In Hamburg haben Politik und Verwaltung trotz vielfacher und
umfangreicher Darstellungen durch die Praktiker über Jahre von der
wachsenden Crack-Problematik kaum Notiz genommen und lange Zeit nicht reagiert.
Drängende Probleme und viele offene Fragen haben sich inzwischen
angehäuft und müssen jetzt endlich behandelt werden.
In den letzten Jahren haben Praktiker in Hamburg zusammen mit
Fachleuten aus verschiedenen Bereichen (z. B. Kirche, Polizei,
Geschäftsleute, Jugendhilfe, Drogenhilfe) und mit Vertretern aus dem In-
und Ausland (z. B. Pastor Visser, Rotterdam) mögliche und auch
derzeit noch unmögliche Lösungsmodelle für das neu entstandene
und sich ausweitende Crack-Problem diskutiert, etwa spezielle und integrierte
Einrichtungen, Tages- und Nachtangebote, Case-Management,
Straßensozialarbeit, frauenspezifische Angebote, Erreichbarkeit von
jugendlichen Einsteigern, Duldungsplätze und „Plätze
verminderter Aufmerksamkeit”, Kooperationen für
Soforthilfen‚ Akupunktur, „Basements” (Einrichtungen mit
Hausdealern für Crack-Konsumenten). Auch wenn das Crack-Problem inzwischen
in vielen Fachbereichen erörtert wird, war bisher
leider noch keine praktische Umsetzung der entwickelten Vorstellungen
möglich.
Änderungen im Konsumverhalten sind nicht
außergewöhnlich. Ende der 80er-Jahre befasste sich die Drogenhilfe
im Bereich der illegalisierten Drogen insbesondere mit Heroinisten, die andere
Drogen (z. B. Alkohol und Kokain) ablehnten. Kokain galt zu der Zeit als
Künstler- und Partydroge. Die Szenen der
Cannabis-/Heroin-/Kokain-/Alkohol-/Medikamente-User waren weitgehend getrennt.
Anfang bis Mitte der 90er Jahre nahm der Mischkonsum von Heroin und
Barbituraten/Benzodiazepinen (vorwiegend Rohypnol) stark zu. Zeitgleich fingen
vereinzelt KonsumentInnen an, sog. „Speedballs” oder
„Cocktails” zu benutzen, eine Mischung aus Heroin und Kokain,
z. T. angereichert mit Barbituraten und Benzodiazepinen. Die psychischen
und physiologischen Wirkungen dieser Cocktails stellte die Drogenhilfe vor neue
Anforderungen. So unterschieden sich z. B. die Entzüge gravierend
von Heroinentzügen (andere Entzugszeiten und -symptome, Auftreten von
Halluzinationen, Psychosen) und das Verhalten der KlientInnen wurde
unberechenbarer. Mitte der 90er Jahre gingen immer mehr KonsumentInnen, die
bisher Kokain intravenös konsumiert hatten, dazu über,
Kokainhydrochlorid mit z. B. Ammoniak oder Natron in die rauchbare
basische Form zu überführen. Sie bezeichneten diesen Vorgang als
„basen” oder „backen”. In den letzten Jahren
stellten die KonsumentInnen kaum noch selbst Crack her, da der Markt zunehmend
und heute fast ausschließlich mit sog. „Crack-Steinen”
beliefert wird. Z. T. werden die Steine heute nicht mehr an die
KonsumentInnen verkauft, verkauft wird der Zug aus der Pfeife.
Die Drogenhilfe ist mit sehr verschiedenen Auswirkungen durch
Crack-Konsum konfrontiert, den typischen Crack-User gibt es nicht und einzelne
Crack-Szenen in den verschiedenen Quartieren unterscheiden sich sehr
voneinander. In Hamburg gibt es ca. 15 000 KonsumentInnen, davon halten
sich ca. 1000 bis 2000 täglich in den offenen Szenen auf. Dieser
Personenkreis wird in diesem Artikel behandelt. Über die verdeckten,
häuslichen Crack-Szenen liegen kaum Erkenntnisse über Umfang,
Konsummuster etc. vor. In den offenen Szenen halten sich überwiegend
polyvalent konsumierende Crack-User auf, die meist mehrfach geschädigt und
langjährig abhängig sind. Kokain/Crack nehmen sowohl hinsichtlich
Konsum als auch dessen Auswirkungen (starke und schnelle physische und
psychische Verelendung bis hin zu Paranoia und Psychosen/Doppeldiagnosen) einen
wesentlichen Raum bei diesen KonsumentInnen in ihren täglichen
Lebensabläufen ein. In der Praxis fallen viele durch nahezu alle Raster
des derzeitigen Drogenhilfesystems, da sie in ihren Crack-Phasen die meisten
Hilfsangebote nicht aufsuchen oder nur punktuelle Hilfen in Anspruch nehmen.
Meist handelt es sich um KonsumentInnen, die der Drogenhilfe bekannt sind und
die zu ihren bisherigen Konsummustern ein weiteres hinzugenommen haben. Diese
KonsumentInnen sind sehr unterschiedlich dosiert (1 Pfeife/Tag bis zu 80
Pfeifen/Tag). Die Phasen des Crack-Konsums sind ebenfalls sehr individuell
(wenige Stunden bis zu 14 Tagen). Befragungen durch szenenahe Einrichtungen
haben ergeben, dass nahezu alle User nach dem Absetzen des Cracks Heroin,
Barbiturate, Benzodiazepine o. ä. gegen die auftretenden
Depressionen nehmen. Reine Crack-KonsumentInnen sind in dieser Zielgruppe kaum
bekannt, obwohl insbesondere bei vielen Frauen von einem überwiegenden
Kokain-/Crack-Konsum gesprochen werden kann. Die meisten dieser KonsumentInnen
leben unter extrem schlechten Verhältnissen. Kauf und Konsum des
Kokain/Crack liegen meist dicht beieinander, spielen sich daher oft in den sog.
„offenen Drogenszenen” ab. Diese Drogenszenen stellen
insbesondere für die Quartiere, in denen sie sich ansiedeln, eine
erhebliche subjektive, aber auch objektive Belastung dar.
Viele dieser Crack-KonsumentInnen sind obdachlos. Die unter
Bedingungen von Obdachlosigkeit unzureichende Körperpflege und
-hygiene führt zur Verwahrlosung und zu parasitären Erkrankungen
(z. B. Befall mit Läusen und Scabies). Ständiger Geldmangel
(die meisten haben kein eigenes Einkommen und beziehen Sozialhilfe oder
Arbeitslosengeld, gehen der Beschaffungsprostitution oder
-kriminalität nach, dealen mit kleinen Mengen oder betteln) zieht in
der Regel eine unzureichende Ernährung nach sich; viele dieser
DrogenkonsumentInnen sind schlicht unterernährt mit den entsprechenden
Folgen z. B. für die körpereigenen Abwehrkräfte,
d. h. es besteht erhöhte Anfälligkeit für
Infektionskrankheiten aller Art. Oft wird nicht genügend Flüssigkeit
getrunken. Folgen sind Austrocknungserscheinungen, insbesondere der
Schleimhäute. Dies führt zu erhöhtem Infektionsrisiko, vor allem
bei KonsumentInnen, die der Prostitution nachgehen. Viele Krankheiten, die in
anderen Bevölkerungsgruppen im Verhältnis in erheblich geringerem
Umfang vorkommen, z. B. Hepatitiden, Geschlechtskrankheiten,
Lungenerkrankungen und Tuberkulose, sind unter diesen DrogenkonsumentInnen
gehäuft zu diagnostizieren.
Analysen von Straßenkokain ergaben schwankende Zusammensetzungen
mit Kokainanteilen zwischen 0 % und 95 %.
Unbekannte Zusammensetzungen der Drogen führen immer wieder zu
versehentlichen Überdosierungen bzw. Folgeschäden. Beim Crack (die
reinere Freebase wird auf dem Markt nur selten angeboten), das z. T. mit
ebenfalls schädlichen Substanzen (z. B. Ammoniak) hergestellt wird,
sind die Streckstoffe des als Ausgangsstoff verwendeten Kokainhydrochlorids
weiterhin enthalten. D.h., die KonsumentInnen inhalieren beim Crackrauchen eine
undefinierbare Mischung von Stoffen, die erhebliche Schäden, z. B.
in der Lunge, anrichten können. Die Hepatitis-C-Infektionsrate liegt
bei dieser Gruppe enorm hoch (Schätzungen gehen von 50 % bis
über 80 % aus). Eine Begründung könnte darin
liegen, dass z. B. das Kokain im Straßenverkauf aus dem Mund des
Dealers direkt auf den Löffel des Users und von dort -
unaufgekocht! - in die Injektionsspritze und in den Körper
gelangt.
Der Crack-Konsum findet meist unmittelbar nach dem Kauf statt. Bei
denjenigen, die bis zu 40 Pfeifen oder mehr am Tag rauchen, sind Kauf und
Konsum kaum noch zu trennen. Dies bestimmt auch das Gesicht der Szenen, in
denen sich diese KonsumentInnen aufhalten. Episodenhafte Kauf- und
Konsumgewohnheiten bis hin zu mehreren Tagen rund um die Uhr stellen andere
Anforderungen an das Drogenhilfesystem als die bisherigen Konsumgewohnheiten
mit einem relativ stabilen Tag- und Nacht-Rhythmus. Die Schnelligkeit des
Szenelebens der Koks-/CrackkonsumentInnen, die Unrast der Betroffenen und die
speziellen Auswirkungen der Drogen, insbesondere auf die Psyche, erfordern ein
schnelles und wirksames Agieren des Hilfesystems. Die Betroffenen müssen
aus der Szene abgeholt/herausgelöst und durch das Hilfesystem begleitet
werden. Gerade für diese Menschen müssen Soforthilfen angeboten
werden, die unmittelbare Erfolge organisieren - sei es ein Schlafplatz,
eine medizinische oder psychiatrische Untersuchung, Akupunktur - sofort,
Entgiftung - mit kompetenten Ansprechpartnern, z. B. für
schnelle Kostenbewilligung bei Krankenkassen/Sozialämtern/LVA/BfA etc.,
ein warmes Essen und Getränke, Kriseninterventionen, Beratungen etc. Dazu
kommt eine Unmenge an weiteren Problemen hinsichtlich Verschuldungen,
Wohnsituation, Schule/Ausbildung/Arbeitsplatz, rechtliche Angelegenheiten,
Familie (Ursprungsfamilie und/oder PartnerIn und Kinder), psychische Krisen,
Umgang/Probleme mit Ämtern und Behörden usw. Es handelt sich in den
seltensten Fällen um Einmalhilfen. Beharrlichkeit und permanente
Abholbereitschaft bestimmen die Arbeit mit dieser Zielgruppe.
In den Einrichtungen verursachen Crack-KonsumentInnen zunehmend
Probleme und lösen Konflikte aus. Das hängt zuerst einmal mit der
Schnelligkeit zusammen, die durch den Crack-Konsum produziert wird, Kauf und
Konsum folgen direkt aufeinander. Daraus entstehen Hektik, ständige
Versuche des Handelns, veränderte Verhaltensweisen, die durch den
Crack-Konsum mehr oder weniger stark ausgeprägt auftreten, wie
z. B. Hyperaktivität, Überempfindlichkeit gegenüber
Außenreizen (laute Musik/Geräusche/Gespräche, Hektik der
anderen KlientInnen usw.), rascher physischer und psychischer Verfall,
u. a. verstärkt durch Schlafmangel und Austrocknung der
Schleimhäute, paranoide oder psychotische Zustände. Um auf diese
Veränderungen bei den KlientInnen adäquat reagieren zu können,
sind verschiedene Fortbildungen der MitarbeiterInnen erforderlich (z. B.
Deeskalations-Strategien, Talkingdown-Techniken, Kriseninterventionen,
Konfliktmanagement). Zusätzlich müssen die Drogenhilfeeinrichtungen
durch Umbauten auf die neuen Situationen reagieren, etwa zur Schaffung von
Chill-out-Räumen, Konsumraum für die Kokainisten und
Crack-Konsumenten mit einem reizarmen Ambiente, Tagesschlafplätze oder ein
Raum für die Ohrakupunktur, bzw. müssen spezielle Einrichtungen
geschaffen werden.
Weitere Angebote für Crack-KonsumentInnen sind insbesondere
erforderlich für die Bereiche:
-
Prävention
-
Kontakt- und Beratungsstellen
-
Straßensozialarbeit und Case-Management
-
Akupunktur im niedrigschwelligen Bereich
-
Frauen und Schwangere (vor und nach der Geburt)
-
Problematiken und Bedarfe der sog. „Crack-Babys”
-
Jugendliche, die Crack als Einstiegsdroge benutzen (spezielle
Angebote und Hilfen)
-
Psycho-soziale Betreuung
-
Entgiftung und Therapie