Vorbemerkungen
Vorbemerkungen
Benzodiazepinabhängigkeiten sind keine seltenen Erkrankungen,
sie sollen rund 1,2 Mio. = 1,5 % der
deutschen Bevölkerung betreffen [1]. Ihre
Häufigkeit unter stationären psychiatrischen Patienten wird mit
4,7 % angegeben [2]. Nur ein kleiner Teil
davon sind isolierte Benzodiazepinabhängigkeiten, die Mehrzahl kombinierte
Benzodiazepine plus andere Suchtstoffe, s. u. In Allgemeinarztpraxen
sind bis zu 8 % der Patienten Benzodiazepin-Dauereinnehmer, unter
denen sich ein erheblicher Prozentsatz Abhängiger findet
[35]. Manche Autoren meinen sogar, dass ein
konstanter Zusammenhang zwischen Benzodiazepinverbrauch und
Benzodiazepinabhängigkeit besteht; etwa 50 % der
Dauerkonsumenten sollen abhängig sein [6].
Allerdings spielen die Struktur der Praxis und die Schulung des Arztes hier
eine entscheidende Rolle [4]. Bei der Bezeichnung
„Benzodiazepine” schließen wir die analog wirksamen
Substanzen Zaleplon (Sonata), Zolpidem (Bikalm) und Zopiclon (Ximovan) ein, die
zwar chemisch keine Benzodiazepine sind, aber praktisch genauso wirken.
Viele dieser benzodiazepinabhängigen Patienten sind
ausschließlich in hausärztlicher Behandlung. Wenn allerdings im
Rahmen der Komorbidität Depressionen oder schwere Angstkrankheiten
hinzukommen, wird auch ein Nervenarzt oder Psychiater einbezogen, meist auf
Betreiben des Hausarztes. Dann kommt es zu einer gemeinsamen Behandlung, in
deren Rahmen dem Hausarzt Verschreibungen, ständige Motivation und
gelegentliche Überweisungen anheim fallen. Zu Deutsch: Der Hausarzt
trägt meistens die Hauptlast der Behandlung, von ihm kommt oft auch der
erste Verdacht in Richtung Abhängigkeit.
Abhängigkeit und Abusus (= schädlicher
Gebrauch n. ICD-10) von Benzodiazepinen werden im Folgenden gemeinsam
„Benzodiazepinsuchten” genannt; sie manifestieren sich auf sehr
unterschiedliche Weise. Einige dieser Suchtformen sind häufig und
dramatisch. Das gilt vor allem für die Polytoxikomanie in Form der
kombinierten Abhängigkeit von Heroin (oder Methadon!) plus
Benzodiazepine. Mancher „Heroinabhängige” ist so schwer von
Benzodiazepinen abhängig, dass er durch Benzodiazepine mehr bedroht ist
als durch das Opioid. Überhaupt handelt es sich in der Mehrzahl der
Fälle um sekundäre Abhängigkeiten. D. h., Benzodiazepine
waren nicht der erste sedierende Suchtstoff im Leben. Vorausgegangen war
meistens eine Alkohol- oder Heroinabhängigkeit; der Übergang in die
Benzodiazepinabhängigkeit erfolgte erst nach Ausbildung der primären
Abhängigkeit. Ob die Benzodiazepinabhängigkeit dann in Kombination
mit dem primären Suchtstoff fortgesetzt wird, also als Polytoxikomanie,
oder isoliert, d. h., das Benzodiazepin wird allein genommen, hängt
vom Einzelfall ab. Kombinationsfälle sind häufiger.
Dagegen fallen die isolierten Benzodiazepinsuchten (Benzodiazepine
waren die einzigen Suchtstoffe im Leben) im Praxisalltag wegen ihres meist
blanden Verlaufes kaum auf, ebenso wenig wie im klinischen Bereich. Dabei liegt
meistens eine Abhängigkeit vor, Abusus ist hier selten.
In dieser Arbeit wird für die Suchtkranken bzw. die Patienten
einheitlich das grammatikalisch männliche Geschlecht benutzt. Die
Betroffenen sind aber überwiegend Frauen. Sie sind meistens über 50
Jahre alt und multimorbide. Oft ist die Benzodiazepinabhängigkeit nur ein
Nebenaspekt ihres Erkrankungsbündels. Weiterhin taucht im vorliegenden
Text oft der Begriff Sucht auf. Er wird als Oberbegriff gebraucht und umfasst
die Diagnosen Abusus
(= Missbrauch = schädlicher Gebrauch im
Sinne von ICD-10) und Abhängigkeit. Damit entspricht der Begriff Sucht dem
amerikanischen PSUD = psychoactive substance use
disorder.
Verlaufsformen der Benzodiazepinsuchten
Verlaufsformen der Benzodiazepinsuchten
Wir haben Entstehung, Verlauf und Ende der Benzodiazepinsuchten
(Abusus und Abhängigkeit) seit 1974 im Rahmen der Suchtkatamnese
Südniedersachsen untersucht und einen Teil der Ergebnisse publiziert
[79]. Zum Stichtag 1.7.2001 haben wir insgesamt
1885 Fälle gefunden.
Die große Mehrzahl der untersuchten Fälle waren
Abhängigkeiten (87,5 %), Abusus war die Ausnahme
(12,5 %). Unter den isolierten Benzodiazepin-Einnehmern war der
Anteil von Abususpatienten mit 8,0 % sogar noch geringer. Daher
lassen wir den Abusus (= schädlicher Gebrauch nach ICD-10)
im Folgenden weg.
-
die isolierte Niedrigdosis-Abhängigkeit von Benzodiazepinen
(Niedrigdosis = Tagesdosis im therapeutischen Bereich):
102 Fälle
-
die isolierte Hochdosis-Abhängigkeit von Benzodiazepinen
(Hochdosis = Tagesdosis über dem therapeutischen
Bereich): 87 Fälle
-
die Mischabhängigkeit mit anderen Arzneimitteln: 327
Fälle
-
die Mischabhängigkeit mit Alkohol: 777 Fälle
-
die Mischabhängigkeit mit illegalen Drogen (einschl.
Alkohol): 592 Fälle
Diese Arbeit befasst sich nur mit den Formen 1 und 2, d. h.
mit Patienten, die lebenslang keine anderen Suchtstoffe genommen haben als
Benzodiazepine (Nikotin und Koffein ausgenommen). Die übrigen
Verlaufsformen werden so deutlich von den anderen Suchtstoffen geprägt,
dass sie eben keine isolierten Benzodiazepinabhängigkeiten mehr sind.
Probleme der isolierten Benzodiazepinabhängigkeit
Probleme der isolierten Benzodiazepinabhängigkeit
Auf dem deutschen Markt sind zahlreiche Benzodiazepine verfolgbar,
dazu 3 wirkverwandte Substanzen (Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon). Diese
Substanzen haben unterschiedliche Affinitäten zu den
Benzodiazepinrezeptoren im ZNS. Daher sind die für den gleichen oder einen
ähnlichen Effekt erforderlichen Dosen sehr unterschiedlich. Bei Triazolam
werden etwa 0,5-1 mg für einen vollen Effekt benötigt,
bei Dikaliumclorazepat 50-100 mg. Der jeweilige Maximaleffekt ist
aber stets der gleiche. Die Äquivalenztabelle (Tab. [1]) zeigt die relative Wirkstärke im Vergleich zur
Standardsubstanz Diazepam. Ob irgendeine dieser Substanzen ein höheres
Abhängigkeitspotenzial hat als z. B. Diazepam, ist bis heute
unklar. Dem Lorazepam wird immer ein besonders hohes
Abhängigkeitspotenzial nachgesagt [10]
[11], was nie wirklich bewiesen wurde. Möglicherweise
liegt es einfach an der hohen und von den Anwendern unterschätzten
Wirkstärke dieser Substanz.
Tab. 1 Äquivalenztabelle
für Benzodiazepine und analoge Substanzen im Vergleich zur
Standardsubstanz Diazepam[*]*
Substanz (Firmenname) |
Äquivalenzdosis (in
mg) |
Alprazolam (Tafil) |
1,5
|
Bromazepam (Lexotanil) |
6 |
Brotizolam (Lendormin) |
0,5 |
Chlordiazepoxid (Librium) |
20 |
Clobazam (Frisium) |
20 |
Clonazepam (Rivotril) |
2 |
Diazepam (Faustan, Valium)
|
10
|
Dikaliumclorazepat (Tranxilium) |
20 |
Flunitrazepam (Rohypnol) |
0,5 |
Flurazepam (Dalmadorm) |
30 |
Loprazolam (Sonin) |
1,5 |
Lorazepam (Tavor) |
2 |
Lormetazepam (Noctamid) |
1 |
Medazepam (Rudotel) |
20 |
Midazolam (Dormicum) |
7,5 |
Nitrazepam (Mogadan, Radedorm) |
5 |
Nordazepam (Tranxilium N) |
20 |
Oxazepam (Adumbran) |
40 |
Prazepam (Demetrin) |
20 |
Temazepam (Planum) |
20 |
Tetrazepam (Musaril) |
20 |
Triazolam (Halcion) |
0,5 |
Zaleplon (Sonata) |
20
? |
Zolpidem
(Bikalm) |
20
? |
Zopiclon
(Ximovan) |
15
? |
* Die Tabelle ist nur als ungefähre
Orientierung im Suchtbereich zu betrachten. Zum Beispiel ist es kaum
möglich, das sehr langwirksame Diazepam und das recht kurz wirksame
Zolpidem „unter einen Hut zu bringen”. Für einige neuere
Substanzen (Zopiclon, Zolpidem) ist die Schätzung noch sehr unsicher.
Dikaliumclorazepat wird manchmal auch als Clorazepat bezeichnet. Die Tabelle
basiert auf Literaturangaben [7]. Die Firmennamen in Klammern sind
als Beispiele gedacht, nicht als vollständige Übersicht.
|
Die isolierte Benzodiazepinabhängigkeit (vor allem die
Niedrigdosis-Abhängigkeit) ist viel weniger problematisch als die
kombinierten Benzodiazepinsuchten, die erst durch die Kombination wirklich
maligne werden. Damit stellt sich die Frage: Soll man sie überhaupt
behandeln? Dafür sprechen 7 (potenzielle) Folgeprobleme:
-
Das Benzodiazepin verliert seine Wirkung (späte
Toleranzbildung, evtl. nach Jahrzehnten!).
-
Ein Teil der isoliert Benzodiazepinabhängigen ist durch die
Dauermedikation behindert (mnestische Störungen, Stürze,
Anhedonie).
-
Eine problemlose Niedrigdosis-Abhängigkeit kann in eine
erheblich problematischere Hochdosis-Abhängigkeit übergehen.
-
Auch bei Niedrigdosis-Abhängigkeit sind schwere
Entzugserscheinungen möglich.
-
In Kombination mit Alkohol kann es zu bedrohlichen
Mischintoxikationen kommen.
-
Die isolierte Benzodiazepinabhängigkeit kann in eine
Polytoxikomanie übergehen, die dann doch gefährlich wird.
-
Die Tages-Medikamentenkosten sind zwar niedrig, aber über
die Jahrzehnte müssen die Krankenkassen bei einigen Präparaten
erhebliche Geldsummen erbringen. Wir haben deshalb modellhaft die
Jahres-Medikamentenkosten für Benzodiazepinabhängigkeiten berechnet
(Tab. [2]). Es fällt auf, dass die Preise
recht unterschiedlich sind, bei etwa gleicher Wirkung.
Tab. 2 Jahres-Medikamentenkosten bei Niedrigdosis- und
Hochdosis-Abhängigkeit von Benzodiazepinen und verwandten Substanzen[]*
Firmenpräparat (Inhaltsstoff) |
Tagesdosis |
|
Jahreskosten
(aufgerundet in DM) |
|
|
Niedrigdosis-A. |
Hochdosis-A. |
Niedrigdosis-A. |
Hochdosis-A. |
Dalmadorm (Flurazepam) |
30 mg |
150
mg |
279,- |
1 397,- |
Diazepam ratiopharm (Diazepam) |
15 mg |
75
mg |
63,- |
315,- |
Lexotanil (Bromazepam) |
6 mg |
30
mg |
240,- |
1 198,- |
Stilnox (Zopiclon) |
10 mg |
50
mg |
558,- |
3 340,- |
Tafil (Alprazolam) |
1,5 mg |
7,5
mg |
475,- |
2 377,- |
Tavor (Lorazepam) |
3 mg |
15
mg |
343,- |
1 715,- |
Valium Roche (Diazepam) |
15 mg |
75 mg |
311,- |
1 554,- |
* Bei der Berechnung der Kosten wurden jeweils die
größten Packungen mit der stärksten Tablettenform lt. Gelber
Liste eingesetzt. Als Niedrigdosis-Abhängigkeit wurde bei den
Tranquillanzien eine hohe mittlere therapeutische Dosis angenommen, bei der
Hochdosis-Abhängigkeit etwa die 5fache mittlere Tagesdosis. Bei den
Schlafmitteln wurde von konkreten Fällen der eigenen Klinik
ausgegangen.
|
Die Diagnose der (isolierten)
Benzodiazepinabhängigkeiten
Die Diagnose der (isolierten)
Benzodiazepinabhängigkeiten
Nicht jeder Benzodiazepinkonsument ist abhängig; nicht einmal
jeder Dauerkonsument. Selbst nach jahrelanger Einnahme können viele
Dauerkonsumenten „ihr Benzo” absetzen, ohne dass sie
Entzugserscheinungen bekommen oder sich eine deutliche Gier auf den Stoff
zeigt. Die Schwere der Abhängigkeit ist in gewissem Umfang absehbar
[7]
[12]. Patienten mit
vorhergehender anderer Abhängigkeit - meist ein Alkoholismus -
sind regelmäßig schwerer abhängig als Patienten, die ihr Leben
lang ausschließlich Benzodiazepine genommen haben. Auch
Benzodiazepindosis, Dauer der Benzodiazepin-Einnahme und Allgemeinzustand
spielen eine Rolle. Wir schätzen in Übereinstimmung mit der
Literatur, dass nach jahrelangem Konsum nur etwa die Hälfte der
kontinuierlichen Einnehmer abhängig geworden ist [6].
ICD-10 schlägt bestimmte Kriterien für die Diagnose einer
Benzodiazepinabhängigkeit vor. Nur wenn diese Kriterien erfüllt sind,
darf die Diagnose gestellt werden. Für Abhängigkeit und Abusus
(= schädlicher Gebrauch) gibt es differenzierende Merkmale.
Diese Kriterien haben die früher oft nutzlosen Diskussionen, was Sucht,
Abhängigkeit, Missbrauch, echte Sucht usw. sei, weitgehend beendet. Sie
sollten für die Diagnostik stets eingesetzt werden. Allerdings haben sie
einen Mangel: Es fehlt der rasche Wiedererwerb der alten Abhängigkeit bei
Rückfall, auch nach langer Abstinenz, was sehr charakteristisch für
jede Abhängigkeit ist. Jeder
nikotinabhängige Raucher hat es anlässlich seiner Rückfälle
kennen lernen müssen.
Die Abhängigkeit wird durch die spezielle Bindung des Patienten
an „sein Benzo” und durch Entzugserscheinungen in
Entzugssituationen deutlich. Diese Bindung zeigt die psychische
Abhängigkeit an. Sie drückt sich in typischen Verhaltensweisen
aus:
-
Der Patient kennt Namen und Beipackzettel seines Medikaments
bestens. Er kennt oft auch die Generika und Analogpräparate.
-
Der Patient sorgt dafür, dass er immer einen Vorrat seines
Medikaments hat (Reserverezept!).
-
Notfalls greift der Patient sogar zu semikriminellen Praktiken,
um die Versorgung mit seinem Medikament sicherzustellen (Beschaffung über
Dritte, Rezeptfälschung, Rezeptdiebstahl).
-
Der Patient bevorzugt Rezeptbeschaffung per Post oder über
Dritte.
-
Der Patient widersetzt sich Entzugsversuchen.
-
Das ganze Lebensinteresse verengt sich in Richtung Medikament.
Eine deutliche psychische Bindung an „sein Benzo” ist
erkennbar.
Wenn ein Benzodiazepin-Abhängiger die Zufuhr seines Stoffes
plötzlich beendet, treten psychische und physische Entzugssymptome auf.
Die Symptome ähneln denen im Alkoholentzug, ohne ihnen zu gleichen. Sie
sind sehr vielgestaltig; Leitsymptome sind quälende
Einschlafstörungen, Angstzustände, Depressionszunahme und
perzeptuelle Störungen (= Wahrnehmungsstörungen). Vital
bedrohlich sind Entzugsdelirien und Entzugskrampfanfälle.
Perzeptuelle Störungen im Entzug beunruhigen den Patienten
massiv. Es handelt sich um veränderte Wahrnehmungen: Normale Sinnesreize
werden verstärkt oder verändert wahrgenommen [11]
[13]. Beispielsweise erscheint
das gewohnte Deckenlicht unangenehm grell, die geliebte CD hört sich
blechern an, der Fußboden wirkt wie mit einem dicken Teppich belegt,
obwohl es ein glatter PVC-Fußboden ist. Sogar Synästhesien sind
möglich: Der Patient nimmt ein lautes Geräusch als unangenehmen
Geruch wahr oder er spürt helles Licht als Tastwahrnehmung am Hinterkopf.
Diese Wahrnehmungsstörungen treten in fast allen
Benzodiazepinentzügen auf, sind aber nicht ganz spezifisch, d. h.,
in angedeuteter Form können sie auch im Alkoholentzug vorkommen. Da die
Patienten wegen dieser perzeptuellen Störungen glauben,
„verrückt” zu werden, verheimlichen sie diese Symptome. Sie
sind aber erleichtert, wenn der Arzt sie darauf anspricht.
Drei technische Methoden können bei der Diagnose helfen,
reichen aber allein nicht aus: der Urinnachweis, die
Plasmakonzentrations-Bestimmung und das EEG (beweisen nur die Exposition, nicht
die Abhängigkeit). Für die Suchtdiagnose sind in jedem Fall Anamnese
und klinischer Befund zusätzlich erforderlich.
Die Therapie der (isolierten)
Benzodiazepinabhängigkeiten
Die Therapie der (isolierten)
Benzodiazepinabhängigkeiten
Die Behandlung der isolierten Benzodiazepinabhängigkeiten ist
schwierig, aber letztendlich befriedigend, weil häufig erfolgreich.
Folgende Therapieprinzipien stehen im Mittelpunkt:
-
Prüfen, ob eine abstinenzorientierte Therapie indiziert
ist,
-
den Patienten überzeugen, dass er abhängig ist,
-
einen ambulanten Entzugsversuch, nach dessen Scheitern
stationär,
-
niemals absetzen, immer nur langsam herunterdosieren
(„ausschleichen”),
-
Komorbidität (Begleiterkrankungen) beachten und
adäquat behandeln.
Zu 1 (prüfen, ob eine abstinenzorientierte Therapie
lohnt)
Da der Entzug von Benzodiazepinen oft mehrere Monate dauert und
mit erheblichen Leiden verbunden ist, sollte er nur dann in Angriff genommen
werden, wenn er sich lohnt. Die Leiden des Entzuges sollten durch eine lang
dauernde Besserung des Gesamtzustandes aufgewogen werden. Die Autoren sind der
Meinung, dass Entzugsvoraussetzung eine mindestens 2-jährige
Lebenserwartung ist. Inkurable Malignompatienten und Herzinsuffiziente sollte
man nicht entziehen. Auch bei Hochbetagten ist von einer abstinenzorientierten
Therapie eher abzuraten.
Zu 2 (den Patienten überzeugen, dass er abhängig
ist)
Oft ist es gar nicht schwer, den Patienten von seiner
Abhängigkeit zu überzeugen, er weiß es nämlich schon. In
anderen Fällen sind jahrelange Überzeugungsversuche, Mithilfe der
Angehörigen und einige schwere Entzugssyndrome nötig, bis er
begreift, dass er abhängig ist und geordnet entziehen muss.
Erfahrungsgemäß gelingt diese Überzeugungsarbeit bei
Benzodiazepinabhängigen leichter als bei Opioidabhängigen. Letztere
wissen zwar auch, dass sie abhängig sind, unterliegen aber der geradezu
wahnhaften Überzeugung, dass „die Gesellschaft” ihren
Suchtstoff bis ans Lebensende kostenfrei bereitstellen müsse.
Ein literarisches Zeugnis einer Benzodiazepin-Abhängigkeit
ist der Roman „Ich tanze so schnell ich kann” von Barbara Gordon
[14]. Die Autorin, eine Fernsehjournalistin, beschreibt
darin die letzten Tage ihrer Diazepam-Abhängigkeit, ihren Entzug und ihr
Nüchternwerden. Bemerkenswert an dem Buch ist nicht der literarische Wert,
es überzeugen vielmehr die Sorgfalt und die Ehrlichkeit der
Selbstbeobachtung. Die Autorin litt zum Beginn des Buches trotz ihrer hohen
Diazepamdosis an schweren Angstzuständen, am Ende ist sie nach über
1-jähriger Abstinenz angstfreier und tatkräftiger, aber nicht ganz
zufrieden. Die Autorin litt an einer Agoraphobie. Viele betroffene Patienten
lesen dies Buch gern und fühlen sich verstanden, obwohl der Entzug bei der
Autorin durch plötzliches Absetzen ungewöhnlich schwer verlaufen war.
Es ist deshalb für die Motivationsarbeit sehr zu empfehlen.
Zu 3 (zunächst einen ambulanten Entzugsversuch, dann erst
stationär)
Die Mehrzahl der Benzodiazepinabhängigen müsste zwar
stationär entzogen werden. Es ist aber oft schwer, ein
„Entzugsbett” zu finden und den Patienten von der Notwendigkeit
des stationären Aufenthaltes zu überzeugen. Daher wird man
zunächst einen ambulanten Entzugsversuch starten. Scheitert er, kann man
die stationäre Entgiftung immer noch nachziehen. Wenn
Grand-mal-Anfälle oder Delirien aus der Vorgeschichte bekannt sind, kann
ein ambulanter Entzugsversuch nicht verantwortet werden.
Zu 4 (niemals absetzen, immer nur langsam
herunterdosieren)
Wenn die langjährige Zufuhr eines Benzodiazepins
plötzlich beendet wird, kann ein Entzugssyndrom von solcher
Intensität auftreten, dass der Patient in Lebensgefahr gerät. Dies
vermeidet man durch langsames Herunterdosieren („ausschleichen”,
„abdosieren”). Die Autoren benutzen dafür stets ein lang
wirksames Benzodiazepin, meist das kostengünstige und gut untersuchte
Diazepam. Sie setzen kürzer wirksame Substanzen nach der
Äquivalenztabelle (Tab. [1]) auf Diazepam um
und beginnen mit 50 % der regelmäßig vom Patienten
genommenen Dosis (im ambulanten Bereich 75 %). Dann wird langsam
herunterdosiert, im ambulanten Bereich etwa alle 4 Wochen halbiert, im
stationären Bereich etwa alle 1-2 Wochen. Bei diesem Vorgehen wird
die Dosisreduktion also immer langsamer („semilogarithmischer
Entzug”), was der Beobachtung Rechnung trägt, dass die letzten
Milligramme die schwersten sind.
Zu 5 (Komorbidität beachten und adäquat
behandeln)
Fast alle Benzodiazepinabhängigen haben eine Krankheit als
Ausgangspunkt ihrer Sucht. Diese „Grundkrankheit” wird sich in
der Entzugsphase intensivieren oder sie wird erneut ausbrechen. Manchmal tritt
auch eine neue Begleiterkrankung erstmalig im Verlauf der
Benzodiazepinabhängigkeit auf, z. B. eine Depression im Entzug. Sie
muss adäquat behandelt werden, andernfalls scheitert der Entzug. Grundsatz
der Behandlung der Komorbidität ist: keine Suchtstoffe!
Häufigste „Grundkrankheiten” und mögliche Therapien
sind:
-
Angstzustände (Verhaltenstherapie, selektive
Serotonin-Reuptake-Inhibitoren)
-
Depressionen (Antidepressiva, Verhaltenstherapie)
-
Schmerzzustände (physikalische Therapien, nichtsteroidale
Antiphlogistika)
-
Schlafstörungen (sedierende Antidepressiva wie Doxepin
oder Trimipramin)
-
muskuläre Verspannungen (physikalische Therapien, vor
allem mit Wärme)
Die Komorbidität wird bei Benzodiazepinabhängigen ebenso
behandelt wie bei Nichtabhängigen, lediglich Benzodiazepine müssen
konsequent herunterdosiert werden und dürfen nach Abschluss der
Entzugsphase keinesfalls wieder angesetzt werden. Der Allgemeinarzt wird bei
der Mehrzahl dieser Krankheiten und Zustände den jeweils zuständigen
Facharzt zumindestens konsiliarisch hinzuziehen müssen. Keiner der
Beteiligten darf aber das Gesamtkonzept durch erneute Benzodiazepingabe (auch
in Form einer zusätzlichen Substanz) stören.
Die Prognose der (isolierten)
Benzodiazepinabhängigkeiten
Die Prognose der (isolierten)
Benzodiazepinabhängigkeiten
Die Frage nach der Prognose von Benzodiazepinabhängigkeiten
enthält eigentlich 2 Fragen:
1. Wie verlaufen die Benzodiazepinabhängigkeiten?
2. Welchen Einfluss hat das Nüchternwerden auf das Leben des
Patienten?
Beide Fragen können nur teilweise beantwortet werden, die erste
besser als die zweite.
Zu Frage 1 (Wie verlaufen die
Benzodiazepinabhängigkeiten?)
Die Benzodiazepinabhängigkeit hat eine geringere
Übersterblichkeit und bessere Abstinenzchancen als z. B. die
Alkoholabhängigkeit. Letztere verläuft in jeder Hinsicht
bösartiger [8]
[9]. Bei
keiner anderen Suchtkrankheit werden so hohe Abstinenzraten erreicht wie bei
der Benzodiazepinabhängigkeit.
Zu Frage 2 (Welchen Einfluss hat das Nüchternwerden auf
das Leben des Patienten?)
Diese Frage ist kaum untersucht. Die Autoren kennen einige
dauerhaft benzodiazepinfrei gewordene Patienten, denen es sehr gut geht. Andere
berichten, dass es ihnen zwar nicht wirklich gut gehe, der nüchterne
Zustand mit all seinen seelischen Schmerzen und Leiden sei aber besser als das
„Grau-in-Grau” unter Benzodiazepinen [14]. Praktisch alle berichten, der Angstlevel in der
Abstinenz sei niedriger als der „unter Stoff”. Viele Patienten
werden in der Abstinenz nicht völlig gesund, kommen aber mit einer
alternativen Behandlung viel besser zurecht als mit den antriebsmindernden
Benzodiazepinen. Einige wenige Patienten haben unter Benzodiazepinen eine
bessere Lebensqualität als in der Abstinenz. Sie wird man wieder auf ein
Benzodiazepin einstellen, am besten auf eine lang wirksame Substanz wie
Diazepam oder Dikaliumclorazepat.