkel heraus weisen Dinges et al. (1994) [21] darauf hin, dass valide und reliable Compliance-Daten zudem eine wesentliche Basis
für Kosten-Nutzwert-Analysen, für Allokationsentscheidungen im Gesundheitswesen, die
Identifizierung von Anpassungsbedarf bei der Gesundheitsversorgung oder auch sicherheitsrelevante
Fragen (z. B. Sicherheit im Straßenverkehr) darstellen. Eine methodisch stringentere
Vorgehensweise ist daher auch hinsichtlich der aus den Resultaten zu ziehenden Konsequenzen
unter (anderen) ethischen Gesichtspunkten vorzuziehen.
Empfehlungen zur Asthmatherapie sollten unter der Berücksichtigung von Non-Compliance
und ihren Ursachen so einfach wie möglich gestaltet werden. Auch Schulungsprogramme
für Patienten und Ärzte müssen den Aspekt der Compliance zukünftig stärker beachten.
Das differenzierte Asthmamanagement stellt höhere Ansprüche an das Verständnis der
Betroffenen, wobei in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient Lebensstilfragen
und Alltagseinflüsse auf die Therapiemitarbeit und die Krankheitsbewältigung des Patienten
stärker berücksichtigt werden müssen [22]. Daraus folgt ein verstärkter Bedarf an zusätzlichem Lehrmaterial und verbesserten
kommunikativen Kompetenzen der Ärzte sowie die Notwendigkeit einer Einbeziehung von
Patientenorganisationen bei der Entwicklung von sprachlich optimiertem Informations-
und Schulungsmaterial zur Compliance-Verbesserung.
Mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten zur präzisen Überwachung des natürlichen
Einnahmeverhaltens (z. B. Telemedizin) werden die hier angesprochenen Fragen sicher
noch dringlicher und erfordern klare und verbindliche Richtlinien über die Bedingungen,
Kriterien und Grenzen für einen ethisch legitimierbaren Einsatz der elektronischen
Compliance-Messung.